Hinter den hohen Ziegelsteinmauern einer ehemaligen Fabrik in Ochtyrka (Oblast Sumy), wo einst die sowjetische Industrialisierung tobte, erklingt heute britischer und ukrainischer Hip-Hop. Teenager der Kleinstadt leben hier die Street culture aus, 50 Kilometer von der russischen Grenze entfernt.
Seit 2014 hat Pawlo Ihnatschenko, Mitglied der Bürgerinitiative Street Cultures Ochtyrka, zusammen mit seinem Team die verlassene Fabrik in einen safe space für junge Menschen aus Ochtyrka verwandelt. Im März 2025 wurde der Raum mit dem Namen Krytka (Критка) offiziell eröffnet. Wir sind nach Ochtyrka gereist, um das unverwechselbare Flair dieses Ortes zu erleben.Straßenkultur in einer Mühle aus dem 19. Jahrhundert
An einem Wochenendnachmittag gleicht Ochtyrka einem Ameisenhaufen. Überall herrscht geschäftiges Treiben: Man sucht sich die beste Wassermelone direkt vom Lastwagen aus, kommt mit Einkaufstüten aus den Läden und trinkt Kaffee aus Pappbechern. Am örtlichen Busbahnhof ist hingegen alles anders. Die Menschen sitzen hier gemächlich auf den Bänken und warten auf ihre Busse. Von hier aus mache ich mich auf zu meinem Zielort.Nach zehn Minuten erreiche ich das Areal der ehemaligen Fabrik für landwirtschaftliche Maschinen Silhospmasch (Сільгоспмаш – Abkürzung für Landwirtschaftliche Maschinen). Hohe rote Backsteinmauern zeugen davon, dass hier einst eine Dampfmühle aus dem Jahr 1896 stand, die zwei Kaufmannsfamilien – den Kurylos und den Bojkos – gehörte. Im Jahr 1932 beschlagnahmte die Sowjetregierung die Mühle und die angrenzenden Grundstücke, baute zunächst ein Rohrgusswerk und später die Fabrik Silhospmasch. In den 2010er Jahren ging das Unternehmen in Konkurs und danach verfiel hier alles. Bis sich auf dem Gelände der historischen Mühle eine Gemeinschaft für Straßenkultur und Kreativwirtschaft ansiedelte.
Die Wand eines der Gebäude ist mit Graffiti besprüht: ein patriotisches Motiv mit dem Satz „Widerstand liegt in deiner DNA“, zwei heimkehrende Störche und weitere Botschaften. Im Jahr 2014 kaufte der Musiker und Sound Producer Pawlo Ihnatschenko hier einen kleinen Raum und richtete ein Tonstudio ein. Er wuchs in Ochtyrka auf und war der Street Culture seit seiner Kindheit eng verbunden. Er mochte Hip-Hop-Musik, Rap, Breakdance und DJing. Deshalb wünschte er sich, dass all dies auch in Ochtyrka Fuß fassen würde.
„In den 2014er Jahren gründeten wir ein Team von Gleichgesinnten und ich als Koordinator die Initiative Street Cultures Ochtyrka. Wir organisierten Jams, Contests, also Wettbewerbe in Extremsportarten und Kunst, sowie Festivals. Heute würde ich mich als jemand bezeichnen, der die Interessen der Jugend-Community für Straßenkulturen und Kreativbranchen vertritt“, erzählt Pawlo.
Auf dem Gelände der ehemaligen Fabrik steht neben dem Tonstudio ein mehrstöckiges Gebäude. Eine hohe Treppe führt dorthin, die Backsteinfassade ist schwarz gestrichen und mit bunten Wandmalereien verziert. Im Jahr 2018 begannen die Mitglieder der Community Street Cultures Ochtyrka, das Gebäude instand zu setzen. Sie räumten das Gestrüpp am Eingang weg, entfernten Müll und Bauschutt und befreiten die Backsteinmauer der alten Mühle von Schichten sowjetischen Putzes.
„Wir haben beobachtet, wie etwas Ähnliches in Berlin, Vilnius oder sogar Kyjiw umgesetzt wurde, wie zum Beispiel das Kunstzentrum Closer. Wenn engagierte Menschen aus anderen Städten nicht untätig bleiben, warum sollten wir dann nicht etwas Eigenes in Ochtyrka schaffen können? Ich habe die Idee dem Eigentümer der von uns gemieteten Räumlichkeiten mitgeteilt. Er glaubte daran, dass das cool werden würde, goss sogar den Boden mit Beton aus und baute Fenster ein. Das Team von Street Cultures Ochtyrka renovierte und strich das Dach und verlegte Stromleitungen. All das dauerte mehrere Jahre“, erinnert sich Pawlo.
