Wie lässt sich etwas Altes in ein neues Projekt verwandeln, das die Welt zu einem etwas besseren Ort macht? Audrey Bernard unternahm diesen Versuch als sie vor elf Jahren in Le Berquet in Südfrankreich vom Erbe ihrer Großmutter ein Haus und ein Grundstück kaufte und dort eine Selbstversorger-Gemeinschaft gründete. Vor drei Jahren verließ sie diese Gruppe, überschrieb aber das Anwesen der Gemeinschaft. Vom restlichen Erbe kaufte sie ein weiteres Anwesen namens L’Ambass und gründete dort eine neue Gemeinschaft, welche diesmal aber nach außen hin offener war. Wir trafen Audrey im April 2024, einen Tag nach der Eröffnung der Kulturkneipe ihrer Gemeinschaft.
Wie kam es dazu, dass du die Gemeinschaft in Le Berquet gegründet hast?
Ich bin in Paris aufgewachsen und in dieser rein städtischen Umgebung war ich einfach nicht glücklich. Schon als Kind und Teenager hatte ich das ständige Gefühl, dass mir etwas fehlte. Dass an dieser Welt irgendetwas falsch war, ich aber nicht wusste, was. Bis ich dann in meinem Soziologiestudium nach Berlin kam und es mir wie Schuppen von den Augen fiel. In Frankreich hatte ich mich gegenüber der Regierung und dem System immer wie ein kleines Kind gefühlt, in Deutschland aber wurde mir klar, dass wir Menschen auch selbst Verantwortung übernehmen können. Und das brachte mich dann wiederum zur Frage der Selbstversorgung. Der erste Schritt in meinem politischen und sozialen Denken war die Feststellung, dass sich jeder Mensch zusammen mit anderen organisieren kann – ohne irgendeine höhere Macht. Im zweiten Schritt setzte ich mich damit auseinander, wie ich naturnaher leben könnte. Und wie wir als Menschheit die Kluft zwischen uns selbst und der uns umgebenden Natur überwinden können. Denn mich beunruhigte, wie wir die Dinge für unser tägliches Überleben aus der ganzen Welt heranschafften.Als ich fünfundzwanzig war, reiste ich nach Neuseeland und Australien. Ich arbeitete dort auf verschiedenen Höfen als „wwoofer“ [freiwillige Helfer*innen in der ökologischen Landwirtschaft, Anm. d. Red.] und lernte dabei neue Lebensformen kennen. Nach meiner Rückkehr besuchte ich ein paar Pariser Freunde, die sich nun einen Bauernhof in Südfrankreich gekauft hatten und dort Gemüse anbauten, Schafe hielten und kulturelle Veranstaltungen organisierten. Und mir wurde klar: Das möchte ich auch machen. Also begann ich, verschiedene Gemeinschaften zu besuchen; denn kein Kollektiv ist wie das andere.
Ich stellte fest, dass es vielen Leuten nicht möglich war, ein Haus und ein Grundstück zu kaufen. Da ich von meiner Großmutter geerbt hatte, dachte ich mir, es wäre doch super, das Geld für so etwas zu verwenden – und so kam ich auf Le Berquet. Vom allerersten Moment an war mir klar, dass dieser Ort ein Gemeinschaftsprojekt werden würde. Auch wenn ich die Besitzerin des Anwesens war, wollte ich alles dafür tun, dass wir als Kollektiv funktionierten – und nicht etwa, dass ich die Eigentümerin bin und die anderen meine Mieter*innen. Und das war nicht immer einfach.
Bist du immer noch die Eigentümerin?
Ja, aber nicht mehr lange. Ich habe das Grundstück der Stiftung Antidote überschrieben, die auch andere solcher Gemeinschaften verwaltet. Die Stiftung ist basisdemokratisch durch Vertreter*innen der einzelnen Gemeinschaften organisiert. Dadurch wird sichergestellt, dass das Eigentum nicht verkauft werden kann, es kann höchstens einer anderen Gemeinschaft überschrieben werden. Das heißt, die Leute in Le Berquet sind nicht die Eigentümer*innen des Grundstücks, haben aber das Nutzungsrecht und können es nutzen wie sie wollen – in Einklang mit den Grundsätzen der Gemeinschaft.Wie hast du eigentlich die Leute gefunden, mit denen du dort leben wolltest und die deine Ideen geteilt haben?
