Persönliches Wachstum „dank“ Handicap  Ein Jahr ohne Gehör

Ein Jahr ohne Gehör Foto: Franco Antonio Giovanella via unsplash | CC0 1.0

Ein Jahr nach dem Verlust ihres Gehörs zieht Hana Stejskalová eine Bilanz. Sie machte Höhen und Tiefen durch, vor allem aber musste sie sich an ihr Handicap gewöhnen. „Ich schaffte es schließlich, mich in den meisten Situationen zu entspannen, und den Menschen, mir selbst, dem Leben und meinem Weg zu vertrauen“, sagt sie nun und beschreibt, wie sie an ihrer neuen Situation gewachsen ist – wenn auch unfreiwillig.

Nun ist es bald ein Jahr her, dass ich mein Gehör verloren habe. Wir haben lange gewartet, ich und die Ärzte, um zu sehen, ob sich mein Gehör wieder verbessern würde. Bis jetzt ist das nicht passiert, und selbst Hörgeräte haben nicht geholfen. Eine Cochlea- oder Stammimplantat-Operation wurde bisher von meinen Ärzten nicht empfohlen. Obwohl die Aussichten nicht rosig sind, bin ich optimistisch. Ich habe mich an meine neue Realität gewöhnt, habe gelernt, damit umzugehen und oft auch Gefallen an ihr zu finden.

Akzeptieren und die Richtung ändern

Das Wichtigste und zugleich das Schwierigste war, die Tatsache selbst zu akzeptieren. Ich weiß nicht, ob mir das vollständig gelungen ist, aber auf jeden Fall habe ich gelernt, sie zumindest zu respektieren, und diese Wende ist wichtig. Lange Zeit habe ich mich nämlich als minderwertigen Teil der Gesellschaft gesehen.

Ich empfand es als eine gewisse Ungerechtigkeit, dass ich nun ähnlich wie eine invalide Rentnerin abgestempelt sein sollte, verurteilt dazu, mich mit einer sehr überschaubaren Anzahl einiger weniger Arbeitsangebote zufrieden zu geben. Und überhaupt hatte ich nicht nur das Gefühl, meine Existenz in der Welt habe keinen Sinn, sondern dass ich dieser Welt auch noch zur Last zu falle. Ich versuchte ständig, mich anzupassen, das Leben der anderen nicht durch meine Behinderung zu erschweren, mich zurückzuhalten. Ich musste erst einmal die Erfahrung machen, dass mir diese Einstellung in keiner Weise half, und erst dann konnte ich langsam lernen, sie zu ändern.

Erst nachdem ich viele Situationen durchgemacht hatte, stellte ich fest, dass ich den meisten Menschen überhaupt nicht zur Last falle, dass sie mir gerne ihre Worte wiederholen oder aufschreiben und dass sie, genau wie ich, vor allem Kontakt knüpfen wollen – allen Hindernissen zum Trotz. Und so habe ich mir erlaubt, einen Schritt nach vorne zu machen, aus meinem stillen Schneckenhaus herauszukommen und Menschen und Dingen entgegen zu gehen.

Die Lähmung löst sich

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass jede neue Situation zunächst mit Angst verbunden ist, aber diese Angst kann man überwinden und dahinter geht das Leben weiter. Mit meiner neugewonnenen kindlichen Neugierde begann ich, alles zu erkunden. Wie es ist, allein zu reisen, ohne zu hören. Wie ich mich fühle, wenn ich arbeite und mich nicht durch Gespräche oder Musik ablenken lassen kann, und welche anderen Reize ich meinem Verstand bieten muss. Wie oft ich mich umsehen muss, bevor ich mich sicher genug fühle, um die Straße zu überqueren. Wie laut ich in einem Café bestellen muss, in dem wahrscheinlich Musik läuft, und so weiter.

Ich begann, all dies zu erforschen und mich über meine Entdeckungen und kleinen Erfolge zu freuen. So schaffte ich es schließlich, mich in den meisten Situationen zu entspannen, und den Menschen, mir selbst, dem Leben und meinem Weg zu vertrauen. Mit einer ähnlichen kindlichen Unverfrorenheit erlaubte ich mir, mich direkt in verschiedene Situationen hineinzudrängeln. Ich mache jetzt Yoga und gehe zu Workshops oder Kursen, bei denen ich mit meiner App, die gesprochene Sprache transkribiert, ganz vorne sitze und einfach mit den Augen zuhöre. Ich halte Ausschau nach Vorstellungen mit Untertiteln und fordere sie dort ein, wo sie fehlen.

