Mehr Zeit „für sich“  Das Diktat der Selbstfürsorge

Das Diktat der Selbstfürsorge Foto: Naomi August via unsplash | CC0 1.0

Es ist trendy, sich Zeit für Selbstfürsorge zu nehmen – und zwar effektiv. Manche behaupten sogar, das sei feministisch. Doch warum schreibt uns jemand vor, was wir wie machen sollen? Was, wenn man einfach nur bei Katzenvideos entspannen will? Bleibt danach noch Energie für politische Aktionen übrig?

Als berufstätige Mutter eines Kleinkindes habe ich äußerst selten Zeit, die man als „frei“ bezeichnen könnte. Denn die meiste Zeit, die ich nicht mit meinem Kind verbringe, arbeite ich. Noch habe ich nicht gelernt, während dieser Zeit zu entspannen. Das tue ich nur, wenn ich spüre, dass ich kurz vor einem physischen oder psychischen Zusammenbruch stehe. Ich würde gerne an dieser Stelle übertreiben, aber es ist leider so. Und ich weiß auch, dass ich selbst daran schuld bin. Denn das Schlagwort der Zeit heißt Selbstfürsorge. Doch was hat es überhaupt auf sich mit dieser Selbstfürsorge? Was ist das eigentlich?

Ich stelle fest, dass wenn ich ein, zwei Stunden – wie man so schön sagt – Zeit „für mich“ habe, ich sie so effektiv nutzen will wie möglich. Das heißt, das tun, was ich mit meinem Kind definitiv nicht tun kann – konzentriert arbeiten, meist um Geld zu verdienen. Ich habe lange gebraucht, um zu begreifen, dass ich als Schriftstellerin in einem Land, in dem man vom Schreiben nicht leben kann, für mich den Begriff „Arbeit“ neu definieren muss, beziehungsweise das Konzept von Arbeit als einer mit dem Geldverdienen verbundenen Tätigkeit neu überdenken. Denn sonst hätte ich als Autorin keine Chance mehr.

Doch manchmal passiert es, dass Körper und Seele streiken. Ich stelle fest, dass die Zeit vergeht und ich nutze sie nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe. Meine Effektivität ist gleich null und ich finde mich langsam damit ab, dass ich – wie man auch so schön sagt – nichts schaffe. Es tut mir leid, dass ich mir nicht gleich erlaubt habe, nichts zu tun, dass ich diese wertvolle Zeit einfach nur vergeude. Ich hätte sie mit Selbstfürsorge verbringen können, vielleicht mit einer super effektiven Entspannung. Im Prinzip sind mir die Minuten nur so durch die Finger geflossen. Aber dann denke ich: Na und, ist das denn so falsch?

Es einfach Mal krachen lassen

Dana Jarabi bringt in ihrem Text Selbstfürsorge ist politisch, in dem sie sich mit Svenja Gräfens Buch Radikale Selbstfürsorge. Jetzt! auseinandersetzt, den politischen Aspekt der Selbstfürsorge auf den Punkt. Was ich an diesem Konzept allerdings vermisse, ist die Reflexion darüber, dass es nicht einfach ist, Selbstfürsorge und Elternschaft unter einen Hut zu bringen.

Sich überhaupt erst einzugestehen, dass man Zeit für sich braucht und sich diese zu nehmen, sich trauen, sich durchzusetzen und das darüber hinaus noch zu organisieren – das gehört zur mentalen Belastung, mit der vor allem Frauen zu kämpfen haben, die ja in den meisten Fällen den größten Teil der Care-Arbeit übernehmen. Zu all dem, was sie zu bewältigen haben, müssen sie auch noch mit dem „Diktat der Selbstfürsorge“ fertig werden. Mit dem Zwang, die wenige freie Zeit, die sie zur Verfügung haben, möglichst selbstfürsorglich zu verbringen. Aber was ist diese Selbstfürsorge überhaupt? Wie ist das Konzept entstanden? Nutzt hier die Marktwirtschaft nicht zufällig den Trend von Selfcare und Wellness aus, um uns etwas zu verkaufen, was wir gar nicht brauchen?

Die Instagram-Profile von Müttern sind mittlerweile aus ihrem Ultrakonservatismus erwacht, als progressiv gilt jetzt die Empowerment-Devise, auszubrechen und es mal wieder richtig krachen zu lassen: zum Yoga gehen, in die Sauna oder einfach mit einer Freundin etwas trinken. Und manche machen es tatsächlich so, denen kann man ja nur gratulieren. Doch wie oft schon, wenn ich mich aufgerafft hatte, mir Zeit für mich zu nehmen, saß ich dann in der Bibliothek und das Einzige, wonach ich mich sehnte, war, mich auf die Couch zu legen und komplett abzuschalten. Und wenn man dann schon mal sturmfrei hat, landet man oft auf der Couch, sieht sich in der unaufgeräumten Wohnung um und findet keine Ruhe. Manche finden sie sogar solange nicht, bis sie die ganze Wohnung tatsächlich geputzt haben.

