Die Grenzen unseres Zuhauses  Wir brauchen zwei Planeten

Wir brauchen zwei Planeten Illustration: © Vladimír Holina

Unser alternder Planet braucht ein schwedisches „Death Cleaning“. Nein, noch kommt kein Asteroid auf uns zugeflogen. Es geht vielmehr darum, alles loszuwerden, was bei den verbleibenden Rotationen nicht mehr gebraucht wird. Schadstoffe in der Luft, Gifte in den Flüssen, wilde Mülldeponien, Plastik in den Meeren. Wenn die Erde mit der Aufräumaktion fertig ist und dann noch Lust hat, wird sie vielleicht ein paar Epidemien auf diejenigen loslassen, die den ganzen Dreck verursacht haben: auf uns, die Spezies Homo unersättlich. Wenn sie schon mal dabei ist, warum dann nicht alle Fliegen mit einer Klappe erschlagen?
 

„Grau, teurer Freund, ist alle Theorie. Und grün des Lebens goldner Baum.“ Das hat Johann Wolfgang von Goethe den Menschen mitgegeben. Jedoch scheint mir das Gegenteil der Fall zu sein. Theorien über die Zukunft des Planeten gibt es zuhauf. Sie sind grün, bunt, schwarz-weiß, reif, manche auch mit unreifen Früchten, aber der trockene Baum des Lebens sieht so aus: „Okay, wir kriegen das alles noch nicht so richtig hin, aber wir geben uns Mühe. Fragt uns so um das Jahr 2050 noch mal.“

Neben den sagenumwobenen Wölfen der Wall Street gibt es hier auch uns Rotkäppchen mit Körben, die immer voller werden.

Zwischen Menschen und Fröschen gibt es keinen großen Unterschied. Wir leben in unseren Brunnen, wir können nur deren Wände sehen, hier und jetzt. Jetzt, in diesem Moment, haben die Kinder von Holzfällern im Amazonas-Regenwald nichts zu essen. Aber eines Tages werden wir ohne diese grüne Lunge des Planeten ersticken? Ja und? Diese Kinder wären bis dahin sowieso längst verhungert. Die Entscheidungen über die Abholzungen treffen nicht die Holzfäller, die müssen nur ihre Familien ernähren. Was abgebaut werden soll, billig produziert, was in Flüsse und ins Meer gekippt wird, das sind Entscheidungen, die ein paar Etagen weiter oben in der Machtpyramide getroffen werden. Das Mantra dort lautet: stetes Wirtschaftswachstum. „That`s capitalism, stupid!“

Mit Schwarzem Peter im Ärmel

Neben den sagenumwobenen Wölfen der Wall Street gibt es hier auch uns Rotkäppchen mit Körben, die immer voller werden. Ach, scheiß auf den Kuchen und das Wandern. Es ist sowieso besser, mit einem Quad zur Großmutter in den Wald zu düsen. Und du, Häschen, warne die Menschen schon mal vor! Obwohl... lieber nicht, denn der Developer ist schon dabei, dort die Versorgungsleitungen für ein garantiertes Naturerlebnis mit Unterbringung in garantiert authentischen Holzhütten zu vermessen. Das Hirschgeweih – sogar mit Kopf – und ein Bärenfell gibt es gratis dazu. Eine kleine Aufmerksamkeit des Reiseanbieters!

Eine andere Weisheit besagt, dass bei fehlender Nachfrage das Angebot sinkt und die mythische Selbstregulierung des Marktes eintritt. Es stimmt, dass die vierspännigen goldenen Kutschen auf dem Markt nicht mehr so stark nachgefragt werden, aber für die Natur ist das überhaupt kein Sieg. Früher roch es auf den Straße nur nach Pferdescheiße, heute stinken die Abgase, die so hoch aufsteigen, dass Gott nach neuesten Berichten am Eingang zum Paradies Luftreiniger einführen musste.

Um den Kapitalisten mal eine kleine Pause zu gönnen, schieben wir den Verbraucher*innen den Schwarzen Peter zu. Denn sie sind es schließlich, die, von der Werbung völlig weichgeklopft, dann einkaufen. Dudelt einmal im Kopf die ewig gleiche Leier der Werbesprüche, dann klickt der rechte Zeigefinger gezwungenermaßen auf den Button „Buy now“ auf dem Bildschirm. „Sei kein Schwächling“, verkünden andere Plakate. Sie werben für Unmengen von Büchern über die Notwendigkeit, weniger Dinge und Besitztümer um uns herum anzuhäufen, werben für Werke berühmter Gurus, die den Konsum unter Androhung der Auslöschung des Planeten verbieten. Diese ganzen Bücher findet man in gigantischen Online-Shops, in denen man fast alles kaufen kann. Und daran verdienen wiederum nur die Stinkreichen, und unsere Erde leidet unter den ständigen Pakettransporten.

