Israel & Gaza  Raketenangst neben dem Freiluftgefängnis

Blick von einem Hügel nahe der Stadt Sderot Richtung Westen nach Gaza
Blick von einem Hügel nahe der Stadt Sderot Richtung Westen nach Gaza Foto: © Wolfgang Sréter

Die Einwohner*innen von Sderot leben seit Jahren in ständiger Alarmbereitschaft vor palästinensischen Raketen. Die israelische Stadt liegt unmittelbar an der Grenze zu Gaza. Dort, jenseits der Sperranlagen, wiederum lässt sich die humanitäre und ökologische Katastrophe kaum noch aufhalten. Aktivist*innen geben jedoch die Hoffnung auf Frieden nicht auf – trotz düsterer Aussichten.

„Wenn die Sirenen ertönen, haben wir fünfzehn Sekunden Zeit, bis die Raketen einschlagen“, sagt Nomika Zion aus der Stadt Sderot direkt an der Grenze zu Gaza. „An den Busstationen reicht die Zeit, denn direkt daneben gibt es seit ein paar Jahren phantasievoll bemalte Schutzräume. Es dürfen allerdings nicht zu viele Menschen auf einen Bus warten, denn die Räume sind nicht besonders groß. Im Haus wird es schon schwierig sich rechtzeitig zu schützen und wenn jemand im Auto sitzt, kann er nur bremsen, aussteigen, hinter dem Fahrzeug Schutz suchen und hoffen.“ Sie macht eine kurze Pause und betont dann, „wir haben hier keine Posttrauma-Situation, sondern ständig sich erneuernde traumatische Erfahrungen“.

Wenn die Sirenen ertönen, haben wir fünfzehn Sekunden Zeit, bis die Raketen einschlagen.“

Nomika Zion weiß, wovon sie spricht. Seit 1987 lebt sie in dieser Stadt im Südwesten Israels in dem städtischen Kibbuz Migvan, den sie selbst mitgegründet hat. Es gibt eine Hauptstraße mit Restaurants, Falafelbuden, eine hervorragende Bäckerei, Geschäfte, in denen man Gold aber auch Diamanten kaufen kann, und es gibt ein hochmodernes System mit dem Namen Iron Dome zur Abwehr der Raketen aus dem Gazastreifen. Werden zu viele Raketen auf einmal abgeschossen, kommt der eiserne Dom schnell an seine Grenzen. Die Schutzräume in allen Häusern der Stadt werden dann lebensnotwendig. Sderot wurde 1951 auf dem Land des palästinensischen Dorfes Nadschd gegründet und hat heute über 20.000 Einwohner*innen. Hier leben Jüdinnen und Juden aus Polen, Rumänien, Georgien, Äthiopien und Nordafrika. Außerdem orthodoxe Siedler*innen, die bis 2005 den Gazastreifen bevölkert hatten. Kindergärten und Schulen, in die auch Nomikas Kinder gingen, sind wie Bunker ausgebaut. Eltern, Kinder und Lehrer*innen bleiben in ständiger Alarmbereitschaft.

Nomika Zion von der Graswurzelbewegung The Other Voice Nomika Zion von der Graswurzelbewegung The Other Voice | Foto: © Jutta Höcht-Stöhr

Die Zeiten haben sich zum Schlechteren verändert

Vor Jahren gingen die Raketen aus dem Gazastreifen noch auf dem freien Feld zwischen dem Grenzzaun und der Stadt nieder. Im letzten Gazakrieg schlugen sie allerdings sogar in der Nähe von Tel Aviv ein. Vielleicht auch deswegen ist Nomika Zion Mitglied der Graswurzelbewegung The Other Voice, die sich für eine zivile Lösung des Konflikts einsetzt, denn die Stadt ist ihrer Meinung nach über viele Jahre „durch Kriege und Verzweiflung erschöpft“. Sie ist überzeugt, weder die Raketen von der einen noch die Vergeltung der anderen Seite werden irgendeinen Frieden bringen. Und natürlich weiß sie, auf der anderen Seite des elektrischen Zauns wurden keine Schutzräume und Keller gebaut, in denen sich die Menschen bei Gefahr verstecken können. Auf der anderen Seite herrschen vor allem Zerstörung und Hoffnungslosigkeit, die ihrer Meinung nach unmöglich zu einem friedlichen Miteinander führen können. Es gibt nur vier Stunden am Tag elektrischen Strom in Gaza, das Trinkwasser ist seit langer Zeit knapp und die Berge von Müll werden immer höher und damit zu einem unlösbaren Problem.