Im Jahr 2012, als im Dezember angeblich die Welt untergehen sollte, bin ich dort eingezogen: zusammen mit Daniel, den ich aus Deutschland kannte, und anderen Leuten, die meinen Traum teilten und die ich in Australien kennengelernt hatte. Dort hatten wir uns damals versprochen, uns beieinander zu melden, sobald eine*r von uns es schaffen würde. Zwei Jahre später rief ich sie an und lud sie nach Frankreich ein. Sie kamen und manche von ihnen wohnen bis heute in Le Berquet. Am Anfang waren es also alles Bekannte von mir, mit der Zeit kamen und gingen dann auch viele andere Leute – auf längere Sicht etwa siebzig Personen und noch viele weitere Saisonhelfer*innen und wwoofer.
Bauarbeiten für das Projekt L’Ambass | Foto: © Audrey Bernard
Was waren die größten Probleme, mit denen du zu kämpfen hattest?
Die Menschen. [lacht] Das klingt wie ein Witz, aber zeitweise war es wirklich anstrengend, denn wir lebten dort unter recht herausfordernden Umständen. Als wir das Haus kauften, war es unbeheizt, kalt, es gab kein Badezimmer und keine Waschmaschine. Gleichzeitig lebten wir aber doch unseren Traum und das hat uns Kraft gegeben. Eine weitere Herausforderung war es, das Zusammenleben so vieler Menschen miteinander in Einklang zu bringen, denn wir alle haben unterschiedliche Bedürfnisse. Also haben wir nach und nach Regeln eingeführt, die sich dann organisch weiterveränderten. Wenn man Dominanz und Unrecht verhindern möchte, braucht es Regeln. Ansonsten gewinnt der oder die Stärkste.Welche Regeln zum Beispiel?
Bei den täglichen Besprechungen haben wir einen safe space etabliert, in dem jede*r sagen konnte, wie er oder sie sich fühlt und die anderen mussten zuhören. Das ist wichtig, um Konflikten entgegenzuwirken. Am Anfang haben wir uns nämlich alles direkt ins Gesicht gesagt, manchmal auch betrunken, unter Geschrei und Tränen. Außerdem haben wir Rollen verteilt, wer wann wofür verantwortlich ist. Und je nachdem, was dann gerade anstand, haben wir gemeinsam gearbeitet.Wie habt ihr das finanziell geregelt?
Am Anfang habe ich da echt viel Geld hineingesteckt. Die meisten Leute haben nicht gearbeitet und hatten keinerlei Einkommen, weil sie all ihre Energie in das gemeinsame Projekt steckten.Was heißt „viel Geld“?
Für das Haus habe ich 200.000 Euro gezahlt, dann noch mal 100.000 Euro für die Renovierung, das Material und so weiter. Mit der Zeit wollten wir erreichen, dass die Gemeinschaft finanziell unabhängig wird. Unser erstes Einkommen hatten wir durch Kastanien und aus ihnen hergestellten Produkten, zum Beispiel Pasteten. Ein bisschen was kam auch über die Kulturveranstaltungen rein.Wir vertraten damals die Ansicht, dass es möglich sein sollte, in der Gemeinschaft finanziell unabhängig zu leben. Das Kollektiv sorgt für ein Dach über dem Kopf, Essen und die wichtigsten Dinge zur Grundversorgung. Manche Leute fanden Arbeit in unserem Projekt, zum Beispiel in der Bäckerei oder in der Brauerei, ein Teil der Produktion ging an die Gemeinschaft. Es ist ein großer Vorteil, wenn man nicht das ganze Jahr für zehn Leute Brot kaufen muss. Das Bier wiederum haben wir bei Veranstaltungen verkauft, dabei kam hübsch was rein.
Wir alle zahlten 50 Euro pro Monat in die Gemeinschaftskasse. Das ist nichts, aber bei zehn Leuten kommen dann 500 Euro zusammen und das ist schon nicht mehr so wenig. Manche erhielten staatliche Unterstützung, andere hatten Arbeit außerhalb der Gemeinschaft, was aber nicht immer leicht miteinander zu vereinbaren war.
