Der Computer als Co-Autor: Kreatives Schreiben & künstliche Intelligenz

Roboter mit menschlicher Hand © Colourbox

Autor*innen von elektronischer Literatur erforschen die experimentelle Seite des Schreibens und spielen mit meist radikalen Abweichungen zu herkömmlichen, linearen Printformen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass mit dem Aufkommen der KI die Technologie immer stärker Einzug in die künstlerische Praxis von E-Lit-Autor*innen gefunden hat.

David Wright

Elektronische Literatur ist eine Literaturgattung, die exklusiv für Computer geschaffen wird. Der Begriff meint keine E-Books, sondern Werke, deren Existenz sich auf Code stützt und für deren Erstellung Algorithmen oder Programmierung eingesetzt werden. Um es anders auszudrücken: E-Books können gedruckt werden, elektronische Literatur nicht.
 
„Programmierbare“ Erzählungen sind jedoch weder eine Neuigkeit noch sind sie unbedingt an Computer gebunden. Der Roman Das Schloss, darin sich Schicksale kreuzen des italienischen Autors Italo Calvino aus dem Jahr 1973 benutzt das Legen von Tarotkarten, um mehrere Erzählstränge zu generieren. In diesem Sinne dienen die Tarotkarten als Maschine für die Konstruktion der Erzählung.

In seinem Roman veranschaulicht Calvino einfach einige Beispiele dieser maschinengenerierten Erzählung in Aktion. Seine Maschine ist „handgekurbelt“, sprich, sie bleibt hypothetisch. Mit der Erfindung von Computern und künstlicher Intelligenz jedoch kann dieser algorithmische Gedanke nun verwirklicht werden.
Deutsche Tarot Karten Programmierbare Geschichtenerzählung: Italo Calvino verwendete 1973 in einem seiner Bücher Tarotkarten | © Andreas Praefcke
Blättert man noch einmal 45 Jahre weiter, sind in diesem Bereich massive Fortschritte zu verzeichnen. Das ist nicht überraschend, wenn man die über diesen Zeitraum erfolgte Steigerung der Rechenleistung bedenkt. Von 2017 bis 2018 entwickelte der digitale Lyriker David „Jhave“ Johnston ein Projekt namens ReRites. Jeden Monat produzierte er mithilfe von KI einen Gedichtband. Aus Machine-Learning-Bibliotheken adaptierter neuronaler Netzwerk-Code wurde mit „menschlicher Literatur“, sprich, einem Corpus aus zeitgenössischer Lyrik, „gefüttert“. Mittels Augmentierung durch neuronale Netze wurde ein KI-Text-„Block“ generiert.
 
Jhave vergleicht diese Text-„Blöcke“ mit Stein. In einer Weiterführung dieser Metapher beschreibt er seinen Mauszeiger als „Meißel“. Die unverständlichen Blöcke von KI-generiertem Text wurden „menschenbearbeitet“ oder „gemeißelt“. Die resultierende Lyrik wird von Mensch und Maschine gemeinsam geschrieben, wobei KI jedoch als Ausgangspunkt für Jhaves kreativen Prozess dient.
Weisses Buch ReRites David „Jhave“ Johnston produzierte in seinem Projekt "ReRites" von KI geschriebene Gedichte | © David Johnston  

Ein anderer Modus kreativer Praxis

Jhaves Kernthese ist, dass neuronale Netze die begrenzte menschliche Kreativität beflügeln und nähren. Wie er auf seiner Website erklärt, „operiert der digitale, musterverschlingende Prozess der unterstützenden Technologie nicht nur weitaus schneller als der Mensch, sondern auch die Datenaufnahmekapazität siliziumbasierter neuronaler Netze ist riesig und von unermüdlicher Energie (Kapazität & Verbrauch).“ Wichtig ist an dieser Stelle, dass der Einsatz von künstlicher Intelligenz im kreativen Prozess nicht unbedingt ein Aufgeben von Macht oder Kontrolle seitens des/der Autor*in nahelegt. Vielmehr stellt sie einen anderen Modus kreativer Praxis und Inspiration dar.
 
Wo ReRites Programmierung einsetzt, um den Schreibprozess zu transformieren, nutzt The Readers Project von John Cayley und Daniel C. Howe Programmierung, um das Lesen von Text zu transformieren. 2013 konzipiert, macht The Readers Project das Lesen visuell. Es ahmt dabei jedoch nicht menschliches Lesen nach. Stattdessen kundschaftet The Readers Project alternative Lesemethoden aus, um neue Texte zu produzieren.
 
