Film
„Fehler sind etwas Göttliches“

Außenansicht eines pink beleuchteten Kinos. Foto (Detail): Myke Simon © Unsplash

Schlechte Schauspielerei, Lücken in der Handlung, falsch ausgeleuchtete Szenen: Die Regisseure Tom DiCillo und Hal Hartley sprechen mit Andreas Ströhl vom Goethe‑Institut Washington über kleinere und größere Katastrophen im Filmgeschäft. Unsere Chatdebatte beschäftigt sich mit harmlosen Fettnäpfchen und unverzeihlichen Fauxpas in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen.
 

Tom DiCillo, Hal Hartley und Andreas Ströhl

Portrait von Andreas Ströhl © Bernhard Schmidt Andreas Ströhl (16:02):
Ich möchte euch beiden eine Frage zu Fehlern stellen: Ihr scheint Fehler zu lieben – oder zumindest eure Hauptfiguren. Die Trilogie Henry Fool, das Book of Life und Living in Oblivion sind allesamt Filme über Menschen, die einen Fehler nach dem anderen begehen. Und wir mögen diese Figuren. Mögt auch ihr Fehler?

Portrait von Tom DiCillo © Tom DiCillo Tom DiCillo (16:03):
Ich habe lange gebraucht, um die Schönheit von Fehlern zu erkennen. Arthur Miller schrieb dazu, dass Fehler in Amerika sofort mit Versagen gleichgesetzt würden.
 

Portrait von Hal Hartley © Hal Hartley Hal Hartley (16:03): 
Ich muss immer an Lucille Ball denken, die sagte, dass Situationskomik nicht ohne Peinlichkeiten funktioniere. Dies hat mich in meiner Anfangszeit beim Schreiben von Szenen nachhaltig beeinflusst.

Portrait von Andreas Ströhl © Bernhard Schmidt Andreas Ströhl (16:04):
Und macht ihr auch gerne Fehler? Also ihr persönlich?
 

Portrait von Tom DiCillo © Tom DiCillo Tom DiCillo (16:04):
Ich habe sie während einer Schauspielklasse lieben gelernt. Der Lehrer sagte zu uns: Fallt auf die Nase und genießt den Fall.

 

Portrait von Hal Hartley © Hal Hartley Hal Hartley (16:04):
Oh ja. Ich mache viele. Und ich bin inzwischen richtig gut darin, im Anschluss noch etwas Positives daraus zu ziehen.


Portrait von Tom DiCillo © Tom DiCillo Tom DiCillo (16:05):
Für mich ist es ein ständiger Kampf zwischen meinem Gefühl der Akzeptanz, selbst einen Fehler zu machen (insbesondere in der Öffentlichkeit), und dem Umgang der Öffentlichkeit mit diesem Fehler. Die beiden Seiten sind manchmal schwer miteinander in Einklang zu bringen.
Andreas Ströhl © Bernhard Schmidt

Andreas Ströhl (16:05):
Während eines Filmdrehs kann das allerdings kostspielig und zermürbend sein. Es braucht Größe, um die eigenen Fehler zu akzeptieren. Vor allem dann, wenn sie wirklich schmerzhaft sind.

Portrait von Hal Hartley © Hal Hartley Hal Hartley (16:06):
Manchmal habe ich eine Rolle falsch besetzt. Tatsächlich musste ich zweimal eine Person vom Set schicken und die Rolle neu besetzen. Dieses Gefühl war so schrecklich, dass ich mir geschworen habe, es nie wieder so weit kommen zu lassen.
 

Portrait von Tom DiCillo © Tom DiCillo Tom DiCillo (16:07):
Für mich sind die schmerzvollsten Fehler während eines Drehs diejenigen mit emotionalen Folgen, insbesondere dann, wenn man mit Personen zusammenarbeitet, die man liebt und respektiert. Manchmal bin ich beispielweise so sehr davon überzeugt, wie etwas meiner Meinung nach sein sollte, dass ich dabei nicht merke, wenn eine Schauspielerin oder ein Schauspieler mich darauf hinweist, dass ich ihrem oder seinem Prozess im Weg stehe.

Andreas Ströhl © Bernhard Schmidt

Andreas Ströhl (16:08):
Was ist schmerzhafter: die eigenen oder die Fehler anderer Menschen?
 

Portrait von Tom DiCillo © Tom DiCillo Tom DiCillo (16:08):
Mein Gott, was für eine Frage! Da muss ich meinen Therapeuten anrufen und um Hilfe bitten.

Andreas Ströhl © Bernhard Schmidt Andreas Ströhl (16:08):
Das wäre ein Fehler.
 