Es war nicht einfach, Geld aufzutreiben. Im Laufe der Jahre erhielt die Gemeinschaft zunächst nur zwei Zuschüsse: Einer davon diente zur Organisation eines Street-Culture-Wochenendes in Ochtyrka, der andere für ein Graffiti-Jam-Festival. Gleichzeitig überzeugten die Ideen von Street Cultures Ochtyrka die damalige stellvertretende Leiterin der Abteilung für Jugend und Sport der Regionalverwaltung von Sumy, Olha Resnitschenko. Sie erzählte ihren Kollegen aus der Verwaltung von dem Projekt und überzeugte sie davon, dass es vielversprechend sei. Dank ihrer Fürsprache erhielt die Jugendorganisation später eine kleine Finanzierung. Mit diesen Mitteln kaufte Street Cultures Ochtyrka Spraydosen und mietete Ausrüstung für Veranstaltungen. Außerdem investierte Pawlo über Jahre hinweg ein Zehntel seines Gehaltes in die Projekte der Gemeinschaft, manchmal sogar die Hälfte: zunächst als Elektriker, später als Tontechniker.
Lass uns in der Krytka abhängen!
Später wurde hier eine Rampe zum Skateboarden eingerichtet. Man schweißte sogar Metallgestelle für Sofas, stattete sie mit weichen Polstern aus und kaufte weitere Möbel. Serhij Solowej, ein Freund von Pawlo, goss eigenhändig riesige Waschbecken aus Beton, die in den Toiletten installiert wurden. Zum Team gehörten außer dem Graffitikünstler Serhij Solowej, der zurzeit seinen Militärdienst leistet, auch der Mitbegründer von Street Cultures Ochtyrka, Dmytro Byrtschenko, und Denys Schwed, der bei der Verteidigung der Ukraine als verschollen gilt, sowie weitere Personen aus der lokalen Jugend.Der große Krieg stoppte den Bau des Jugendzentrums, aber nicht Pawlos Initiative. Als die Russen im März 2022 versuchten, die Verteidigungslinien von Ochtyrka zu durchbrechen, richtete er in seinem Tonstudio eine Werkstatt ein, in der Taschen für Erste-Hilfe-Sets genäht wurden. Diese wurden an die Verteidiger entlang der gesamten Frontlinie geliefert – von Bilopillja bis Cherson. Die Straßenkultur hörte nicht auf, sondern verwandelte sich in Widerstand. Schließlich befreite das ukrainische Militär die Region Sumy, und das Team der Gemeinschaft kehrte zurück, um die Einrichtung wiederherzustellen. Dabei orientierte man sich an den durch den Krieg gefestigten Werten: nämlich alles Ukrainische in Ochtyrka zu fördern und bei der Jugend die Liebe dazu zu wecken.
„Wir geben unsere Werte an die junge Generation weiter. Es geht nicht darum, Menschen als Opfer zu sehen, sondern im Gegenteil darum, zu zeigen, dass man für seine Überzeugungen kämpfen und sein Recht auf Existenz verteidigen muss. Es geht um Mut – darum Graffiti dort zu sprühen, wo es verboten ist, oder waghalsige Tricks auf der Rampe zu wagen. Es ist die Fähigkeit, man selbst zu sein und sich nicht zu schämen. Widerstand hat nicht nur mit Krieg zu tun. Es ist die Verteidigung des Rechts, man selbst zu sein“, sagt Pawlo.
Die testweise Eröffnung des Raums fand im August 2023 im Rahmen des zweitägigen Street-Culture-Festivals Kevin statt. Während der Veranstaltung fuhren die Jugendlichen aus Ochtyrka Skateboard und führten Tricks auf Rollern vor, feierten zu der Musik der eingeladenen DJs und hörten sich die Reden von Aktivist*innen an.
