„Mein wichtigster Werkstoff ist Information“ Ein Gespräch mit Mio Loclair

Narciss Roboter Projekt © Christian Mio Loclair

Christian Mio Loclair ist ein in Berlin ansässiger Medienkünstler, der menschliches Handeln digitalisiert und digitale Vorgänge humanisiert. Das Goethe-Institut spricht mit ihm über Überschneidungen zwischen menschlicher Bewegung und KI.

Jochen Gutsch

KI und Daten sind ein fester Bestandteil von Christian Mio Loclairs künstlerischer Arbeit. Ursprünglich Tänzer, schafft der in Berlin ansässige Künstler heute Kunstwerke unter Einsatz von Technologie und baut gestützt auf Algorithmen Installationen, in denen er ästhetische Fragen und Brüche in der menschlichen Identität erkundet. 

Mit Hilfe von KI gestaltet sein Unternehmen Waltz Binaire Projekte für Unternehmen und Organisationen. Das Goethe-Institut spricht mit ihm über sein jüngstes Projekt Blackberry Winter und darüber, wie KI und maschinelles Lernen seine Arbeit beeinflussen.

In ihren künstlerischen Anfängen waren Sie ein Tänzer, der ein Roboter sein wollte. In jüngster Zeit hat sich ihr Interesse auf die Entwicklung generativer Kunstwerke mit zunehmend menschlichen Merkmalen und Eigenschaften verlagert. Aber warum lassen wir nicht die Menschen Menschen sein und die Roboter Roboter?
 
Die Überschneidungen zwischen den beiden Sphären sind eben das, was mich am meisten interessiert. Ich denke, dass menschliches Verhalten zunehmend mechanisch wird und dass wir seine Komplexität im Interesse der Selbstoptimierung und einer höheren Geschwindigkeit stetig verringern. Auf der anderen Seite haben wir Maschinen, welche die Komplexität ihrer Abläufe deutlich erhöhen und sogar organisch wirken können. Es ist, als würden sich Mensch und Maschine einander annähern und zunehmend überlappen. Durch diese Nähe entsteht in meinen Augen ein Schmelztiegel, der sich wunderbar eignet, um die Frage zu untersuchen, welches die Gemeinsamkeiten von menschlichem Verhalten und mathematischen Verfahren sind – und noch wichtiger: was sie voneinander unterscheidet. Das, was nicht anhand von digitalen Algorithmen rekonstruiert werden kann, ist möglicherweise das, was uns Menschen einzigartig macht.





Erzählen Sie uns etwas über Ihre Arbeit „Blackberry Winter.“ Welcher schöpferische Prozess steckt dahinter, und was möchten Sie uns mit diesem Kunstwerk sagen?
 
Blackberry Winter ist Teil eines fortlaufenden Forschungsprojekts, in dem ich digitale Methoden entwickeln möchte, die das können, was ich kann: tanzen. Als Mensch weiß ich, dass ich tanzen kann und wie es sich das Tanzen anfühlt. Um diesen Eindruck zu hinterfragen, entwickle ich digitale Verfahren, die mein Verhalten, mein Wissen und dieses spezifische Empfinden nachahmen. In den vergangenen 15 Jahren habe ich kleine Roboteralgorithmen und Choreographiealgorithmen geschrieben und sogar künstliche Roboterrichter entwickelt, um die individuelle Fähigkeit des Menschen zum Selbstausdruck zu bestimmen.
 
Blackberry Winter ist das jüngste Ergebnis dieses Projekts. Diese Arbeit beruht auf einer datengestützten Lösung. Sie wurde mit 60.000 unsortierten Haltungen menschlicher Körper trainiert und damit beauftragt, eigene menschliche Posen zu erzeugen. Um das zu erreichen, habe ich nicht die Regeln des Tanzes für einen Computer definiert, sondern den Algorithmus mit einer gewaltigen Datenmenge gefüttert, und er brachte sich die Posen selbst bei. Näher bin ich einem sich autonom bewegenden, expressiven Körper bisher nie gekommen. Ich sehe eine Ähnlichkeit mit dem Tanz, und doch ist es eine vollkommen leere Hülle, die keinerlei Intention hat und wie ein passiver Teil der Natur wirkt. Dieser Gedanke gefällt mir, denn er weckt Zweifel an meiner ursprünglichen Überlegung: „Ich weiß, dass ich tanzen kann, und ich weiß, wie es sich anfühlt zu tanzen.“ Möglicherweise war dieser Ausgangsgedanke nichts anderes als eine Illusion.
 