Wir sollten eigentlich nur das besitzen, was wir unbedingt brauchen. Alten Dingen neues Leben einhauchen oder sie verschenken. Im Einklang mit der Natur leben und ihr nicht mehr nehmen, als wir ihr zurückgeben können. Ich hätte so bescheiden leben können, eine Schale, ein Paar Sandalen, wenn meine Eltern mich nur als kleinen Jungen vor der Tür eines tibetischen Klosters abgesetzt hätten. Im Großen und Ganzen hätte es wahrscheinlich auch in Japan funktioniert, in der dortigen Kultur herrscht nämlich noch Ehrfurcht vor der Natur, vielleicht ging es sogar im koreanischen Seoul. Dort leben bekannte YouTuber*innen und Influencer*innen in Wohnungen, die von der Größe her als Isolationszelle für einen Pudel in Guantanamo durchgehen könnten.

Minimalismus in bourgeoisem Komfort

Ich selbst bin geografisch auf dem Gebiet der ehemaligen Monarchie Österreich-Ungarn verortet und meine Vorfahren lebten hier. Unsere Geschichte hier verlief ganz anders, wir hatten andere kulturelle Traditionen. Dekorative Kunstgegenstände, hochwertiges Kunsthandwerk, schwere und auf Hochglanz polierte Möbel galten als schön. Der Kommunismus sorgte dann dafür, dass viele von uns aus den alten geräumigen Häusern in die Plattenbauten oder bestenfalls aus Ziegelsteinen gemauerte Häuschen von eher miserabler Größe gepfercht wurden. Herrschaftlich große Villen waren ein bourgeoises Überbleibsel.

Wer würde schon die Damast-Tischdecken wegwerfen, das Porzellanservice für zwölf Personen, eigentlich drei Service, um genau zu sein, nämlich noch ein Teeservice und ein Mokkaservice?

Unsere ursprünglichen Wohnungen hatten tiefe Keller, Abstellräume, Dachböden, die selbst schon so groß waren wie ein ganzes Haus. Ich erinnere mich gut an diesen geheimnisvollen Ort. Das waren riesige Lagerräume. Es war kein Problem, die Wohnräume relativ luftig zu halten, denn alles, was gerade nicht gebraucht wurde, konnte aus dem Blickfeld verschwinden.

Wenn das Schicksal der Familie gnädig war, wurden wertvolle Dinge vererbt. Kerzenleuchter von der Urgroßmutter, ein Tisch vom Urgroßvater, der in der Leibgarde des Kaisers gedient hatte. Gegenstände aus der Mitgift, die jede Generation von Bräuten mitbrachte, mit sorgfältig eingestickten Monogrammen. Wer würde schon die Damast-Tischdecken wegwerfen, das Porzellanservice für zwölf Personen, eigentlich drei Service, um genau zu sein, nämlich noch ein Teeservice und ein Mokkaservice? Man wirft doch auch nicht den persischen Pelzmantel seiner Mutter in den Müll, wenn er ihr doch so gut gefallen hat. Es gibt Bücher, Lexika, Gemälde, Fotos, einen Säbel aus dem Ersten Weltkrieg, Steppdecken, Wandteppiche, die meine Großmutter bestickt hat. Was machen die skandinavischen Minimalisten mit diesem emotionalen Erbe? Wo verstecken sie es?

Und dann kommt noch hinzu, dass wir ja auch Persönlichkeiten mit einem eigenen Geschmack und eigenen Vorlieben sind. Ich mag Ton, japanische Schalen, Metall, insbesondere Bronze und Eisen. Mir gefallen andere Bilder. Dann die Überbleibsel von Hobbys, die verblasst sind, Bücher über traditionelle chinesische Medizin oder ein Sack mit Golfschlägern. Den werde ich verschenken. Später kam die Seidenmalerei hinzu. Haufenweise Rahmen. Kochen bedeutete, erlesene Kochbücher, Gewürztöpfe und Teezubehör wie für die Armee des Gelben Kaisers zu sammeln. Seit ein paar Jahren beschäftige ich mich mit einer Kunsttechnik, die sich Mixed Media nennt und bei der gemalt und alles Mögliche und Unmögliche zu 2D- und 3D-Objekte zusammengeklebt wird. Natürlich hat sich für diejenigen, die der Herstellung derartiger Kunstobjekte frönen eine ganze Industrie mit Farben, Papieren, Klebern, Markern, Stiften, Zeitschriften, Lehrbüchern, Workshops und Kursen gebildet. Auf meine alten Tage werde ich wahrscheinlich unter einer Brücke enden, weil das so teuer ist. Und am Ende dann als Minimalistin in einem Kühlschrankverpackungspappkarton.