In besseren Zeiten konnten Treffen zwischen Menschen aus Gaza und Israel stattfinden. Eine Friedenskonferenz von The Other Voice, die mehrere Hundert Israelis, Palästinenser*innen und internationale Gäste besuchten, wurde organisiert. Es gab Friedensseminare, die junge Erwachsene von beiden Seiten der Grenze veranstalteten. Aber die Zeiten haben sich zum Schlechteren verändert. „Heute ist es nur noch möglich, miteinander zu telefonieren. Und auch das“, meint Nomika Zion, „ist wegen der Überwachung gefährlich.“ Sie spielt damit auf zwei weiße Ballons in großer Höhe an, einer an der nördlichen Grenze von Gaza zu Israel und einer an der Grenze zu Ägypten, die mit hochauflösenden Kameras und empfindlichen Sensoren ausgestattet sind und jede Bewegung, jede Kommunikation registrieren. Die Anfeindungen gegenüber The Other Voice in der eigenen Bevölkerung haben stark zugenommen. Wer mit Mahnwachen oder Demonstrationen die Stimme gegen Gewalt und die Besatzung erhebt, wer auf Transparenten verkündet, dass die Menschen – vor allem Frauen und Kinder – in Gaza keine Feinde sind, muss von der Polizei geschützt werden. Nicht selten wird aus vorbeifahrenden Autos gerufen: „Raze Gaza!“, also löscht Gaza aus.


An der ägyptischen Grenze am geschlossenen Grenzübergang Kerem Shalom An der ägyptischen Grenze am geschlossenen Grenzübergang Kerem Shalom | Foto: © Wolfgang Sréter

„Die Grenze macht Palästinenser*innen und Israelis zu Feinden“

Blickt man von einem Hügel nahe der Stadt Richtung Westen nach Gaza hinüber, fällt zunächst der elektrische Grenzzaun mit einem Tor und zwei Baufahrzeugen auf. Dann folgt ein Streifen, den die Bewohner*innen von Gaza nicht betreten dürfen und wo es in letzter Zeit bei Demonstrationen immer wieder Tote durch israelische Scharfschützen gab. Sonnenkollektoren stehen vor bebauten Feldern, auf denen ein Traktor hin und her fährt und, bevor das Mittelmeer am Horizont sichtbar wird, die Stadt Gaza. Man glaubt es kaum, bis auf den Zaun ein absolut friedliches Bild. Der Anblick unterscheidet sich tatsächlich sehr von den Bildern, die in europäischen Zeitungen und Nachrichtensendungen transportiert werden.

Nichts als Zäune und Mauern, auf der Erde, unter der Erde und zu unserem Unglück auch noch in den Köpfen! Gaza ist ein Open Air Gefängnis mit 2,1 Millionen Insassen!“

