Zufälle im Sport
Wie Indien seine Sporttalente entdeckt

Annu Rani: beim Cricket zufällig entdeckt. Bei der WM 2018 im Speerwerfen Rang 8. © DD News

In einigen Sportarten ist die Nachwuchsförderung in Indien noch nicht optimal ausgebaut. Häufig spielt der Zufall bei neuen Entdeckungen von Talenten mit. Aber auch nicht immer. 

Natalie Mayroth

Sieben Tage lang radelte die 15-jährige Jyoti Kumari, bis sie ihre Heimat im nordindischen Bihar erreichte. Sie legte während des coronabedingten Lockdowns in Indien knapp 1.200 Kilometer mit ihrem Vater auf dem Fahrradgepäckträger zurück. Ihr Vater war verletzt, öffentliche Verkehrsmittel fuhren nicht mehr. Sie steckten in der Nähe der Hauptstadt Neu-Delhi fest. Jyoti überredete ihren Vater, sein letztes Geld für ein Rad auszugeben. Der Beginn einer neuen Sportkarriere?

Jyotis Reise blieb nicht unbemerkt. Reporter entdeckten das radelnde Mädchen mit dem roten Dupatta-Schal und überhäuften es mit Versprechungen: Wenn sie den Aufnahmetest des indischen Radsportverbandes bestehe, können sie in dessen Akademie aufgenommen werden.

Karriere beim Militär: Alte Sportikonen und ihre Zufälle

Besonders in der Vergangenheit wurden große Sportstars in Indien zufällig entdeckt. Paan Singh Tomar ist einer der vielleicht bekanntesten. Das liegt nicht nur an seinen grazilen Sprints. Auch der Hindi-Spielfilm über seine Geschichte mit Irfan Khan in der Hauptrolle trug maßgeblich zum Ruhm Tomars bei.

Als junger Mann trat Tomar der Armee bei. Der Legende nach musste Tomar nach einem Streit mit seinem Ausbilder zahlreiche Extrarunden über den Paradeplatz laufen. Als er lief, soll er den Offizieren aufgefallen sein. Er war so gut, dass er Indien bei den Asienspielen 1958 in Tokyo vertrat. In den 1950er- und 1960er-Jahren war er sieben Mal nationaler Meister im Hindernislauf.

Sein nationaler Rekord im 3.000-Meter-Hindernislauf blieb ein Jahrzehnt ungebrochen.

Barfuß auf heißem Sand 

Eine andere, fast vergessene und zufällig entdeckte Sportikone ist der „fliegende Sikh“ alias Milkha Singh. Seine Geschichte wurde ebenfalls verfilmt. Als Kind soll Singh barfuß auf heißem Sand lange Strecken in die Schule zurückgelegt haben und so zu seiner extremen Ausdauer gekommen sein. Singh hatte 15 Geschwister, von denen acht kurz vor der Unabhängigkeit Indiens in Unruhen bei der Teilung Britisch-Indiens 1947 starben. Auch seine Eltern überlebten die blutigen Auseinandersetzungen nicht. Kurz bevor sein Vater von einem wilden Mob ermordet wurde, sagte er zu seinem Sohn, er solle davonlaufen, um sich Sicherheit zu bringen.

Wie Paan Singh Tomar heuerte der Waise Singh bei der indischen Armee an. Dort fing er an, professionell Sport zu treiben.Vor seinem Eintritt wusste er weder, was Laufsport ist, noch kannte er die Olympischen Spiele. Singh wurde für ein spezielles Leichtathletiktraining ausgewählt, das ihn zum Läufer und später zur Legende machte. Singh war bis 2010 der einzige indische Sportler, der bei den Commonwealth-Spielen eine Goldmedaille in Leichtathletik-Einzelwettkämpfen gewann. Bei den Olympischen Spielen 1960 in Rom verpasste er die Goldmedaille im 400-Meter-Finale nur knapp.

Fußballer und Leichtathleten werden leichter entdeckt

Auch Jahrzehnte später fanden auf ähnlich zufälligen Pfaden indische Sportler ihren Weg zu Ruhm & Ehre und an die Spitze. Darunter der Hindernisläufer Avinash Sable. Er trat der indischen Armee bei, wo er 2015 am Armeelanglauf teilnahm. Der übergewichtige Sable speckte innerhalb von drei Monaten 20 Kilo ab, trainierte hart und qualifizierte sich mit einem nationalen Rekord 2019 für die Leichtathletik-Weltmeisterschaften.

Oder die Fußballerin Ngangom Bala Devi. Devi war bereits vor ihrer Profi-Fußball-Karriere sportlich aktiv, doch nie hauptberuflich. Sie ging zur Polizei in Manipur. Dort spielte sie in deren Frauenliga. Im Januar 2020 bekam sie überraschend einen 18-Monats-Vertrag beim schottischen Klub Rangers FC und machte ihre Leidenschaft zum Vollzeitjob. Die 30-jährige Stürmerin ist eine der wenigen indischen Profi-Fußballerinnen.

