An der Seite der Trauernden  Ukrainische Todesdoulas

Katholische Madonna an einem Denkmal in der Oblast Donezk, das zum Ort der Ehrung gefallener Soldat*innen geworden ist.
Katholische Madonna an einem Denkmal in der Oblast Donezk, das zum Ort der Ehrung gefallener Soldat*innen geworden ist. Foto: © Oleksii Filippov

Seit der großen Invasion ist die Konzentration von Tod und Trauer in der Ukraine fast unerträglich geworden. Damit entstand auch ein neuer Beruf: die Todesdoula. Sie hilft Menschen dabei, durch die Trauer zu gehen und das Leben in Würde abzuschließen.

Heute wäre Olhas Mutter 68 Jahre alt geworden. Deshalb kauft Olha ihre Lieblingsblumen und geht zum Friedhof. Sie legt die gelben Astern an ein Grabmal. Das Schwarz-Weiß-Foto darauf zeigt eine Frau, deren Lächeln dem ihrer Mutter ähnelt. Das wirkliche Grab ihrer Mutter liegt Hunderte von Kilometern von Kyjiw entfernt in der besetzten Oblast Donezk. Olha weiß nicht, ob sie es jemals besuchen können wird. „Ich komme auf einen Kyjiwer Friedhof, wo bekannte Soldaten begraben sind, singe Malwy [Ein ukrainisches Lied von Wolodymyr Iwasjuk aus dem Jahr 1975 über einen im Krieg gefallenen Sohn, der nicht mehr nach Hause zu seiner Mutter zurückkommt und zu einer Blume wird. Anm. d. Üb.] und weine. So trauere ich“, sagt Olha. Sie hofft, dass sie eines Tages – nach der Befreiung von Donezk – zum Grab ihrer Mutter gehen kann.

Switlanas Verwandte sind auf dem Friedhof in Selydowe begraben, einer kleinen Bergarbeiterstadt, die vor einem Jahr besetzt wurde. Die Frau brachte ihre kranke Mutter und ihren Mann in die Region Kyjiw in Sicherheit. Doch die Toten kann man nicht mitnehmen. „Ich halte Kontakt zu den Nachbarn, die in der Stadt geblieben sind. Sie erzählten mir, wie die Russen die Grabplatten unserer gefallenen Soldaten mit Panzern zerstörten. Was sind das nur für Menschen, die Krieg gegen die Toten führen? Die zerstörten Soldatengräber sind für immer verloren“, sagt Switlana. Sie hofft selbst nach dem Sieg nicht mehr darauf, die Gräber ihrer Nächsten zu finden.
Denkmal zu Ehren der Opfer des russischen Krieges gegen die Ukraine auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kyjiw.

Denkmal zu Ehren der Opfer des russischen Krieges gegen die Ukraine auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kyjiw. | Foto: © Oleksii Filippov

Waljas Mann gilt seit einigen Jahren im Gebiet Luhansk als vermisst. Sie versteht, dass er gefallen ist, aber sie hat den Leichnam nicht gesehen und den geliebten Menschen nicht bestattet. „Um dies durchzustehen und mich damit abzufinden, schreibe ich ihm von Zeit zu Zeit Abschiedsbriefe, wie es mir die Todesdoula geraten hat, bei der ich eine Sitzung hatte“, sagt die Frau, die sich fürchtet, auf Besseres zu hoffen. Der Krieg nimmt den Ukrainer*innen nicht nur ihre Nächsten, ihr Zuhause und ihre Gebiete. Er nimmt ihnen auch die traditionellen Rituale, das Recht auf Abschied und das Trauern – zumindest in der Form, wie wir sie kannten. Also müssen sie neue Riten erfinden. Aus der Ferne trauern, online Abschied nehmen, virtuelle Friedhöfe schaffen und sogar Fachleute aufsuchen, die sie durch Tod und Trauer begleiten.

Todesdoula. Lebensdoula

Kyjiw, ein lautes Café im Stadtzentrum. Die lebhafte und emotionale Darja Bondar erzählt von ihrem ungewöhnlichen Beruf, Todesdoula. Die Tische stehen dicht, und unweigerlich lauschen die Nachbar*innen mit, links ein Soldat mit ironischem Blick, rechts zwei junge Frauen. Ich frage Darja nach dem „Sterbeplan“. So heißt ein Dokument, das einem informellen Testament mit einem Abschiedsszenario ähnelt. Diesen hinterlässt eine Person ihren Nächsten und legt Punkt für Punkt fest, wie ihre Beerdigung sein soll, ob sie beerdigt oder eingeäschert werden möchte, ob sie ein Kreuz über dem Grab wünscht oder es vorzieht, dass ihre Asche an einem Gedenkort verstreut wird und sogar, welche Musik erklingen soll. Da hält es das Mädchen rechts nicht mehr aus. Sie tritt an unseren Tisch:
„Entschuldigung, ich habe mitgehört. Wie oft sollte man seinen Sterbeplan aktualisieren?“
„In der Ukraine? Mindestens alle sechs bis acht Monate.“

Sie nimmt Darjas Kontakte entgegen und sagt, dass sie sich auf jeden Fall melden wird, da sie bereits Hilfe benötigt. Ohne Arbeit bleibt Darja in diesen Tagen nicht.