Sie haben mit GAN-Technologie (Generative Adversarial Network) gearbeitet, bei der zwei Netzwerke in einer Situation ähnlich einem Spiel arbeiten. Die Systeme können dafür trainiert werden, anhand von Daten über wirklich authentische Kunst scheinbar authentische Kunst zu erzeugen. Wird sich die Bedeutung des Authentizitätsbegriff verschieben, wenn diese Möglichkeiten weiterentwickelt werden?
 

Ich bin überzeugt, dass die Diskussion über das Problem der Authentizität seit hundert Jahren ein fester Bestandteil der Kunst ist und dass die GAN-Technologie einfach ein organisches Ergebnis dieser Bewegung ist. Wir pochen unentwegt auf die Notwendigkeit menschlicher Eingriffe und damit auf die Notwendigkeit von Eigentümerschaft und Urheberschaft: das gesplitterte Artefakt in Duchamps Large Glass, Kunst als druckbares Massenerzeugnis, Zufall und Willkürlichkeit als Pinsel, Cunninghams Choreographien... oder Instagram-Künstler, die täglich zwei kostenlose Werke veröffentlichen.
 
Die GAN-Technologie scheint mir organisch aus diesen Trends zu wachsen. Bedarf ein Kunstwerk der Inspiration, der Intention und eines daraus hervorgehenden Artefakts, oder ist künstlerischer Ausdruck lediglich ein mathematisches Naturphänomen, das unabhängig vom menschlichen Wollen entstehen kann? In meinen Augen lautet die von GAN aufgeworfene Frage nicht, ob Maschinen künstlerisches Talent besitzen – diese Technologie ist vielmehr die Fortsetzung der von Menschen gestellten Frage: Sind wir Künstler?
Blackberry Winter von Christian Mio Loclair Blackberry Winter ist ein Triptychon künstlich erzeugter Bewegungen | © Christian Mio Loclair In Zeiten von Deepfakes machen sich viele Menschen, Medienorganisationen und Regierungsbehörden Sorgen über bösartige Anwendungen derselben Technologien, die in ihrer Kunst zum Einsatz kommen. Können Sie als Experte einen Rat geben, wie sie mit diesen Problemen umgehen sollten?
 
Es ist vollkommen richtig, dass Deepfakes auf einer ähnlichen Technik wie der beruht, die ich für meine Kunst nutze. Meine Einschätzung der gegenwärtigen Situation setzt sich aus verschiedenen Betrachtungsweisen zusammen. Unter technischen Gesichtspunkten fällt mir keine Lösung ein. Leistungsfähige Netzwerke erzeugen künstliche Realitäten, und andere leistungsfähige Netzwerke stellen fest, ob diese künstlichen Realitäten real genug scheinen, um eine menschliche Realität vorzutäuschen. Das Wechselspiel zwischen künstlichen Lehrer- und Schülersystemen ist ein unglaublich wirkungsvolles Werkzeug, und ich glaube, heute kann schon nicht mehr festgestellt werden, ob ein Bild in einer Kamera entsteht, die Live-Aufnahmen macht, oder von einer künstlichen Intelligenz erzeugt wird. Aber es gibt Künstler und Aktivisten, die diese Technologie für in meinen Augen gute Zwecke einsetzen. Und dann sind da andere, die dieselbe Technologie einsetzen, um Menschen zu täuschen. Die Seite, die am meisten finanzielle Unterstützung erhält, wird wahrscheinlich über die Zukunft dieser Technologie entscheiden.
 
Sie haben erklärt, Künstler hätten die Pflicht, der Kultur Ausdruck zu geben, in der das Publikum lebt, und die Technologie sei Teil dieser Kultur. Wollen sie damit sagen, dass Künstler, die keine moderne Technologie einsetzen, der Kultur keinen Ausdruck geben, was bedeuten würde, dass Kunstwerke aus der vordigitalen Zeit keine Relevanz mehr haben?
 
Ich wollte damit sagen, dass Künstler die Pflicht haben, der Kultur Ausdruck zu geben, in der sie leben, nicht den Traditionen ihres künstlerischen Gebiets. Aber die Künstler, die mich am meisten inspirieren, haben nichts mit Programmierung oder digitaler Praxis zu tun. Ich genieße ihre Beziehung zu und ihre Betrachtung der Umwelt, die sie wahrnehmen, egal welche Werkzeuge sie verwenden.
 