Doch dann verbringen sie wiederum ihre wertvolle Zeit mit unbezahlter häuslicher Arbeit und nicht mit Selbstfürsorge. Es sei denn man hegt gerade eine Leidenschaft fürs Putzen. Vielleicht ist es in solchen Augenblicken einfach in Ordnung, nur da zu liegen und an die Decke zu starren. Aber ohne Handy in der Hand, ist ja gesünder! Aber was, wenn ich zu dieser Achtsamkeit in dem Moment aus Erschöpfung und unruhig kreisenden Gedanken einfach nicht in der Lage bin, oder es mir einfach nicht gut tut?

Wenn ein bisschen Yoga nicht mehr hilft

Vielleicht ist Selbstfürsorge einfach nur ein weiterer unklarer Trend der heutigen Zeit, der uns in Wirklichkeit nur etwas vorschreibt. Und das mit einem Beigeschmack von Eskapismus und Individualismus, die nicht bei jeder Person Glücksgefühle hervorrufen. Außerdem sollte man sich fragen, warum der Hashtag #selfcare bei Instagram derzeit mit 71,2 Millionen Beiträgen so hoch im Kurs steht. Womöglich weil wir in einem System leben, das uns nicht gut tut? Und manchen reicht es einfach nicht, sich in ihrem vollen Terminkalender ein Stündchen für Maniküre oder Yoga freizuschaufeln.

Manchen geht es nämlich schon so schlecht, dass sie professionelle Hilfe brauchen und die bekommen sie nicht ohne ein gutes soziales oder finanzielles Kapital, im besten Fall hat man beides. Da hilft dann aber weder Yoga noch Maniküre. Und manche wollen einfach auch nur nichts tun. Doch was bedeutet es heute „nichts tun“? Zum Beispiel eine Stunde durch Katzenvideos zu scrollen statt in die Sauna zu gehen. Na und?
 

Die australische Schriftstellerin Zoya Patel reflektiert in ihrem in diesem Jahr im Guardian veröffentlichten Text Self-care is important – but we shouldn’t mistake it for feminist action (Selbstfürsorge ist wichtig – aber wir sollten sie nicht für einen feministischen Akt halten) darüber, inwiefern die Feministinnen in ihrem Umfeld die Worte von Audre Lorde über Selbstfürsorge („Für mich selbst zu sorgen ist keine Nachsicht, es ist Selbsterhaltung – und das ist ein Akt politischer Kriegsführung.“) so sehr verinnerlichen, dass ihr Feminismus schließlich im Eskapismus ertrinkt.

Selbstfürsorge ist nicht gleich Wellness

Der gelebte Feminismus endet in vielen Fällen damit, dass Frauen sich vornehmen, mehr auf die Grenzen in ihren Beziehungen zu achten und ihre internalisierten Schönheitsvorstellungen zu überdenken (vermutlich während einer Maniküresitzung), dass sie sich täglich Zeit fürs Meditieren nehmen, um ihre emotionale Energie zu verbessern, und die Selbstfürsorge in den Tagesplan integrieren. Patel räumt ein, dass dies zweifelsohne wichtige individuelle Ziele seien, doch sie fragt auch: Kümmern wir uns jetzt einfach nur um das eigene individuelle Wohlbefinden und vergessen den kollektiven Kampf gegen die systemische Ungleichheit?

Man sollte hier vielleicht noch erwähnen, dass Zoya Patel auf den Fidschis geboren wurde, ihre Vorfahren kommen sowohl von dort als auch aus Indien. Sie versteht sich selbst als intersektionale Feministin, und die brauchen wir gerade am meisten. Als eine, die sich aufgrund ihrer Herkunft und Hautfarbe in Australien nie wirklich zu Hause gefühlt hat, bringt sie viel Verständnis auf für Benachteiligte. Zugleich will sie aber auch nicht diejenigen gegen sich aufbringen, die Selbstfürsorge pflegen, sie ruft nur dazu auf, den Feminismus in all seinen Facetten nicht aus den Augen zu verlieren – also inklusive der guten alten Demos, Proteste und Petitionen.

Ihren Text beschließt sie mit dem Appell, über die ungleiche Verteilung der Privilegien unter Frauen nachzudenken: „Solange da noch diese große Kluft ist zwischen Frauen, die die meisten Freiheiten genießen und jenen mit den wenigsten, ist unsere Arbeit als Feministinnen noch lange nicht getan. Es ist zu früh, sich jetzt nach innen zu richten – unsere feministischen Prinzipien sollte uns zu etwas Besserem aufrütteln.“

Auf sich selbst hören

Aber vielleicht wird das Konzept der Selbstfürsorge nur falsch verstanden. Es muss ja nicht gleich Wellness bedeuten. Die Therapeutin Kaitlin Soule behauptet in ihrem Text über Selbstfürsorge für Mütter, dass Selbstfürsorge im Allgemeinen oft als Realitätsflucht und Abschalten verstanden wird. Sie schreibt: „Aber ich denke, das Gegenteil ist der Fall. Ich glaube, es geht um die Einstellung.“ Die Hauptregel der Selbstfürsorge sollte sein, dass man sich dessen bewusst wird, was man braucht und aufhört, auf die Welt um sich herum zu hören, die einem sagt, was man tun oder lassen sollte. Dass man sich einfach selbst fragt, was einem gerade jetzt gut tun würde.