„Während des Kevin-Festivals habe ich sogar einmal im Gebäude übernachtet. Da die alten Türen unzuverlässig waren, wäre es zu gefährlich gewesen, teure Geräte und Möbel unbeaufsichtigt hierzulassen. Als das Festival zu Ende war, kamen Jugendliche auf mich zu und fragten, wann wir offiziell eröffnen würden. Das hat uns sehr motiviert“, erzählt Pawlo.
Im Dezember 2024 begann die letzte Phase der Renovierungsarbeiten. Die alte Skateboard-Rampe wurde abgebaut, um daraus eine neue bogenförmige Halfpipe zu bauen. Fast vier Monate lang kamen fast täglich Menschen, die aktiv an dem Projekt mitwirkten. Der jüngste Teilnehmer war 13 Jahre alt. Sie sägten die Teile der zukünftigen Rampe selbst zurecht, schraubten sie mit einem Akkuschrauber zusammen, strichen sie an, brachten die restlichen Möbel herein und entstaubten das Ganze. Alle diese Freiwilligen dürfen den Raum heute kostenlos nutzen.
„Den Namen dieser Einrichtung haben wir uns nicht selbst ausgedacht. Lange vor der offiziellen Eröffnung begannen die Jugendlichen, die zum Skaten kamen, diesen Ort Krytka zu nennen. Es klang ungefähr so: ‚Lass uns zur Krytka gehen!‘ Das ist sozusagen eine Abkürzung für ‚überdachter Skatepark‘. Das Team hörte das und beschloss, den Raum so zu nennen. Im März dieses Jahres haben wir dann offiziell eröffnet“, erzählt Pawlo.
DJing, Vinyl und Skateboarding in der Heimatstadt
Die Holzdecke der Krytka ist mit sechs bis acht Metern sehr hoch und wird von Eisenstangen gestützt. Fast alle Wände sind schwarz gestrichen, doch das historische Backsteinmauerwerk ist unverändert geblieben und erinnert an die Mühle aus dem Jahr 1896. Aus den Lautsprechern dringen rhythmische Breakbeats und Hip-Hop. Auf der linken Seite stehen Tischtennisplatten und Geräte für Airhockey und Tischfußball. In der Ecke stehen ein Fernseher mit einer Playstation 5 sowie weiche Sitzsäcke. Regelmäßig werden hier Gaming-Wettbewerbe in Counter-Strike oder anderen Spielen ausgetragen. Die Wände zieren abstrakte Gemälde. Der Eintritt in die Krytka kostet unter der Woche 50 Hrywen (circa 1 Euro) und am Wochenende das Doppelte.Auf der rechten Seite wurde eine „Barzone“ eingerichtet, wie die Besucher sie nennen. Der Betreiber mit dem Spitznamen Driptschik bereitet dort leckere Sandwiches, Limonaden, Kaffee und Tee zu. Alkohol wird hier nicht verkauft. Nachdem er ein Getränk zubereitet hat, geht er zur Rampe, nimmt sein Skateboard und fährt sie herunter. An der Wand der alten Mühle steht ein Schrank, der einst Pawlos Großmutter gehörte. Anstelle von Griffen hat er Rollen von Skateboards. In den Regalen liegt das Merchandise der Krytka aus, darunter T-Shirts und Messenger-Bags.
Hier finden offene DJ-Abende statt, bei denen man anderen beim Auflegen zuhören und von ihnen lernen kann. Man kann aber auch einfach abhängen. Außerdem werden Workshops zu Graffiti und Siebdruck in einem lockeren Format organisiert. Und wenn es einem mal nicht gefällt, kann man stattdessen auch Skateboard fahren gehen. Pawlo erinnert sich, wie er kürzlich seine Plattensammlung durchgesehen und die Community zur Krytka eingeladen hat, um die Platten gemeinsam anzuhören. Der Abend wurde „Vinyl, Kompott und Butterbrot“ (Вініл, компот і бутерброд) genannt.
„Wir arbeiten mit dem aktivsten Teil der Gesellschaft, mit jungen Menschen, die kreativ, unkonventionell und auf eine gute Art verrückt sind. In der Krytka verbinden uns gemeinsame Werte: die Fokussierung auf den Menschen, gegenseitiger Respekt und Unterstützung. Es spielt keine Rolle, wer du bist, wie alt, ob du aus der Stadt oder vom Land kommst, wie viel Geld du hast oder wie du dich kleidest – hier sind alle gleich. In der Gemeinschaft konkurrieren wir nicht darum, wer in etwas besser ist, sondern wir helfen uns gegenseitig. Zum Beispiel sichern wir uns gegenseitig beim Sprung von der Rampe oder bringen einander Tischtennis bei“, erzählt Pawlo.