Welchen Umgang hattest du in dieser Situation mit deinem Ego? Wie war es für dich, wenn etwas passierte, womit du nicht einverstanden warst?
Das war nicht immer leicht. [lacht] Ich versuche immer, sehr umsichtig zu sein, wenn ich etwas sage. Mein Wort hat vermutlich mehr Gewicht als das der anderen und ich habe wohl auch größere Erwartungen an unsere Gemeinschaft. Für die anderen war es nicht immer leicht, damit klarzukommen, trotzdem haben wir alle Entscheidungen immer gemeinsam getroffen.Was das Geld angeht, war mir bewusst, dass ich das nie wieder sehen würde und das war okay. Bevor ich Le Berquet gekauft habe, hatte ich von jemandem gehört, der seine Gemeinschaft wegen des investierten Gelds verklagte, weil ihm nicht gefiel, wohin sich die Gemeinschaft entwickelte. Es ging um eine enorme Summe, die sie ihm gar nicht zahlen konnten. Da habe ich mir geschworen, dass ich das anders machen würde. Klar, ich war auch manchmal enttäuscht und hatte das Gefühl, dass die Leute das Projekt nicht ernst genug nahmen, aber vielleicht lag das auch daran, dass ich mit ihnen wohnte. Jetzt wo ich nicht mehr dort wohne, nehme ich aus der Entfernung eine ganz andere Energie und Dynamik in der Gemeinschaft wahr und vielleicht ist das ganz gut so.
Erst hier mit L’Ambass wurde mir bewusst, dass es keine gute Idee ist, wenn man als ursprüngliche Eigentümerin selbst mit in der Gemeinschaft lebt. Das bringt viele Probleme. Im Gegensatz zu anderen Gemeinschaften hatten wir aber zumindest keinen Stress mit Krediten. Alles hat seine Vor- und Nachteile.
Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, ist es in Frankreich ziemlich tabuisiert, über Geld zu sprechen oder darüber, wem was gehört. Das macht es unmöglich, gegen soziale Ungerechtigkeit anzugehen. Besonders groß ist dieses Tabu in unserer alternativen linken Szene, in der viele Leute wenig Geld haben. Wenn wir aber tolle Sachen auf die Beine stellen wollen und Widerstand organisieren wollen, brauchen wir Geld. Und wenn wir nicht darüber reden, tun wir uns auch schwerer, eine gemeinsame Lösung zu finden.
Kannst du kurz beschreiben, wie der Alltag in Le Berquet aussah, als du dort gelebt hast?
Wir haben Gemüse angebaut und Hühner und Schafe gehalten. Außerdem gab es eine Brauerei und eine Bäckerei. Wir haben Brennholz gemacht. Aber abgesehen von den Kastanien und dem Bier haben wir nichts verkauft, sondern alles selbst genutzt.Welche Philosophie oder Überzeugung stand dahinter, dass ihr das alles genau so gemacht habt?
Wir wollten so autark und ökologisch wie möglich leben. Wir benutzten keinerlei Chemie und versuchten, unser Saatgut selbst zu produzieren und biologisch zu düngen. Dass wir ein Maultier einsetzten war auch eine ganz pragmatische Entscheidung, denn die Landschaft dort ist ziemlich steil und terrassenförmig. Die Menschen hier haben traditionell Maultiere verwendet, bis dann Maschinen aufkamen; danach kam die Arbeit mit Tieren praktisch zum Erliegen.Durch das Aufwachsen in Paris habe ich ganz andere Dinge gelernt, als zu mir passen. Meine Vorfahren konnten noch so viele Dinge, von denen die Gesellschaft mich ferngehalten hat. Ich weiß nichts über ihre Welt. Ich weiß nicht, wie man Feuer macht, ich kenne keine Bäume und Pflanzen im Wald. So viele grundlegende Dinge mussten wir wieder neu lernen. Wir haben viele Fehler gemacht, aber gleichzeitig hat uns die Vorstellung begeistert, eines Tages unabhängig von großen Konzernen leben zu können.