„Eine Doula ist eine Person, die dabei hilft, die Autonomie und Selbstbestimmung am Lebensende zu wahren. Die Arbeit einer Doula besteht darin, dem Sterbenden in der Unerträglichkeit des Schmerzprozesses beizustehen. Denn Angehörige können diese Funktion nicht immer erfüllen. Sie sagen vielleicht: ‚Es wird schon alles gut‘, und versuchen damit, die Gefühle des anderen zurückzudrängen, weil es ihnen schwerfällt, dies auszuhalten. Eine Doula kann ebenso bei der Trauerbewältigung jenen helfen, die einen nahestehenden Menschen verloren haben. Zu mir kommen häufiger genau solche Menschen, die weiterleben wollen, aber der Verlust sie daran hindert“, erläutert Darja ihren Beruf mit dem Tod.
Doula Darja Bondar

Doula Darja Bondar | Foto: © Privatarchiv

Doch sie selbst ist voller Lebensenergie. Leuchtend rotes Haar, ein langes smaragdgrünes Kleid, ein hölzerner Anhänger um den Hals. Manchmal präsentiert sie sich nicht nur als Todesdoula, sondern auch als Lebens- und Seelendoula – eine spezifisch ukrainische Interpretation dieses Berufsbildes.

Als dieser Beruf Mitte des letzten Jahrhunderts in den USA und Großbritannien aufkam, unterstützten Doulas ursprünglich nur jene, die in Würde aus dem Leben scheiden wollten. Ukrainische Doulas hingegen betreuen auch Menschen, die ihre Todesangst bewältigen wollen, und jene, die einen Verlust zu verarbeiten suchen.

„Die britische Krankenschwester Cicely Saunders kam Ende der 1940er-Jahre zu der Erkenntnis, dass die emotionale Unterstützung eines Patienten dessen körperliches Leid verringert. Ihr Vater sagte damals zu ihr: ‚Liebling, solange du Krankenschwester bist, wird dich niemand ernst nehmen.‘ Also ließ sie sich zur Ärztin ausbilden und stellte die Theorie auf, dass es vier Arten von Schmerz gibt, und zwar physischen, spirituellen, sozialen und psycho-emotionalen. Wenn wir nur eine Art von Schmerz behandeln, also uns nur um den Körper kümmern und den Menschen wie eine Ansammlung von Knochen und Muskeln behandeln, entwertet das alles. Sie und ihre Kolleginnen wurden zu Pionierinnen der Doula-Arbeit.“ [Die Entstehung des Berufs der Todesdoula wird mit der Palliativbewegung in Verbindung gebracht, deren Begründerin Cicely Saunders war. Sie selbst bezeichnete sich nicht als Todesdoula, aber ihre Philosophie des totalen Schmerzes (total pain) legte die ethischen und spirituellen Grundlagen für diesen Beruf. – Anm. d. Red.]

Das erzählt Darja, die eine berufliche Zertifizierung als „End-of-life doula“, welche sie Ende 2023 an der Universität von Vermont (USA) erworben hat. In der Ukraine wird dieser Beruf bislang nicht gelehrt. Das Land hat gerade erst begonnen, sich an die Präsenz klassischer Doulas zu gewöhnen, die Frauen bei der Geburt unterstützen. Das Thema Tod ist immer noch teilweise tabuisiert, aber der Krieg ändert auch das. Solange der Beruf der Doula in der ukrainischen Gesetzgebung also nicht verankert ist, melden Menschen wie Darja ein Einzelunternehmen an und deklarieren ihre Tätigkeit offiziell als Beratung.