Die „Leser“ im Readers Project benutzen Code, um „bedeutungsgenerierende Leseverhalten auszuführen.“ Derzeit gibt es mehr als ein halbes Dutzend Leser, die auf eine ganze Reihe von Texten angewendet wurden. Jeder Leser verfügt über seinen eigenen einzigartigen Code, der sein Verhalten festlegt. Beispielsweise entscheidet der „Perigramm-Leser“, was er als nächstes lesen soll, indem er nicht nur wie in der westlichen Lesepraxis üblich nach rechts schaut, sondern auch auf die Wörter direkt darüber und darunter.
The Readers Project „The Readers Project“ nutzte KI zur Entwicklung neuer Lesetechniken | © John Cayley
Die Texte, die diese Leser produzieren, seien nicht einfach eine zufällige Auswahl von Wörtern, sondern, wie Cayley und Howe argumentieren, lesenswert. The Readers Project nimmt somit konventionelle Lesegewohnheiten kritisch unter die Lupe.

Neue, computergenerierte Texte erzeugen

Während fast alle zeitgenössischen Texte – von E-Mails bis hin zu Neuauflagen von Homers Odyssee – digital sind, operieren wir nach wie vor mit konventionellen Schreib- und Lesetypografien und -formaten. Diese Konventionen bestehen aufgrund von Tradition und Gewohnheit fort. Die digitale Welt bietet jedoch zahlreiche andere Möglichkeiten. Diese algorithmischen Leser zeigen uns die potentielle Zukunft unserer Lesegewohnheiten. Ein weiteres Werk von John Cayley und Sally Qianxun Chen, ein 2020 veröffentlichter Remix bzw. Neufassung von Vilém Flussers Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft?, malt sich die Entwicklung eines zugehörigen algorithmischen Lesers aus, der sich durch Cayleys Neufassung bewegt und kurzzeitig Wörter auf der Bildschirmoberfläche entfernt, um „die Worte, Wendungen und Sätze von Vilém Flusser zu offenbaren, die der Neufassung zugrunde liegen.“
 
Wie The Readers Project liest auch The Library of Nonhuman Books von Karen ann Donnachie und Andy Simionato menschliche Literatur, um neue, computergenerierte Texte zu erstellen. Einer „Lesemaschine“ werden Seiten mit menschlichen Texten präsentiert: alles von Fred Reinfelds Complete Book of Chess Openings bis hin zu Fifty Shades of Grey – Geheimes Verlangen von E. L. James. Mithilfe künstlicher Intelligenz setzt die Lesemaschine einen Löschprozess ein, der Text algorithmisch entfernt. Sie ist darauf programmiert, ähnlich wie bei einem Haiku nach silbenbasierten Bedeutungen zu suchen. Auf der Basis des resultierenden Texts ruft eine Internetsuche dann ein Bild ab, mit dem die Seite illustriert wird.
 
Dieser Prozess wird für jede Seite des Buchs wiederholt. Nachdem dies abgeschlossen ist, wird das „neue“ Buch gedruckt und so der Library of Nonhuman Books ein weiterer Band hinzugefügt, der dann über eine Website erworben werden kann. Genau wie bei Jhaves ReRites kombiniert dieses digitale Projekt menschliche und nichtmenschliche Elemente. Es unterscheidet sich jedoch dadurch, dass der resultierende Text ganz explizit und gewollt „nichtmenschlich“ ist.
 
Donnachie und Simionato sehen ihr konzeptionelles Projekt als Spekulation über die Zukunft von Büchern und Lesen. Es malt sich eine „postliterarische Gesellschaft“ aus, die die Arbeit des Lesens nichtmenschlichen Entitäten überlässt. Die Arbeiten selbst suggerieren zudem neue, im menschlichen Text verborgene Bedeutungen.

Nach den Menschen

Beim Lesen und der Beschäftigung mit computergenerierten Werken besteht häufig die Versuchung, sie als nichtmenschlich zu betrachten. Natürlich ist der Computercode, der so vieles unseres zeitgenössischen Daseins untermauert (einschließlich des Codes, der festlegt, wie dieser Text und diese Webseite angezeigt werden), keine menschliche Sprache. Dennoch erfordert die Nutzung von Maschinen und künstlicher Intelligenz zur Inspiration oder Interpretation eines Werks nicht die Preisgabe des Menschlichen.
 
In allen besprochenen Werken bleibt der Mensch notwendig, damit das Werk einen Sinn hat. Wenn der Mensch in künftigen digitalen Werken als Autor*in oder Leser*in nicht mehr erforderlich ist, dann müssen wir womöglich hinterfragen, was wir mit dem Wort „menschlich“ überhaupt meinen.
 
Der amerikanische Schriftsteller Don DeLillo hat es in einem Brief an einen seiner Zeitgenossen wohl am besten formuliert: „Wenn ernsthaftes Lesen auf ein kaum vorhandenes Maß zusammenschrumpft, wird das wahrscheinlich bedeuten, dass das, worüber wir sprechen, wenn wir das Wort ‚Identität‘ benutzen, an ein Ende gekommen ist.“

Weitere Stichworte von David Wright über die Zukunft kreativer KI gibt es hier.
 

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