Dank dieser veränderten Einstellung löste sich allmählich meine Lähmung, die mich daran hinderte, nach einem Ausweg aus der Sackgasse zu suchen, in die ich mich durch die Umstände gedrängt fühlte. Ich begann, mich für ähnliche Geschichten oder Erfahrungen zu interessieren und dafür, wie ich aus meiner neuen Realität das Beste für mich herausholen kann. Ich folge jetzt verschiedenen Gruppen in sozialen Medien, meist sind es Gehörlose, die durch Gebärdensprache kommunizieren, oder Menschen, die dank Cochlea-Implantaten mehr oder weniger gut hören. Aber auch das hilft mir immer noch, nicht auf meine eigene Geschichte beschränkt zu sein, in meiner Blase von „gesunden“ Menschen. Ich habe angefangen, in den sozialen Medien über mich und meine Erfahrungen zu schreiben und die Welt von mir wissen zu lassen: Hallo, ich bin hier!

Ich höre, nur ein bisschen anders

Lange Zeit habe ich mich nach dem Hören gesehnt, habe versucht, es mit Willenskraft zurückzurufen, und ich tue das wohl immer noch ein bißchen, aber es ist nicht mehr die Hauptbeschäftigung meines Tages. Übrigens: Ich würde gerne wieder hören, aber mein Status quo ist eigentlich gut, sogar ausgezeichnet. Ich habe aufgehört, Radio oder Konzerte zu vermissen und genieße jetzt alles, was ich noch tun kann. Der Verstand lässt sich leicht unterhalten, so dass ich es nicht mehr seltsam finde, Filme und Serien ohne Ton und mit Untertiteln zu schauen.

Ich habe gelernt, meine anderen Sinne zu benutzen, vor allem meine Augen, und ich sehe endlich, was ich tatsächlich gewonnen habe. Neben der Aufmerksamkeit ist es vor allem Ruhe. Da mein Tinnitus immer noch sehr leise ist, hat sich auch mein Leben beruhigt. Auf der Straße, in der U-Bahn, neben Baustellen, überall herrscht Stille oder ein leises Rauschen. Es hat sich vermutlich auch mein Geist beruhigt, denn ich bin nicht mehr so abgelenkt. Wenn ich mich mit einer anderen Person unterhalte, bin ich konzentriert und lasse mich nicht von den Geräuschen um mich herum stören.

In der Yogastunde, die ich ohne Untertitel besuche, folge ich den Übungen genau. Die Lehrerin weiß über mich Bescheid und sorgt dafür, dass ich sie sehen kann. Ich erinnere mich, dass ich in der Vergangenheit während der Erklärung oft aufgehört habe, aufzupassen, meine Gedanken schweiften in alle möglichen Richtungen ab, und ich merkte nicht mal, dass ich gar nicht richtig zuhörte, und konnte deshalb nur schwer wieder den Faden aufnehmen. Das kann ich mir jetzt ohne Gehör nicht mehr leisten, und es geht auch nicht so einfach. Und so bekomme ich nun viel mit, nehme viel auf, fotografiere innerlich, habe keine Angst zu fragen. Ich bin im Hier und Jetzt. Und damit bin ich eigentlich sehr mindful und trendy!

Mein Körper merkte, dass ich nicht mehr mit der Last der veränderten Bedingungen zu kämpfen hatte, sondern sie mit einer neuen Einstellung auf die leichte Schulter nahm. Ich begann endlich, mich selbst zu akzeptieren und mich gut zu fühlen, so wie ich bin. Und so träume ich nachts nicht mehr, dass ich mich nicht artikulieren kann, und wache nicht mehr mit dem Gefühl auf, dass der Traum Realität ist. Ich kommuniziere in meinen Träumen immer frei, manchmal erkläre ich jemandem, dass ich nicht hören kann, und fühle mich dabei seltsam, weil ich es jemandem erkläre, die oder den ich hören kann. Wenn ich dann aufwache und nicht die Geräusche der Welt höre, sondern das Geräusch des Tinnitus, bin ich nicht mehr so schockiert wie am Anfang. Ich nehme mich immer noch als Hörende wahr, und vor allem als „in Ordnung“. Ich höre, nur ein bisschen anders.

Der Weg zum Optimismus

Ich habe die Geschichten all der Menschen, die krank sind oder denen das Leben anderweitig übel mitgespielt hat, immer unglaublich gefunden. Ich habe bewundert, wie sie es geschafft haben, trotz aller Widrigkeiten ihren Optimismus zu bewahren. Doch erst dann, wenn das Leben auf den Kopf gestellt ist, lernt man, darüber zu lachen. Es ist kein unaufrichtiges Lachen voller Bedauern, sondern die ultimative Befreiung von dem Bedürfnis nach Kontrolle, die ehrlichste Befreiung, mit der man sich dem Fluss des Lebens hingibt.

Es mag überraschend klingen, aber erst diese Lebensveränderung hat meine Suche nach dem Sinn und meinen Glauben an etwas Höheres, das besser als ich weiß, was wirklich gut für mich ist, gestärkt. Ich glaube, ich musste wirklich erfahren, wie es ist, ohne Gehör zu leben. Und ich glaube, ich muss es immer noch. Ich wurde mir der Vergänglichkeit der Dinge und der Relativität der Zeit bewusst. Wenn ich dann mein Leben als Teil von etwas Größerem sehe, wird meine momentane Gehörlosigkeit zu einer Kleinigkeit und nicht zu einem unüberwindbaren Hindernis.