In der Praxis können sie sich mit der Person online oder offline treffen, im Moment des Sterbens bei ihr im Krankenzimmer sein oder bei der Beerdigung und den Abschiedszeremonien den Angehörigen beistehen. Sie können die Trauer einer Person bis zu sechs Wochen nach dem Verlust begleiten – ähnlich wie Geburts-Doulas, die Mütter sechs Wochen nach der Geburt eines Kindes begleiten. Sie können helfen, die Todesangst zu bewältigen, die während des Beschusses lähmt, oder sie helfen, den eigenen Sterbeplan zu verfassen. Oder sie führen symbolische Rituale für jene durch, die keinen Zugang zum Friedhof haben oder einen geliebten Menschen nicht physisch bestatten können.
Eine Frau trauert am Denkmal für die Opfer des russischen Krieges gegen die Ukraine auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kyjiw.

Eine Frau trauert am Denkmal für die Opfer des russischen Krieges gegen die Ukraine auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kyjiw. | Foto: © Oleksii Filippov

„Wenn ein Mann an der Front als vermisst gilt oder gefallen ist, sein Leichnam aber nicht an die Familie überführt wurde, gehen wir alternative Wege. Die Frau kann dem Verstorbenen Briefe schreiben und sie verbrennen, um loszulassen. Wenn es keine Möglichkeit gibt, das Grab zu besuchen, erinnern wir daran, was dieser Mensch liebte, welche Orte. Wir können eine Thermoskanne mitnehmen, an diesen Ort gehen, mit ihm sprechen, Tee trinken, eine Kerze anzünden und diese Verbindung spüren“, rät die Doula, die selbst genau weiß, was Verlust bedeutet.

Zu ihrem neuen Beruf kam Darja nach der großen Invasion. Zuvor arbeitete die Kyjiwerin im Social Media Marketing und erzog zwei Kinder. Doch sie sagt, dass sie schon damals Doula-Arbeit geleistet hat – unbewusst. „Bei mir sind alle sehr früh gestorben: meine Mutter an Krebs, danach mein Vater. Ich habe meine Eltern begleitet. Davor starben meine Großmutter und mein Großvater. All das geschah innerhalb von anderthalb Jahren. Ich war damals 21. Und dann wurde ich selbst ernsthaft krank. Würde man einen Film über mich drehen – niemand würde glauben, dass ein einzelner Mensch so viel durchmachen kann. Aber wahrscheinlich führte mein ganzer Weg zur Doula-Arbeit.“ Darja glaubt an das Schicksal und an ihre Mission. Und noch mehr – an einen bewussten Umgang mit Leben und Tod.

Sie selbst sagt, dass sie den Tod nicht fürchtet, denn der Tod nehme dem Menschen nur die Zukunft, die ihm ohnehin nicht gehöre. Sie fürchtet sich davor, nicht zu leben – nicht alle Möglichkeiten für ein erfülltes und glückliches Leben zu nutzen. „Die Metapher entstand in meinem Kopf, als mein Vater starb. Wenn man jemanden verliert, bildet sich auf Herzhöhe ein rotes Band, das im Wind weht und sich über den Fluss der Zeit zum Ufer der Toten erstreckt und nach dieser Person sucht. Aber deine Erinnerungen an sie sind immer bei dir, denn der Tod nimmt nur das, was dir nicht gehört. Und du kannst dieses Band langsam zusammenfalten und es an dein Herz legen. Denn deine Erinnerungen, deine Erfahrung sind immer bei dir. Niemand wird sie dir nehmen. Sie bleiben hier“, sagt Darja und legt ihre Hand auf die Brust.

Tod mit Sternchen

UN-Angaben zufolge sind seit Beginn der vollumfänglichen Invasion bis Juli 2025 in der Ukraine mindestens 13.580 Zivilist*innen getötet und 34.115 Zivilist*innen verletzt worden. Weitere rund 60.000 Menschen gelten in der Ukraine als vermisst.

„Seit der großen Invasion denken alle Ukrainer mehr über den Tod nach. Das ist eine Konfrontation mit der Angst vor einem gewaltsamen Tod. Eine Aufgabe mit Sternchen, denn im normalen Leben wird ein Mensch mit dem ‚ruhigen‘ Tod konfrontiert, wenn zum Beispiel die Großeltern sterben. Das ist eine natürliche Gesetzmäßigkeit. Und wenn man die familiäre Abfolge betrachtet, rücken alle mit dem Alter allmählich an den Rand. Aber seit Beginn des Krieges ist diese Abfolge zerbrochen, weil wir alle mit der Angst konfrontiert wurden, eines gewaltsamen Todes zu sterben“, sagt der 27-jährige Jewhen Rybka. Er lebt in Dnipro und ist wohl der einzige Mann in der Ukraine, der heute öffentlich als Todesdoula praktiziert.

