Ritualisierte Ideologiefreiheit  Über das Märchen einer objektiven Ökonomie

Über das Märchen einer objektiven Ökonomie Foto: Runze Shi via unsplash | CC0 1.0

Wenn Politiker*innen im öffentlichen Diskurs über wirtschaftspolitische Fragen sprechen, tun sie immer wieder so, als würden sie lediglich unbequeme Wahrheiten aussprechen. Diese ritualisierte Ideologiefreiheit hilft ihnen zu verschleiern, dass auch die eigene Haltung zutiefst ideologisch ist.

„Klimaschutz ohne Ideologie!“, lautete die vollmundige Ankündigung von Bundeskanzler Friedrich Merz im September 2025, als er die neue klimapolitische Ausrichtung der Bundesregierung vorstellte. Worin er die Ideologienähe der bisherigen Klimaschutz-Ansätze sah, formulierte Merz so: „Ein Klimaschutz, der die industrielle Basis unseres Landes gefährdet oder gar zerstört, ein Klimaschutz, der den Wohlstand unseres Landes aufs Spiel setzt, der findet keine Akzeptanz in der Bevölkerung.“ Die Kritik an der Vorgängerregierung ist klar – Klimaschutz und eine florierende Wirtschaft seien, so Merz, zwei einander ausschließende Ziele. Das eine könne, folgt man diesem Gedanken, nur auf Kosten des anderen erreicht werden, und weil die Ampelkoalition diese scheinbar simple Wahrheit ignoriert hatte, wurde sie abgewählt. Deswegen postulierte Merz nun einen objektiven und ideologiefreien Zugang zu dem Thema.

Mit dieser Haltung verdeutlicht der deutsche Kanzler gleich zwei symptomatische Strategien in politischen Debatten über ökonomische Themen. Zum einen der Verweis auf eine vermeintliche Wahl zwischen Klimaschutz und Wirtschaftswachstum. Dabei ist das ein Trugschluss: Das eine kann mittelfristig nicht ohne das andere gelingen. Schließlich ist Klimaschutz eine Zukunftsinvestition und die Grundlage jedes potenziellen Wachstums. Zum anderen bemüht Merz eine beliebte Strategie, um politische Gegner*innen zu diskreditieren, und wirft ihnen ideologische Verblendung vor, während die eigene wirtschaftspolitische Haltung zum ideologiefreien und objektiv richtigen Weg ritualisiert wird.

Alles ist ideologisch

Dabei ist jedes Sprechen über ökonomische Themen zutiefst ideologisch geprägt. Auch die neue Strategie der Bundesregierung, Wirtschaftsinteressen höhere Priorität gegenüber dem Klima einzuräumen, ist keinesfalls ideologiefrei, sondern Ausdruck eines neoliberalen Weltbilds.

Um zu verdeutlichen, dass sich nicht unideologisch über wirtschaftspolitische Themen sprechen lässt, stellen wir uns zwei Personen vor, die dasselbe Ziel haben: das Wirtschaftswachstum anzukurbeln. Um dies zu erreichen, will die eine dafür Bürokratie abbauen und Steuern senken, damit Anreize entstehen, mehr zu investieren, um so für zusätzliches Wachstum zu sorgen. Die andere Person wiederum schlägt vor, dass der Staat selbst kräftig investieren muss und diese Investitionen zu Not durch Steuererhöhungen für bestimmte Gruppe finanzieren sollte, damit er gezielt selbst neues Wachstum generieren kann. Beide Menschen eint ein gemeinsames Ziel, aber die Wege, dieses Ziel zu erreichen, sind komplett konträr. Kein Wunder, werden sie doch durch ihre ideologischen Vorstellungen davon bestimmt, wie die Welt funktioniert.
Auch wenn sie durch ihre mathematische und technische Arbeitsweise häufig einen anderen Eindruck vermittelt, ist die Wirtschaftswissenschaft eine Gesellschaftswissenschaft. Als solche muss sie sich mit der Fehlbarkeit von uns Menschen herumschlagen.
Das Problem ist, dass es im ökonomischen Kontext kaum absolute Wahrheiten gibt. Es ist nicht möglich, wirtschaftspolitische Maßnahmen oder ökonomische Theorien im Labor zu testen. Welche Strategie der beiden Menschen aus dem obigen Beispiel wäre die richtige oder auch nur die bessere? Eine Frage, die wahrscheinlich unbeantwortet bleibt, weil sich nicht beide Strategien zur selben Zeit und unter identischen Bedingungen durchführen lassen. Und selbst wenn sich zu einem Zeitpunkt einer der beiden Wege als richtig herausstellen sollte, folgt daraus nicht zwingend, dass das im nächsten Moment immer noch so wäre.

Dass diese ritualisierte Ideologiefreiheit, wie von Friedrich Merz performt, im öffentlichen Diskurs Einzug halten konnte, liegt auch in der Verantwortung von Ökonom*innen. Auch wenn sie durch ihre mathematische und technische Arbeitsweise häufig einen anderen Eindruck vermittelt, ist die Wirtschaftswissenschaft eine Gesellschaftswissenschaft und keine Naturwissenschaft. Als solche muss sie sich mit der Fehlbarkeit von uns Menschen herumschlagen und hat nicht den Luxus, sich auf allgemeingültige Naturgesetze verlassen zu können.