Portrait von Hal Hartley © Hal Hartley Hal Hartley (16:08):
Meine eigenen Fehler finde ich weitaus schlimmer als die anderer Menschen.
 
 

Portrait von Tom DiCillo © Tom DiCillo Tom DiCillo (16:09): 
Fehler, die andere machen, können schnell Wut oder Verletzungen hervorrufen. Das hat viel mit der Absicht dieser Menschen zu tun. Wenn sie darauf aus waren, mit ihrem Fehler zu verletzen, ist das die eine Sache. Wenn sie eigentlich nichts Böses im Sinn hatten und sich dabei etwas unglücklich verhalten haben, versetze ich ihnen in der Regel nur einen ganz leichten Schlag.

Andreas Ströhl © Bernhard Schmidt

Andreas Ströhl (16:10):
Berücksichtigt ihr Fehler bei eurer Planung?
 

Portrait von Hal Hartley © Hal Hartley Hal Hartley (16:11): 
Beim Filmemachen? Auf jeden Fall. Die Vorproduktion wurde doch eigentlich nur erfunden, um einen Eindruck davon zu erhalten, was man machen könnte, wenn sich der eigentliche Plan als unmöglich erweist. Oder so ähnlich.
 

Portrait von Tom DiCillo © Tom DiCillo Tom DiCillo (16:11): 
Ich denke nicht zu viel über Fehler nach, um nicht zu verkrampfen. Man lernt mit der Zeit immer besser, sich so schnell wie möglich mit unerwarteten Situationen zu arrangieren. Meines Erachtens hängt es auch sehr davon ab, mit welchem Team man zusammenarbeitet. Wenn großes Vertrauen herrscht, wird Fehlern oder Missgeschicken mit Vergnügen, Überraschung und Heiterkeit begegnet.

Andreas Ströhl © Bernhard Schmidt Andreas Ströhl (16:12): 
Bei einigen Kunstformen werden Zufälle und schicksalhafte Fügungen einkalkuliert. Ist das auch beim Film möglich?

Portrait von Hal Hartley © Hal Hartley Hal Hartley (16:12): 
Ich denke schon. Missverständnisse gehören auch in diese Kategorie. In meinem Frühwerk wurde ich durch Filme, die eigentlich für die große Leinwand bestimmt und im Schnittraum an den Fernsehbildschirm angepasst worden waren, zu bestimmten Einstellungen inspiriert. Allerdings wusste ich zu dieser Zeit noch nicht viel über den Einsatz von „Figuren aus dem Off“ ... Ich glaube, es war Die Kunst zu lieben (Carnal Knowledge)...

 

Portrait von Tom DiCillo © Tom DiCillo Tom DiCillo (16:12):
Ich denke, es ist möglich, doch man muss dafür die Verantwortung oder Rechenschaftspflicht gegenüber anderen (Produzent*innen, Stars, Financiers) auf Null reduzieren. Dann kann man spielen und experimentieren. Allerdings sind die finanziellen Möglichkeiten in der Filmbranche manchmal sehr eingeschränkt und Experimentierfreude wird als verantwortungslos betrachtet.
Wusstet ihr, dass Elliot Gould und Donald Sutherland alles daransetzten, Robert Altman für seine Regiearbeit in Mash feuern zu lassen?

Andreas Ströhl © Bernhard Schmidt Andreas Ströhl (16:14): 
Nein. Was hat ihnen nicht gefallen?
 

Portrait von Tom DiCillo © Tom DiCillo Tom DiCillo (16:15):
Sie hassten seine Methode, auf das Unerwartete, auf Spontanität zu setzen. Sie wollten alles schriftlich haben.

Andreas Ströhl © Bernhard Schmidt Andreas Ströhl (16:15): 
Wünscht ihr euch manchmal vielleicht sogar Fehler? 
 

Portrait von Tom DiCillo © Tom DiCillo Tom DiCillo (16:16):
Ja, vor allem von schlechten Schauspieler*innen.

 

Portrait von Hal Hartley © Hal Hartley Hal Hartley (16:17): 
Ich würde eher nein sagen. Ein Tag ohne Überraschungen nach monatelangen Vorbereitungen ist etwas ganz Wunderbares. Allerdings bereite ich mich jeden Tag auf dem Weg zum Set auf mögliche Krisen vor.

Andreas Ströhl © Bernhard Schmidt Andreas Ströhl (16:18):
Heißt das, dass du alle möglichen Fehler im Kopf durchspielst, bevor sie überhaupt passieren können?

Portrait von Hal Hartley © Hal Hartley Hal Hartley (16:19): 
Ich versuche, genau zu antizipieren, was wir brauchen. Wenn ich mir darüber ausreichend Gedanken gemacht habe, kann ich es auf viele verschiedene Arten und an unterschiedlichen Orten finden.