Früher nannte ich mein Zimmer Schlafzimmer. Jetzt ist es ein Atelier mit Bett. Zwischen Materialkisten und angefangenen Projekten hängen Klamotten auf Bügeln, die aufgrund ihrer Länge und Menge nicht in die Schränke passen. Außerdem gibt es Handtaschen und Rucksäcke, Medikamente, Zeitschriften, Tagebücher, Kaffeebecher und Mineralwasser. Auf dem Bett haben meine drei Stofftiere Asyl gefunden, und 21 (in Worten: ein-und-zwanzig) kleine Kissen. Aus ihnen baue ich ein Meditationsnest. Für zusätzliche Wärme und Freundlichkeit im Raum sorgen die ungelesenen Bücher.

Ich habe das Gefühl, ich muss mir einen überzeugenden Vortrag zum Thema Degrowth anhören, etwas über das reine Herz eines Menschen, der fast nichts besitzt. Als Inspiration brauche ich das Foto einer Küche, in der die unermesslich großen und leeren Arbeitsflächen nur von zwei strategisch platzierten Granny-Smith-Äpfeln oder einem einzigen, farblich auf die Katze abgestimmten Kissen dekoriert werden.

Zwischen Heim und Heiligtum

Tragikomisch ist, dass mein vollgestopfter Raum fast so leidenschaftlich gereinigt wird, wie der geschrubbte Boden eines Zen-Heiligtums. Nur sieht man das bei uns nicht. Wir wissen, dass es bei uns sauber ist, es herrscht bloß dieses unglaubliche „Durcheinander“. Wir sind Hochstapler*innen, ewige Lego-Leger*innen. Mein Mann macht Verschiebungen in seinem Zimmer, ich errichte Pyramiden von Büchern in meiner Kemenate, die Küche ist eine Gastrohölle, in der mein Furikake für den Reis neben geräuchertem Paprika steht und die Yuzu-Konfitüre auf Fleischmarinade balanciert. Asiatische Manie gegen magyarische Küche.

Meiner Meinung nach ist es der einzig gangbare Weg, zwei Zuhause zu haben. Ein genutztes und ein gepflegtes.

Aber auch ich habe mein Refugium, meine elegante und makellose Wohnung. Ein Erbstück, das von meiner Großmutter auf meine Mutter und schließlich auf mich überging. Alles ist genau an seinem Platz, die Blumen sind gegossen, ein richtiger botanischer Garten, die Vorhänge duften, die Quasten an den Teppichen sind in Reih und Glied wie Soldaten bei einer Parade. Mutters Hausschuhe, die Brille und der Aschenbecher sind dort, wo sie hingehören. Die Ohrensessel sind tief, die Decken handgehäkelt, der Tee wird aus einer alten, zerbrechlichen Tasse getrunken und die friedliche Ruhe im Zimmer kann man schneiden wie eine Schokoladentorte, die niemand mehr für mich backt. Ich gehe einmal in der Woche dorthin, ich fühle diese intakte Ganzheit, eine Zeitkonserve meiner Jugend, und es fühlt sich so gut an wie nirgendwo sonst.

Meiner Meinung nach ist das der einzig gangbare Weg: zwei Zuhause zu haben. Ein genutztes und ein gepflegtes.

Ich denke, wir brauchen auch zwei Planeten. Einen, der in seiner natürlichen Schönheit unberührt ist einen zweiten, der durch unser Verhalten bald an sein Ende kommen wird. Dieser muss dann heilen. Der Mensch ist ein zu schwacher Parasit, um seinen Wirt vollständig zu zerstören.

Inspirierende Bücher, die man nicht unbedingt wörtlich nehmen sollte:

  • Jason Hickel: Less is More, How Degrowth Will Save the World (Penguin Books, 2022)
  • Shunmyo Masuno: Zen Magic, Wie man sein Leben aufräumt und dabei ein reines Herz bekommt (O. W. Barth Verlag 2019)

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