Denn jeden Tag benutzen wir Dinge, von denen wir überhaupt nicht wissen, wie sie hergestellt worden sind. Alles ist so einfach. Du drückst den Schalter und das Licht geht an, ohne dass du wissen musst, wo der Strom herkommt. Ich hatte das Gefühl, dass wir wirklich wieder zurück zu den Anfängen müssen: „Uns ist kalt, wir müssen Holz holen und uns aufwärmen. Wenn uns dann immer noch kalt ist, was können wir dann noch tun?“ Dinge bekommen so einen völlig anderen Wert. Es gibt keine schnellen Lösungen. Im Gegenteil, du wirst dir erst richtig bewusst, wie viel Energie und Arbeit in allem steckt. Und auch dabei geht es um soziale Gerechtigkeit – die Arbeit anderer, die man nutzt, wieder wertzuschätzen. Und zu verstehen, wenn ich etwas nicht mache, muss es jemand anderer für mich tun.
Natur um L’Ambass | Foto: © Audrey Bernard
Warum bist du vor zweieinhalb Jahren aus Le Berquet weggegangen und hast ein neues Projekt gegründet?
Le Berquet schränkte mich ein. Ich wollte mehr Kulturveranstaltungen machen und brauchte dafür mehr Platz. Ich wollte auch mehr die Allgemeinheit erreichen. Le Berquet ist ein sehr cooler alternativer Ort, aber ich dachte mir irgendwann, wenn wir die Welt verändern wollen, dann müssen wir zeigen, dass unsere Ideen und Lebensweisen nicht nur für eine bestimmte Sorte Leute sind, sondern für jeden und jede. Unser neuer Ort hier ist ein ehemaliges Gasthaus und wirkt dadurch ganz anders als eine alternative Gemeinschaft. Das zieht auch ein ganz anderes Publikum an. Zum Beispiel kommen auch Landwirte aus der Umgebung zu den Theateraufführungen hierher und wir freuen uns darüber.Ein weiterer Grund war der Klimawandel. In Le Berquet wurde es langsam zu heiß, um Getreide für das Bierbrauen anzubauen, deshalb waren wir auf der Suche nach einem geeigneteren Boden. Mir ist aber auch klar, dass man nicht einfach vor dem Klimawandel davonlaufen kann, wir müssen auch Anpassungsstrategien entwickeln.
Und wie ist nun der neue Ort organisiert?
Ich bin die Eigentümerin. Zuerst hatte ich an eine ähnliche Lösung wie in Le Berquet gedacht, aber zurzeit sind die Bedingungen für das Überschreiben an eine Stiftung nicht besonders gut. Vielleicht später, mal sehen. Es fällt mir schwer, diese Variante anzunehmen. Wir haben aber einen Verein gegründet, der sich damit beschäftigt, wie wir uns organisieren und was in der Gemeinschaft passiert.Und die Kernaufgabe sind Kulturveranstaltungen?
Mit kulturellen Veranstaltungen können wir der Welt zeigen, was wir machen und dass es möglich ist, anders zu leben, autark und naturnah – auch wenn es am Ende dann so aussehen kann, wie die Eröffnung der Kneipe gestern.Die war übrigens wirklich toll! Es waren viele Leute von außerhalb da. Das heißt, ihr werdet hier gut angenommen?
Das war hier auf jeden Fall einfacher als in Le Berquet; misstrauisch war eigentlich nur das Rathaus, dafür waren die Nachbar*innen umso freundlicher. Viele Leute kannte ich gar nicht. Sie fangen gerade an zu entdecken, was wir hier machen, und es scheint ihnen zu gefallen.
Audrey Bernard bei der Arbeit | Foto: © Audrey Bernard
Audrey Bernard (* 1985) studierte Soziologie in Paris und Berlin. In Frankreich gründete sie zwei Gemeinschaften, die sich in ihrer Lebensweise um Autarkie und Selbstversorgung bemühen (2012 in Le Berquet, 2022 L’Ambass in Salleviale, wo sie aktuell auch lebt). Sie tritt als Sängerin und Komikerin mit dem Künstlerkollektiv Compagnie Claap auf.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift Revue Prostor, einer unserer Medienpartner für PERSPECTIVES – dem neuen Label für unabhängigen, konstruktiven, multiperspektivischen Journalismus. JÁDU setzt dieses von der EU co-finanzierte Projekt mit sechs weiteren Redaktionen aus Mittelosteuropa unter Federführung des Goethe-Instituts um. >>> Mehr über PERSPECTIVES
März 2025