Jewhen kam über seine eigene fünfjährige Therapie und sein Interesse am Thema des Sterbens zur Doula-Arbeit und absolvierte Kurse bei einer israelischen Doula. Er ist der Ansicht, dass der Handlungsrahmen einer Doula wesentlich weiter gefasst ist als der therapeutische. „Es ist wichtig zu verstehen, dass wir Doulas keine Psychotherapeuten sind und nicht mit ihnen konkurrieren. Manchmal braucht ein Mensch sowohl eine Doula als auch eine Therapie, und manchmal genügt eines von beiden. Zu einem Psychologen oder Psychotherapeuten kommen Klienten wie zu Trainern, um etwas zu lernen, um etwas an sich zu verändern. Der Psychologe hilft, diese ‚Übungen‘ qualitativ hochwertig auszuführen, er gibt die Technik vor. Eine Doula hingegen ist eher ein Fotograf, der den Moment festhält und die Erinnerungen bewahrt“, erklärt der Mann, der seit den ersten Monaten der Invasion Klient*innen bei Verlust und Trauer begleitet.

Die Menschen kommen zu ihm meist auf Empfehlung von Bekannten oder finden ihn über soziale Netzwerke. Manche tragen Trauer über den Tod des Ehemannes, manche über eine Scheidung, manche über die Emigration als Verlust von Zuhause und Heimat, manche kommen mit der Trauer über den Tod einer Katze oder eines Hundes.

Und während Menschen Jahre in Therapie verbringen, endet die Arbeit mit Todesdoulas, wenn das Anliegen geklärt ist. Dass es den Klient*innen leichter fällt, mit dem Verlust umzugehen, sieht Jewhen daran, dass sie mehr Lebenskraft gewinnen: Wenn eine Person beispielsweise früher täglich mehrere Stunden weinte, und dann nur noch eine halbe Stunde. Und das Wichtigste: Wenn die Person bereit ist, sich an das neue Leben nach dem Verlust anzupassen. Wenn die Doula jedoch „rote Flaggen“ im Zustand des Klienten oder der Klientin bemerkt, kann er oder sie diese an eine*n Psychiater*in überweisen.

Den Wandel der Rituale im Umgang mit Verlusten während des Krieges bemerkt Jewhen nicht nur bei seiner Arbeit, sondern auch im Erscheinungsbild der ukrainischen Städte. „In meiner Stadt Dnipro sehe ich Gedenk-Murals zu Ehren der gefallenen Helden und QR-Codes daneben, über die man die Geschichte der gefallenen Person aufrufen kann. Ich sehe, wie zum Gedenken an einen Gefallenen eine Bank aufgestellt oder eine Grünanlage gestaltet wird. Und wenn ich über den Chreschtschatyk-Boulevard in Kyjiw spaziere, sehe ich das Memorial mit den Fähnchen, Porträts und Kerzen. Und das zeigt, dass wir unsere Verluste sichtbar machen. Menschen, die an solche Orte kommen, können ihre Trauer mit anderen, mit ihrer Stadt teilen“, meint er.

Er selbst hat einen eigenen Sterbeplan, in dem festgelegt ist, dass er eingeäschert werden möchte und wie der Abschied gestaltet sein soll. Solche Dinge werden allmählich zu einer neuen Ethik der Mortalität in einem Land, in dem der Tod an jeder Ecke lauert.

Sowohl Jewhen als auch Darja und ihre Kolleg*innen machen sich keine Illusionen über die massenhafte Verbreitung dieses Berufs. Es ist immer noch eine reine Nischenpraxis, von der nur ein geringer Prozentsatz der ukrainischen Bevölkerung weiß. Doch Darja glaubt, dass sich in 15 bis 20 Jahren alles ändern wird und es mit der Zeit in ukrainischen Hospizen und Krankenhäusern offizielle Stellen für Todesdoulas geben wird. Und wenn der Krieg in der Ukraine endet, werden die Menschen bereit sein, über das Erlebte zu sprechen, ohne Scham über den Tod zu reflektieren und die neuen Rituale der Verlustbewältigung zu einer Stütze für das Leben zu machen.

„Tatsächlich steckt im Thema Tod sehr viel Leben. Und wenn Klienten mir sagen, dass sie Angst vor dem Sterben haben, frage ich immer: ‚Und hast du keine Angst zu leben?‘ Denn das Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit erlaubt es uns, die Ressourcen unseres Lebenspotenzials voll auszunutzen. Ein schlechter Tod entwertet das Leben“, ist Darja überzeugt. „Aber wenn du im Laufe deines Lebens den Mut hast, den schmerzlichen Geschichten deiner eigenen Erfahrung ins Auge zu blicken, dann wirst du bereit sein, wenn deine Zeit gekommen ist. Und du wirst, wie in Harry Potter, den Tod wie einen guten Freund empfangen.“
 

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