Heute schafft Street Cultures Ochtyrka nicht nur etwas für junge Menschen, sondern entwickelt dank seiner Projekte auch die Stadt aktiv weiter. Pawlo sagt: „Niemand hätte erwartet, dass diese ‚Freaks‘ auf Skateboards Ochtyrka so populär machen und weiterentwickeln würden.“ Das Team der Street-Community nimmt von Zeit zu Zeit an Tagungen teil, um über seine Projekte zu berichten. Dadurch erfährt die Welt mehr über die Stadt in der Nähe der Front. Regelmäßig schreiben ukrainische und sogar ausländische Medien über die lokalen Initiativen, darunter auch über Krytka. Im Jahr 2024 schufen Street Cultures Ochtyrka und die NGO Urban Reform gemeinsam eine urbane Vision für Ochtyrka – ein Dokument, das die Entwicklungsziele der Stadt und die Raumplanung umreißt. Im Mai dieses Jahres präsentierte die Community den Trailer zu einem künftigen Film über die Straßenkultur von Ochtyrka mit dem Titel Landung (Приземлення). Der Film wird in Kürze in der Ukraine und im Ausland gezeigt.
„Ich habe mich immer über Sätze geärgert wie: ‚Oh, ich komme aus der Region Sumy. Du hast wahrscheinlich noch nie von meinem Dorf/meiner Stadt gehört. Deshalb werde ich nichts darüber erzählen!‘. Deshalb machen wir in unseren Projekten Werbung für die Stadt und motivieren die Menschen, dort zu bleiben beziehugsweise uns zu besuchen. Denn aus Ochtyrka zu stammen, ist cool und angesagt, darauf kann man stolz sein“, sagt Pawlo überzeugt.
Sie hören Old-School-Rap und interessieren sich für kreative Branchen
Seit Pawlo und sein Team begonnen haben, die Straßenkultur in Ochtyrka zu fördern, hat die Community einen Generationswechsel erlebt. Einige von ihnen sind erst 2014 geboren und kommen 2025 bereits zur Krytka, um dort abzuhängen. Andere sind mit den Veranstaltungen und Festivals von Street Cultures Ochtyrka aufgewachsen und heute schon über 20 oder 30 Jahre alt. Aber die Türen der Einrichtung stehen ihnen immer offen, denn sie sind die Botschafter der Street Culture von Ochtyrka.Die überwiegende Mehrheit der Krytka-Community sind Schüler*innen der Oberstufe, die in Ochtyrka zur Schule gehen. Es sind sowohl Jungen als auch Mädchen, denn Straßenkultur ist für alle da. Ältere Besucher*innen, insbesondere Studierende, sind seltener, da sie Ochtyrka meistens verlassen. Diese jungen Menschen, die in den 2000er Jahren aufgewachsen sind und die Ukraine als modernes Land kennen, sind laut Pawlo ein wichtiger Teil der Gesellschaft. Doch aufgrund mangelnder Perspektiven, des Krieges und anderer Faktoren verliert Ochtyrka sie nach und nach.
Hinter dem Bartresen sitzt ein stylisher Kerl auf einem hohen Stuhl. Er trägt eine Mütze, halblange Jeans und ein T-Shirt mit dem Aufdruck der Krytka. Er trinkt Limonade, und als er Pawlo sieht, drückt er ihm die Hand und umarmt ihn. Es ist der elfjährige Ilja, der fast jeden Tag hierherkommt: Er fährt Skateboard, spielt Tischtennis oder zockt auf der Spielkonsole.
„Ich komme schon seit dem Sommer hierher und habe sogar meine Klassenkameraden eingeladen. Jetzt wissen auch sie von der Krytka. Am besten gefällt mir, dass man hier etwas lernen kann, dass man Tipps und Unterstützung bekommt. Früher habe ich kaum mit jemandem gesprochen, aber seitdem ich zur Krytka kam, habe ich damit angefangen, ganz ohne Angst“, sagt Ilja. Während unseres Gesprächs trinkt er seine Limonade aus. Dann springt er vom Stuhl auf und rennt zur Rampe, um Skateboard zu fahren.