Was meine ganz eigene Blase und Kultur anbelangt, so beschäftigte ich mich seit 1992, also seit meiner Kindheit mit dem Programmieren. Ich habe die Entstehung des Internets als aktiver Programmierer erlebt, ich habe Informatik studiert, und ich habe den Siegeszug der sozialen Medien und des Maschinenlernens erlebt. Das Programmieren und die digitale Praxis sind ein Bestandteil meines Lebens, seit ich mich erinnern kann – dies ist meine Kultur, mein Pinsel, mein poetisches Interesse. Der Versuch, ein klassischer Bildhauer zu sein, würde sich für mich so anfühlen, als gäbe ich vor, ein Ninja zu sein, der in einer Stadtlandschaft über die Dächer läuft. Daran kann ich einfach keinen Sinn sehen.
 
Normalerweise arbeiten sie mit menschlichen Körpern und digitalen Technologien, aber seit kurzem verwenden sie auch Marmor für Skulpturen. Worin bestehen die größten Herausforderungen, wenn sie neue Materialien in Ihren künstlerischen Prozess aufnehmen?
 
Als digitaler Künstler verwende ich im wesentlichen Information als Werkstoff. Diese Information kann als Bild in einer jpg-Datei oder als digitales Objekt in einer objekt-Datei komprimiert oder auf eine Social Media-Plattform hochgeladen werden – und von da an kann sie ewig reisen, ohne das geringste Gewicht zu haben. Bei der Arbeit mit physischem Material genieße ich es, wenn Zahlen in etwas umgewandelt werden, das ein tatsächliches Gewicht hat. Dann habe ich das Gefühl, dass all die Information, mit der ich arbeite, einfach Teil eines unendlichen Satzes ist, und dass mir das Material manchmal erlaubt, einen Punkt zu setzen.

Ihre Arbeiten wie „Narciss“ und „Blackberry Winter“ sind nicht nur interessant, sondern auch schön. Passen sie die Ergebnisse der zugrundeliegenden Prozesse in ihren konzeptuellen Arbeiten an, um ihren ästhetische Effekt zu verbessern?
 
Christian Mio Loclair Christian Mio Loclair | © Christian Mio Loclair Zur Dokumentation einer Arbeit verwende ich verschiedene Werkzeuge, darunter Code, Video und Audio. Sehr oft ergänzt diese Dokumentation die eigentliche Arbeit durch eine zusätzliche Schicht, die wichtig für mich ist. Beispielsweise ist Narciss an sich in meinen Augen überhaupt nicht schön. Es ist ein Roboter, der über sich selbst nachdenkt. Ein Computer mit einer Kamera vor einem Spiegel. Narciss ist streng und kalt. Aber der Videoclip, der den Denkprozess von Narciss dokumentiert, ist das Gegenteil davon. Er ist unglaublich exzessiv und übermäßig dramatisch. Der Grund dafür ist jedoch nicht, dass ich glaube, Narciss brauche einen Theaterraum und dramatische Musik, um über sich selbst nachdenken zu können. Vielmehr ist es dramatisch, wie theatralisch wir sind, wenn wir über nichts als uns selbst nachdenken. Weder in der Arbeit noch in dem Videoclip geht es um Roboter.
 
Aufgrund der rund um den Erdball eingeschränkten Bewegungsfreiheit haben Künstler ihre Aufmerksamkeit Online-Projekten zugewandt. Dennoch sehnen sich die Menschen nach Liveauftritten, Diskussionen und anderen sozialen Interaktionen. Gibt es in der Kunst Bereiche, die sich infolge der Pandemie langfristig verändern könnten?
 
Ich bin sehr stolz darauf, dass ich während der Pandemie Teil einer globalen Szene digitaler Künstler bin. In dieser Zeit sind überall unglaublich spektakuläre und kreative Kunstwerke aufgetaucht. Wir haben eine gewaltige Explosion der digitalen Experimentierfreude gesehen. In meinem Studio arbeiten wir gegenwärtig rund um die Uhr an der digitalen Architektur für ein digitales Museum. Wir haben bereits mehr als 40.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche erzeugt und hoffen, bald Künstler, Kuratoren und Besucher in dieses Museum einladen zu können.
 
Christian Mio Loclairs Werk Blackberry Winter, eine Videoinstallation, die künstliche menschliche Bewegung in Asymmetrie zeigt, wird in der Ausstellung Future U in der RMIT Gallery in Melbourne zu sehen sein. 

Weitere Stichworte von Christian Loclair über die Zukunft kreativer KI gibt es hier.

 

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