Soule schreibt, man solle jene Aktivitäten priorisieren, die einem Spaß machen und sie dann einfach einplanen. Doch damit schließt sich wieder der Kreis: Die Selbstfürsorge braucht Organisation. Einige Mütter sind aber schon so überfordert mit der Fürsorgearbeit rund um Haushalt und Kinder, dass es ihre Kräfte übersteigt, auch noch ein Programm für sich selbst zu organisieren. Für viele bedeutet es zudem, dass sie sich innerhalb des Mikrosystems Familie ihr Recht auf Zeit für sich erkämpfen müssen, was auch Einiges an Energie kostet.

In dieser Hinsicht kennt Soule jedoch keine Gnade – wenn wir ein Burnout vermeiden wollen, sollen wir auf Selbstfürsorge achten: „Ich verstehe schon, dass das Leben einem viel abverlangt, aber das eigentliche Problem ist , dass Frauen viel mehr auf sich nehmen, als nur ihren fairen Anteil an der Erziehungsarbeit.“ Und hier zeigt sich der Stein des Anstoßes meines Textes: Ich gehe in erster Linie von meiner Erfahrung als Mutter aus. Aber was ist mit euch, liebe Väter, wie steht es denn um eure Selbstfürsorge? Ich glaube, ihr habt sie genauso nötig wie ich.

Selbstfürsorge soll keine Qual sein

Doch hatte Audre Lorde wirklich das im Sinn, was uns heutzutage als Selbstfürsorge verkauft wird? Es ist zweifellos wichtig zu wissen, wie man entspannen kann, wenn es einem nicht gut geht. Doch jede und jeder von uns sollte frei darüber entscheiden, wie man diese Zeit verbringen möchte. Und zudem ging Audre Lorde ja davon aus, dass nach der Selbstfürsorge dann auch die eine oder andere politische Aktivität folgt. Und damit meinte sie sicherlich nicht ein Foto, wie man in der Wanne liegt, mit einem trendy Hashtag zu posten und dafür ein paar Likes als Selbstbestätigung zu bekommen.

Vor Kurzem bin ich auf Instagram über einen Post der Psychologin Eliška Remešová gestolpert, der mich berührt hat. Es geht dabei zwar um Inspiration, aber man kann ihn auch auf das Diktat der Selbstfürsorge beziehen: „Die Inspiration soll inspirieren und nicht quälen. Inspiration ist ein Buffet für die Seele. Wenn wir nicht wissen, worauf wir gerade Appetit haben, laden wir uns oft alles auf den Teller, bloß um nicht etwas zu verpassen, und am Ende sind Teller und Magen übervoll. Danach kommen dann die Schuldgefühle. Wenn wir allerdings eine konkrete Vorstellung haben, können wir zwar von allem ein wenig probieren, aber wir laden uns dann nur von dem etwas auf den Teller, was wir wirklich wollen. Wir sind es, die darüber entscheiden, wann uns die Inspiration etwas nützt und wann sie uns schadet. Also suchen wir uns das aus, was wir brauchen, damit es uns gut geht. Der ganze Rest muss uns ja nicht kümmern.“ Man sollte in dieser Hinsicht vermutlich eher irrational als effektiv vorgehen.
 
Selbstfürsorge kann also offensichtlich auf unterschiedliche Weise praktiziert werden, sie muss jedoch geplant werden. Dafür braucht es Zeit und viele kleine Schritte. Genauso wie man mit der Partnerin/dem Partner Einkäufe, Wäschewaschen, Spaziergänge plant, sollte man auch Selbstfürsorge planen (und die könnte ruhig auch aus einer Stunde Katzenvideos glotzen bestehen) und damit geht auch der Kampf für eine bessere Welt einher, was für das Familienleben eine weitere interessante Herausforderung ist, die man jedoch nicht aus dem Blick verlieren sollte. Dabei könnte es sich zum Beispiel um irgendeine ehrenamtliche Arbeit handeln, um das Organisieren von Protesten und Demos, Engagement in der Kommunalpolitik, Nachhilfekurse für Benachteiligte oder das Müllsammeln – je nach dem, was einer und einem eben gut tut. Manchmal muss man eben abschalten, manchmal einschalten, manchmal sich von der Welt entfernen und sie dann wieder an sich heranlassen.

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