„Die Street-Culture-Community von Ochtyrka besteht aus Menschen mit unterschiedlichen Vorlieben“, erklärt Pawlo. Sie können Virgil Abloh von Pharrell Williams unterscheiden, hören Old-School-Rap und interessieren sich für kreative Branchen. Aber all das muss man nicht wissen: Die Türen stehen jedem offen. Hier können sich sogar ein Lehrer und sein Schüler treffen.
Der 29-jährige Dmytro unterrichtet Sport am Beruflichen Bildungszentrum in Ochtyrka. Heute ist jedoch Samstag, weshalb er mit Freunden zum Tischtennisspielen in die Krytka gekommen ist. „Als die Krytka fertiggestellt wurde, habe ich auch mitgeholfen. Ich erinnere mich daran, wie wir im Winter Rampen für Skateboards über die Treppen getragen haben, die damals noch keine Geländer hatten. Das war ein bisschen gefährlich. Heute treffe ich hier oft meine Studierenden, aber an diesem Ort sind wir alle gleich. Ich liebe Sport und Musik und sehe mich als Teil der Jugendlichen. Es ist für mich ganz normal, unter der Woche zu unterrichten und am Wochenende in die Krytka zu kommen, um auf dem DJ-Controller zu spielen“, erzählt Dmytro.
„Ochtyrka wird zur Hauptstadt der modernen Kultur“
Die Einwohner*innen von Ochtyrka haben unterschiedliche Meinungen zur Krytka: Einige sind begeistert von dem, was die Jugendlichen in der verlassenen Fabrik tun, andere beobachten es mit Argwohn. Das sei normal, sagt Pawlo. Der älteren Generation wurde in der Sowjetzeit eingeredet: „Heute spielst du Jazz, morgen verkaufst du dein Vaterland.“ Deshalb hindert die Lebenserfahrung dieser Menschen sie daran, junge Menschen zu verstehen, insbesondere solche, die sich mit unkonventionellen Dingen beschäftigen. Straßenkultur habe es in Ochtyrka schon früher gegeben, erzählt Pawlo. In seiner Kindheit in den 2000er Jahren war sie jedoch noch unausgereift.„Wir haben diese Street Culture intuitiv entwickelt. In Ochtyrka wurde sie normalerweise aus Charkiw ‚importiert‘. In unserer Stadt entstand in jenen Jahren eine Wand mit verschiedenen Graffitis. Auch wir haben unsere Wandmalereien darauf hinterlassen. In den 2000er Jahren kamen Jungs aus Usbekistan in meinen Stadtteil, die den Sommer bei ihrer Großmutter in Ochtyrka verbrachten. Sie brachten Hip-Hop-Kassetten mit. Also trafen wir uns und hörten diese Musik gemeinsam auf einem alten Kassettenrekorder“, erinnert sich Pawlo.
Heute wird Street Culture bewusster ausgelebt und ist zugänglicher. Man kann beobachten, wie sie in anderen Ländern aussieht, zum Beispiel in sozialen Netzwerken oder auf YouTube, und dann etwas Eigenes schaffen. Da diese Kultur heute nicht mehr tabuisiert, sondern populär ist, haben sich in der Ukraine viele Entwicklungsmöglichkeiten für Tätowierer*innen, Graffitikünstler*innen, Fotograf*innen und Cutter*innen eröffnet. Allerdings ziehen sie in Großstädte mit einem besseren Arbeitsmarkt, höheren Gehältern und interessanteren Perspektiven, sagt Pawlo. Gleichzeitig versucht die Krytka, diesen Menschen ähnliche Bedingungen zu bieten, damit sie in Ochtyrka bleiben.
Hinter einer der Wände der Krytka befinden sich noch viele verlassene Räume. In den großen alten Hallen stapeln sich Restbestände von Baumaterialien für Renovierungen, alte Bretter, Ziegelsteine und Säcke mit unbekanntem Inhalt. Pawlo träumt davon, dass diese Räume der alten Fabrik eines Tages ebenfalls hergerichtet werden. Vielleicht wird daraus ein Mini-Hostel für Künstler*innen, die aus anderen Regionen oder sogar anderen Ländern nach Ochtyrka kommen, um aufzutreten. Oder ein Food-Court. Oder sogar eine überdachte Basketballanlage. Außerdem träumt das Team davon, einen großen Skatepark aus Beton zu errichten.
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Oktober 2025