Nicht einmal scheinbar einleuchtende Behauptungen wie „höhere Preise führen zu niedrigerer Nachfrage“ sind in ihrer Absolution richtig. Schon Ende des 19. Jahrhunderts beschrieb der US-amerikanische Ökonom Thorstein Veblen eine Gruppe von Produkten, die nach ihm benannten Veblen-Güter, deren Nachfrage steigt, wenn sie teurer werden. Dazu zählen vor allem Luxusgüter wie teure Uhren, Sportwagen, Designerkleider oder Gemälde berühmter Maler*innen – alles Dinge, die durch ihren hohen Preis einen gewissen Status ausstrahlen. Für die Reichsten unserer Gesellschaft wird ein Kunstwerk oftmals erst dann interessant, wenn es für mehrere zehntausend Euro gehandelt und so zum Distinktionsmerkmal wird, das sich nur die wenigstens leisten können.

Die Königin der Gesellschaftswissenschaften

Die größte Leistung der modernen Wirtschaftswissenschaften besteht darin, die Illusion zu erwecken, sie könne allgemeingültige Aussagen wie Naturwissenschaften treffen. Damit haben sie sich eine Ausnahmestellung im öffentlichen Diskurs gesichert. Die zunehmend mathematische Arbeitsweise der Disziplin seit dem Zweiten Weltkrieg hat sie zur „Königin der Gesellschaftswissenschaften“ gemacht, wie der US-amerikanische Ökonom Paul Samuelson es einmal so treffend ausdrückte.

Weil die Wirtschaftswissenschaften in der Lage sind, genau quantifizierbare Prognosen zu erstellen – völlig egal, ob sich diese als richtig herausstellen oder nicht – haben sie die anderen Gesellschaftswissenschaften an den Rand gedrängt. Nirgends wird das deutlicher als in Deutschland, wo die Mitglieder des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, das wichtigste ökonomische Beratungsgremium der Bundesregierung, umgangssprachlich den Namen „Wirtschaftsweise“ tragen. Der Ursprung dieses Begriffs lässt sich heute nicht mehr eindeutig rekonstruieren. Fest steht aber, dass er bereits kurz nach der Gründung des Sachverständigenrats 1963 medial genutzt wurde und sich durch die ständige Wiederholung in der Presse auch im Volksmund etabliert hat. Es ist ein Paradebeispiel, wie die Neigung von Journalist*innen wirkmächtige Bilder unkritisch zu reproduzieren, dazu beitragen kann, dass sich bestimmte Narrative gesellschaftlich verfestigen. Es war auch die mediale Strahlkraft des Begriffs von den „Wirtschaftsweisen“ und die damit einhergehende ritualisierte Wiederholung, die dazu geführt hat, dass der Sachverständigenrat den Einfluss gewinnen konnte, den er heute hat. Die Beratungsgremien der anderen akademischen Disziplinen finden im öffentlichen Diskurs hingegen kaum Beachtung.

So können Politiker*innen sich auf wirtschaftswissenschaftliche Argumente stützen, um den Eindruck zu vermitteln, sie würden einfach nur unbequeme Wahrheiten aussprechen. Der frühere Finanzminister Christian Lindner tat dies, als er während der Inflationskrise im Herbst 2022 behauptete, statt mit neuen Investitionsprogrammen die Wirtschaft zu stimulieren sei die Rückkehr zu einem „ausgeglichenen Haushalt“ notwendig, um dadurch die Inflation nicht weiter anzuheizen. Genau wie der bayrische Ministerpräsident Markus Söder sich diesem Ritual bediente, als er 2024 auf X die Ampel-Regierung kritisierte: „Gute Wirtschaftspolitik muss bodenständig, praktisch, berechenbar und ideologiefrei sein. Wir brauchen eine grundsätzliche Wende mit niedrigeren Steuern, günstigeren Energiepreisen und einem schlanken Staat.“ Die eigene wirtschaftspolitische Haltung wird, wie beim Eingangsbeispiel von Friedrich Merz, als objektive Wahrheit vermittelt, während jede Abweichung davon ideologisch verblendet sei.

Dabei ist es völlig natürlich, dass Ideologien die eigene Haltung zu wirtschaftspolitischen Fragen beeinflussen. Wie wir die Welt ums herum begreifen, bestimmt nun einmal, wie wir uns zu ihr verhalten. Das Problem im öffentlichen Diskurs, das auch die Aussagen von Merz, Lindner und Söder eint, ist die Asymmetrie, mit der der Ideologievorwurf benutzt wird. Diesem sehen sich in aller Regel diejenigen politischen Akteur*innen ausgesetzt, die Märkte stärker regulieren wollen, progressive Sozialpolitik anstreben oder generell kapitalismuskritisch auftreten. Die Forderung nach mehr Kapitalismus, mehr Neoliberalismus und mehr Märkten kann sich hingegen immer wieder auf eine vermeintliche Objektivität zurückziehen.

Dieser ritualisierten Ideologiefreiheit wird eine wirtschaftswissenschaftliche Aura zugeschrieben, womit sie zu den stärksten Sprachstrategien von marktliberalen und konservativen Parteien gehört. Es wird Zeit, die Ideologien beider Seiten eindeutig zu benennen.

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