Früh entdeckt und gefördert

„Bala Devi hat schon früh mit Fußball angefangen“, sagt Sportjournalist Amit Kamath. Um heutzutage erfolgreich zu sein, müssten Profisportler*innen jung beginnen. Die Zeit der großen Zufälle sieht er so gut wie abgelaufen. „Das Sport-Förder-System ist nicht das beste der Welt, aber nur zufällig läuft es in Indien nicht mehr ab“, so Kamath. Die heutige Generation von Athlet*innen, seien es Schütz*innen, Gewichtheber*innen, Boxer*innen oder Cricketspieler*innen, startet jung. Viele von ihnen würden genau im richtigen Alter entdeckt und gefördert.

Sprinterin Hima Das gehört dieser jüngeren Generation an. Die Tochter eine Reisbauern aus dem Nordosten Indiens wurde beim Barfuß-Fußball entdeckt. Hima spielte immer wieder mit ihren Brüdern und Freunden. Dass dies nicht gern gesehen wurde, störte sie nicht. Hima machte weiter. Denn an ihrer Schule gab es weder Sportunterricht noch einen Sportlehrer – gang und gäbe an vielen staatlichen Schulen. Nur gelegentlich fanden Turniere statt und bei einem davon trat das Fußballteam von Himas Schule an. Ein Trainer bemerkte, dass Hima immer voranlief, schneller als alle anderen. 

Geld für eine Sportschule hatte die Familie aber nicht, es reichte nicht einmal für Laufschuhe. Doch die Trainer unterstützten sie – finanziell und sportlich. So dass Hima zur Leichtathletin wurde. Erst nachdem sie die erste Medaille gewann, bekam sie staatliche Unterstützung. Und 2017 folgte dann der Durchbruch: Sie wurde indische Meisterin im 200-Meter-Lauf. 2018 stellte Hima Das den indischen Landesrekord über 400 Meter (50,79 Sekunden) auf. Heute trainiert die 20-Jährige vor allem im Ausland.

Talente werden oft nur durch Zufall entdeckt

Dass Indien bisher noch keine olympische Medaille in der Leichtathletik nach Hause gebracht hat, verwundert den Sportkommentator Novy Kapadia nicht. Die Entdeckung von Sporttalenten beruhe auf Zufall und Glück. Wie bei der dreifachen indischen Meisterin im Speerwurf Annu Rani, so Kapadia. Die 28-jährige Sportlerin ist die erste Inderin, die eine Distanz von 60 Metern im Speerwurf meisterte. Trainiert wurde sie zunächst von ihrem Bruder, der ihren starken Wurf beim Cricket-Spielen bemerkte. Trotz Vorbehalten des Vaters förderte er ihr Talent. Einen Speer hatte sie anfangs nicht; Annu Rani übte mit einem Bambusstock.

Sie schaffte es nach ganz oben: Die Tochter eines Bauern aus dem nordindischen Uttar Pradesh qualifizierte sich 2017 als erste indische Speerwerferin für die Endrunde der Leichtathletik-Weltmeisterschaft. Im Oktober 2019 erreichte sie das Finale im Speerwurf bei der IAAF Leichtathletik-Weltmeisterschaft. Erfolgreich bei den Olympischen Spielen in Tokio zu sein, ist ihr nächstes Ziel.

Wie findet man Talente in teuren Sportarten?

Im Gegensatz zur Leichtathletik, bei der es erst einmal keine teure Ausrüstung braucht, haben es andere Sportarten deutlich schwerer mit Zufallsentdeckungen. Das bestätigt amita Bal aus Pune, die Indiens Junior-Fed-Cup-Team im Tennis coacht. „Wir brauchen ein viel besseres Scoutingsystem“, sagt sie. Denn Sportarten wie Tennis seien kostspielig, der Zugang dadurch sehr limitiert. Wer anfange, brauche nicht nur die nötige finanzielle Rückendeckung, sondern gute Physio-, Kraft- und Konditionstrainer*innen sowie die Ausdauer, am Ball zu bleiben. Die 27-Jährige war selbst aktive Spielerin, bevor sie die Seite wechselte.

„Staatliche Programme in den Schulen könnten helfen, Talente zu finden. Und das nicht einmal nur in Bezug auf Tennis“, meint Bal. Wer erst mit 14 Jahren beschließt, voll ins Tennis einzusteigen, wird es nicht leicht haben. „Besonders in einem Land wie Indien gibt es dann bereits Hunderte, die weiter sind. Ich empfehle, mit acht oder neun Jahren anzufangen und das in Kombination mit zwei oder drei anderen Sportarten in der Woche“, so Bal weiter.

Gute Aussichten auf eine späte Karriere

Ob Jyoti Kumari, die mit ihren 15 Jahren noch jung genug für eine Karriere als Sportlerin wäre, den Eignungstest für die Sportakademie versuchen wird? Die Einladung kam tatsächlich, liegt im Moment aber auf Eis. Jyoti will sich zunächst auf die Schule konzentrieren. Finanzielle Hilfe fließt jedenfalls schon: Die lokalen Behörden bauten für ihre Familie eine Toilette. Außerdem gibt es Gerüchte, dass ihre Geschichte verfilmt werden soll. Der Zufall könnte dann auch bei Jyoti zur Legendenbildung beigetragen haben.

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