Andreas Ströhl © Bernhard Schmidt Andreas Ströhl (16:20): 
Was sind eurer Meinung nach die häufigsten Fehlerquellen in Filmen anderer Regisseur*innen? Schauspielleistungen? Kontinuität? Beleuchtung?

Portrait von Tom DiCillo © Tom DiCillo Tom DiCillo (16:21): 
Kontinuität oder Beleuchtung sind es nie. Aus meiner Sicht geht es dabei hauptsächlich um das Skript und die Schauspielleistungen. Und um den Einsatz der Kamera. Vielleicht ist an dieser Stelle Fehler auch nicht die richtige Wortwahl, möglicherweise wäre Entscheidungen besser. Allerdings habe ich manchmal den Eindruck, dass bestimmte Entscheidungen bei Filmarbeiten auf Regiefehler zurückgehen.
 

Portrait von Hal Hartley © Hal Hartley Hal Hartley (16:21): 
Vor Jahren hatte ich noch den Eindruck, dass Casting-Fehler den wichtigsten Teil ausmachten. Da fühlte sich für mich etwas falsch an. Wenn ein Schauspieler oder eine Schauspielerin zum Beispiel eigentlich gut, aber nicht der richtige Typ für eine Rolle ist. Heute habe ich diesen Eindruck hingegen seltener. Mittlerweile scheint es sich aus meiner Sicht immer um Top-Down-Fehler zu handeln: Ein Konzern will unbedingt eine bestimmte „Message“ herüberbringen oder ähnliches.

Andreas Ströhl © Bernhard Schmidt Andreas Ströhl (16:22):
Tom, siehst du das auch so? Du hast auch einige Sachen gemacht, die mehr oder weniger dem Mainstream zuzuordnen sind, wie zum Beispiel Einzelfolgen von Serien ...

Portrait von Tom DiCillo © Tom DiCillo Tom DiCillo (16:24):
Beim Casting für Johnny Suede betrat eine sehr talentierte junge Schauspielerin den Raum und sprach ganz großartig für die Rolle der Yvonne vor. Dann kam Catherine Keener, und ihr Vorsprechen war sehr chaotisch. Ich entschied mich für die erste Frau. Doch dann erwachte ich mitten in der Nacht mit dem Gedanken: „Tom, du Idiot! Catherine ist die Richtige!“ Am nächsten Morgen rief ich nach dem Aufstehen sofort die Agentur dieser Frau an und musste mich 45 Minuten lang entschuldigen. Dann wählte ich die Nummer von Catherines Agentur, um ihr mitzuteilen, dass sie die Rolle hatte.

Andreas Ströhl © Bernhard Schmidt Andreas Ströhl (16:24): 
Und das war auf keinen Fall ein Fehler!
 

Portrait von Tom DiCillo © Tom DiCillo Tom DiCillo (16:25): 
Ja, ich denke, es ist ganz wichtig, eine Szene zu beginnen und nicht zu wissen, wohin die Reise geht. Doch auch hier hängt es sehr davon ab, mit wem man zusammenarbeitet. Steve Buscemi und Catherine waren großartige Trapezkünstler*innen, mit denen wir losfliegen und ins Unbekannte springen konnten. Andere Schauspieler*innen, andere Crewmitglieder waren das genaue Gegenteil, und ich habe versucht, nie wieder mit einem oder einer von ihnen zusammenzuarbeiten.

Andreas Ströhl © Bernhard Schmidt Andreas Ströhl (16:26): 
Aber lässt sich ein solcher Balanceakt wirklich genießen, Tom? Wenn so viel davon abhängt?
 

Portrait von Tom DiCillo © Tom DiCillo Tom DiCillo (16:27): 
Ja. Einige der bereicherndsten Erfahrungen hatte ich dann, wenn beim Dreh genau das passiert ist. Dann gerät man in Hochstimmung und fühlt sich lebendig. Wenn Menschen miteinander arbeiten, kann ALLES passieren.
 

Portrait von Hal Hartley © Hal Hartley Hal Hartley (16:29):
Tom, hast du schon einmal gehört, was Zappa gesagt hat (ich paraphrasiere): „Ohne Abweichungen gibt es keinen Fortschritt.“ Diesen Gedanken finde ich oft sehr hilfreich ...
 

Portrait von Tom DiCillo © Tom DiCillo Tom DiCillo (16:29): 
Genau das ist es, was ich an Zappa geliebt habe. Stammt daher nicht auch der Name seiner Band „The Mothers of Invention“? Die vollständige Wendung lautet eigentlich: „Accident is the mother of invention“ (Zufall macht erfinderisch). 
 