Bei einem Treffen weiter südlich an der ägyptischen Grenze am geschlossenen Grenzübergang Kerem Shalom, sagt Dario Teitelbaum, der 1977 aus Argentinien eingewandert ist, „früher sind wir von dieser Seite ans Meer gefahren und bevor es wieder nach Hause ging, haben wir in Gaza Stadt am Hafen zu Abend gegessen. Meine drei Töchter können sich das nicht mehr vorstellen. Für sie ist Gaza einzig und allein Hamas, Kassam Brigaden und Islamischer Dschihad.“ Sie wählen auch nicht die Meretz Partei mit ihrer sozialdemokratischen Ausrichtung, für die Dario seit Jahren arbeitet. Für ihn hat diese Grenze die fatale Folge, dass sie Palästinenser*innen und Israelis völlig voneinander trennt und zu Feinden macht. Eine Grenze, die bis zu zwanzig Meter tief in die Erde geht, damit keine Tunnel mehr gegraben werden können. Er fügt hinzu: „Menschen, die in demselben Landstrich friedlich miteinander leben sollten und“, er unterstreicht das mit einer energischen Handbewegung, „irgendwann auch müssen und zwar ohne Besatzung“. Dann ergänzt er: „Sehen Sie sich um, es ist trostlos, nichts als Zäune und Mauern, auf der Erde, unter der Erde und zu unserem Unglück auch noch in den Köpfen! Gaza ist ein Open Air Gefängnis mit 2,1 Millionen Insassen!“

Dario Teitelbaum Dario Teitelbaum | Foto: © Wolfgang Sréter Mit diesem Freiluftgefängnis beschäftigt sich auch der palästinensische Künstler Essa Ghrayeb. Im Nationalmuseum nahe Ramallah ist eine Installation von ihm zu sehen, die zunächst durch ihre ästhetische Farb- und Formgebung auffällt. Es sind Gegenstände, die er am Strand von Gaza Stadt gefunden und an einer weißen Wand befestigt hat. Speiseölkanister mit griechischer Aufschrift, Joghurtbecher, Farbeimer mit englischem Logo, Ölcontainer der Firmen Royal und Oasis, leere Ölsardinenbüchsen, angerostete Spraydosen, die offensichtlich eine lange Reise hinter sich haben und ausländische Münzen. Damit ironisiert er die Situation im Gazastreifen. Niemand kann mehr hinaus, weder auf dem Landweg noch über das Meer. Es werden aber durchaus Dinge aus anderen Ländern vorbei an den Booten der israelischen Küstenwache angeschwemmt.

„Wer weiß, was der nächsten Regierung einfällt“

Die Lage hat sich allerdings gebessert. Für Dario Teitelbaum ist es ein notwendiger Fortschritt, dass die israelische Regierung die Zahl der Arbeitserlaubnisse für Einwohner aus Gaza von 5.000 im letzten Mai auf jetzt 16.000 erhöht hat. „Von diesem Einkommen leben bei der Größe palästinensischer Familien mehr als 100.000 Menschen!“. Die Zahl könnte auf 20.000 steigen, aber erst Mitte Juli revidierte die israelische Regierung ihre erst eine Woche alte Entscheidung, weitere 1500 Arbeitserlaubnisse auszustellen, nachdem vier Raketen aus Gaza nach Israel abgefeuert wurden. „Wer weiß, was der nächsten Regierung einfällt“, sagt Dario Teitelbaum. Denn das „Experiment“, wie er die Acht-Parteien-Regierung nennt, ist inzwischen gescheitert und die fünften Neuwahlen innerhalb von dreieinhalb Jahren werden im nächsten November stattfinden.

Dario Teitelbaum ist mit seiner Prognose nicht allein, wenn er behauptet, die nächste Regierung werde noch weiter rechts stehen. Dieser Meinung ist bei einem Gespräch in Tel Aviv auch der Journalist und Mitherausgeber der Zeitung Haaretz Gideon Levy. Lange hat er sich vehement für eine Zwei-Staaten-Lösung eingesetzt. Nun aber helfen seiner Meinung nach nur noch gleiche Rechte für beide Seiten und ein Verzicht auf die Vorherrschaft der Israelis über die arabische Bevölkerung. Nomika Zion wird auch trotz der jüngsten Eskalation weiter ihre Mahnwachen und Seminare abhalten, denn sie ist überzeugt, nur gewaltloser Widerstand hat irgendwann Aussicht auf Erfolg.

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