Ich bin dankbar, dass ich nicht allein bin

Es fällt mir mitunter schwer, zu erklären, warum es mir so gut geht, obwohl ich etwas so Wertvolles verloren habe. Es ist, als habe sich die Richtung meines Lebens völlig verändert. Früher näherte es sich unausweichlich dem Verlust des Gehörs, zumindest in den düstersten Fantasien, von denen ich voll war, und dieses Gefühl behielt ich für mich. Jetzt, wo ich es nicht mehr verbergen kann, und es auch gar nicht versuche, hat sich meine Wahrnehmung der Welt schließlich verändert.

Mein Lippenlesen hat sich stark verbessert, aber mein wichtigstes Hilfsmittel bleibt die App auf meinem Handy. Sie ermöglicht es mir, nahezu fließend zu kommunizieren. Außerdem kam ich spontan auf die Idee, mir ein kleines Mikrofon zuzulegen, das ich ständig an meinem Telefon trage. So ist die Kommunikation noch etwas einfacher geworden, ich muss den Leuten nicht mehr das Telefon vors Gesicht halten, ich kann sie auch dann „hören“, wenn sie nicht in Armreichweite sind, und selbst beim Spazierengehen kann ich mich unterhalten. Der oder die andere hält das Mikrofon und ich halte das Telefon, auf dem ich die Untertitel lese. Das ist eine gute Übung für mein Gleichgewicht, das durch die Operationen etwas beeinträchtigt ist. Am Anfang war das nicht leicht, aber wir haben gelernt, die ganze Situation mit Humor zu betrachten. Ich und mein Umfeld.

Ich merke, wie viel Glück ich habe, dass ich nicht allein bin. Ich habe nicht nur einen wunderbaren Freund und eine Familie, die mir eine große Stütze sind, sondern auch tolle Freunde. Sie haben mir verschiedene kleinere Jobs vermittelt, und mir geholfen, mich und meine neue Andersartigkeit zu akzeptieren. Und das hat mir wiederum geholfen, nicht mehr so viel Angst davor zu haben, mich selbst auf Arbeitssuche zu begeben. So habe ich vor allem mir selbst bewiesen, dass ich immer noch zu fast allem fähig bin und dass der Minderwertigkeitskomplex hauptsächlich ein Gefühl in meinem Kopf ist.

Deshalb denke ich oft, dass der Verlust meines Gehörs heute, mit der Technologie, die wir haben, und in einer liebevollen und unterstützenden Umgebung, wirklich etwas ganz anderes ist, als wenn ich in einer anderen Zeit und unter anderen Bedingungen gelebt hätte. Es ist auch gut möglich, dass mir die Liebe und Unterstützung erst bewusst wurde, nachdem mir all dies widerfahren war.

Lektionen fürs Leben

Ich glaube, dass dies eine wichtige Lebenslektion für mich war und ist. Ich sehe, wie sehr ich im letzten Jahr gewachsen bin. Viele Orte, an die ich mich als Hörende nicht getraut hatte, habe ich erst jetzt, ohne zu hören, betreten. Die Angst hat sich zerstreut. Ich habe so viele Hindernisse in meinem Kopf und in der Wahrnehmung anderer Menschen überwunden. Vielleicht ist das der Grund, warum es sich in letzter Zeit so anfühlt, als dauere dieser Zustand schon zu lange an.

Wenn ich hören kann, nur anders, warum kann ich dann nicht wieder hören wie alle anderen? Warum kann ich mich beim Spazierengehen nicht mit jemandem unterhalten und dabei gleichzeitig in die Landschaft blicken? Warum kann ich kein normales Telefongespräch führen? Warum fällt es mir so schwer, mich in einer großen Gruppe von Menschen zu unterhalten? Warum kann ich nicht mein Lieblingslied auflegen oder den Klang der Stille genießen? Warum kann ich im Dunkeln nicht von den Lippen lesen? Ich bin sehr dankbar dafür, wie schnell sich mein Lippenlesen verbessert hat, und auch für meine App, aber es gibt viele Momente, in denen ich meine Augen gerne ausruhen lassen würde.

Diese Fragen und Hindernisse tauchen immer wieder auf, und ich weiß, dass sie auch auftauchen würden, wenn ich hören könnte. Man schiebt ständig ein Problem vor sich her, das man mühsam lösen will. Und deshalb versuche ich, mich so gut es geht von solchen Gedanken abzulenken. Ich weiß, dass das ein Teufelskreis ist. Auch wenn ich so viel verstanden und verändert habe, kann ich immer noch unzufrieden sein. Ich lerne zu akzeptieren, dass mir, egal was ich tue, das Gehör fehlt. Auch wenn ich an den meisten Tagen nicht nach dem Hören schmachte, ertappe ich mich doch jeden Tag dabei, dass ich mich nach einem bestimmten Geräusch oder Vorteilen des Hörens sehne.

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