Portrait von Hal Hartley © Hal Hartley Hal Hartley (16:30): 
Das kann ich aus New York City nur bestätigen.

Andreas Ströhl © Bernhard Schmidt Andreas Ströhl (16:30):
Gibt es, jetzt einmal allgemeiner betrachtet und unabhängig vom Filmemachen, Fehler, über die oder auf die ihr euch tatsächlich freut?

Portrait von Hal Hartley © Hal Hartley Hal Hartley (16:31): 
Meine liebsten Fehler haben mit Kraftausdrücken zu tun! (Haltet euch besser die Ohren zu): Im Song einer englischen Band heißt es an einer Stelle: „You comfort me and say you care“ (Du tröstet mich und sagst, dass du mich magst). Wegen des britischen Akzents verstand ich aber: „You can’t fuck me and say you care“ (Du kannst mich nicht vögeln und sagen, dass du mich magst).

Andreas Ströhl © Bernhard Schmidt Andreas Ströhl (16:31): 
Wunderbar! Stellt euch nur einmal vor, was ich als Teenager mit mäßigen Englischkenntnissen so alles aus Blues-Songs aus den 1940er-Jahren heraushörte ... 
Unser kleines Projekt zu Fehlern ist die Reaktion auf einen Vorschlag unserer Zentrale, uns mit der Frage „Wie kommt das Neue in die Welt?“ zu beschäftigen. Unsere spontane Antwort war: Weil Menschen Fehler machen. Das ist es auch, was Zappa meinte. Könnt ihr beide das bestätigen?

Portrait von Hal Hartley © Hal Hartley Hal Hartley (16:32): 
Manchmal frage ich mich, ob ich in philosophischen Fragen eher konservativ denke, weil ich nicht allzu viel Zeit damit verbringe, mir – außer in praktischen Angelegenheiten – Gedanken über das Neue zu machen. Innerlich befinde ich mich noch immer im Austausch mit den alten Babyloniern und Griechen und vielen mehr. Sie hatten zwar keine Mobiltelefone, dafür aber Quarantänen.

Andreas Ströhl © Bernhard Schmidt Andreas Ströhl (16:32): 
Das deutsche Wort für mistake ist „Fehler“. Das ist die etymologische Entsprechung von failure (Scheitern). Unter diesem Aspekt sieht die Sache schon etwas anders aus, oder? Vor allem, wenn alles schon da zu sein scheint und die Welt so viele Möglichkeiten bereithält.

Portrait von Tom DiCillo © Tom DiCillo Tom DiCillo (16:33): 
Die Welt von heute wird von Angst bestimmt. Angst ist keine gesunde Basis, um Fehler zu machen. Fehler werden von Menschen begangen. Die Menschen und die Menschheit müssen vollständig angenommen und akzeptiert werden, damit menschliche Missgeschicke und Fehler nicht gleich verurteilt werden.
 

Portrait von Hal Hartley © Hal Hartley Hal Hartley (16:34): 
Lustig, in meinem neuen Film gibt es einen kurzen Dialog, in dem genau dieser Unterschied angesprochen wird: Haben Fehler zwangsläufig etwas mit Versagen zu tun?
 

Portrait von Tom DiCillo © Tom DiCillo Tom DiCillo (16:35): 
Ich denke nicht. Für mich sind Fehler etwas Göttliches. Doch wie gesagt müssen wir zwischen echten Fehlern und richtig schlechten Entscheidungen aus purem Eigeninteresse unterscheiden.

Andreas Ströhl © Bernhard Schmidt Andreas Ströhl (16:36):
Manchmal führt Versagen auch zu völligem Misserfolg...
 

Portrait von Tom DiCillo © Tom DiCillo Tom DiCillo (16:38): 
Ich möchte kurz auf Arthur Miller zurückkommen. Die amerikanische Psyche scheint großen Gefallen daran zu finden, die Fehler anderer hervorzuheben und in die Welt hinauszuposaunen. Du hast versagt! Du hast versagt!! Es braucht enorm viel innere Stärke, um diesen akustischen Fliegeralarm zum Schweigen zu bringen, vor allem wenn er mit so viel Vehemenz in aller Welt verbreitet wird.

Andreas Ströhl © Bernhard Schmidt Andreas Ströhl (16:40):
Ah, dabei halten Deutsche so etwas für typisch deutsches Verhalten. Ich denke, wir sollten unsere Gedanken mit einem vollendeten Bier an der jeweiligen Küste fortsetzen und ein paar schöne Fehler machen. Wir sind nun am Ende unserer Debatte angelangt. Vielen herzlichen Dank, Hal und Tom, dass ihr an unserem kleinen Spiel teilgenommen habt!


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