Moderner Tanz
Die Form der Dinge, die da kommen

Installationsansicht der Ausstellung, "Artist's Choice: Jérôme Bel/MoMA DanceCompany." 27.-31. Oktober 2016. The Museum of Modern Art, NewYork. Fotografin: Julieta Cervantes. © Digital Image © The Museum of Modern Art/Licensed by SCALA / ArtResource, NY

Das Eingehen von Risiken ist mit Fehlern verbunden. In der Kunst und im künstlerischen Schaffen können Fehler korrigiert oder geändert werden. Hier gibt es die Möglichkeit, Brüche zu gestalten. Das übergeordnete Empfinden besteht darin, die Dissonanz und dazugehörige Fragen als vorherrschende Prinzipien zu erkennen.

Philip Szporer

Der Grundgedanke ist, nach Fehlern nicht bewusst zu suchen oder sie mit Kunstgriffen zu verschleiern. Vielmehr bilden sich eine hinterfragende Einstellung und die Suche nach einer authentischen Stimme als Grundlagen der Erforschung von Unvollkommenheit heraus. Sich die Kraft der Spontaneität zu erschließen und Gelegenheiten – auch Fehler –  kreativ zu nutzen,  das sind zentrale Aspekte im zeitgenössischen Tanz. 

Keine Angst haben, Fehler zu machen

In den späten 1990er-Jahren stellte Lynda Gaudreau, Choreografin für modernen Tanz und Kuratorin, eine Serie von Arbeiten als integralen Bestandteil ihres Projekts Encyclopœdia vor. Sie offenbarte damit die maßgeblichen Fragen, die während ihres Schaffensprozesses aufkamen und bot zugleich einen Einblick in ihr Verständnis von sich als Künstlerin und ihr Verständnis von Kunst. „In meiner Encyclopœdia ist es entscheidend, nicht von der Geisteshaltung eines Labors, eines Forschungslabors, abzuweichen, keine Angst zu haben, Fehler zu machen. – Das ist es, was mich antreibt, andere Ausdrucksformen zu verwenden, darunter Literatur, Video, Fotografie, Film und Installationen“, sagte sie damals. 

Tatsächlich entwickelt sich der kreative Raum rund um Widersprüche, strittige Themen und ungeplante Brüche, sowie um eine Aversion gegen die Vorstellung von „Perfektion“. Das Eintauchen in die Bruchlinien künstlerischen Schaffens ist ein tiefgreifendes Unterfangen. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die Reflexionen von Akram Khan über die Anforderung, Perfektion zu erreichen. Er bevorzugt Fehler, weil sie interessanter sind. In einer Podiumsdiskussion im Anschluss an eine Vorstellung sagte er, dass seine Ausbildung darauf beruhte, sich strikt an seine Aufgaben zu halten. Aber erst wenn diese Maßstäbe gebrochen werden, begönnen die Informationen zu fließen. 

Radikale Innovationen

Die Zusammenarbeit des Choreografen Merce Cunningham mit dem Komponisten John Cage seit den frühen 1950ern hat radikale Neuerungen hervorgebracht, darunter die Umkehr der wechselseitigen Beziehung von Tanz und Musik. Gemeinsam entwickelten die beiden Künstler die Arbeitsmethode der Zufallsverfahren, einen organischen Prozess, der Tanz- und Musikpassagen festlegt und ordnet, darunter auch die Anzahl der Wiederholungen, Anweisungen und der räumlichen Beziehung. Die Zahlen oben sind Paare von Hexagrammen. In diesem Fall korreliert jedes Hexagramm entweder mit einem Solo, Duett, Trio, Quartett, Quintett oder Sextett. Darunter befindet sich ein Schlüssel, der anzeigt, welche Hexagramme welchen Gruppen entsprechen (z.B. Hexagramm 1-11 ist ein Solo, 12-21 ein Duett). Dann hat er unterhalb der Zahlen die Partitur in die Gruppierungen „übersetzt“. Hier beginnt der Tanz mit einem Abschnitt für ein Quartett und einem Duett. Unten steht „throw“ für den Inhalt von Solos u. a. (d. h. das I Ging werfen, um ein Hexagramm zu erhalten, wobei jedes Hexagramm in diesem Fall einer Phrase entspricht). Die Zahlen oben sind Paare von Hexagrammen. In diesem Fall korreliert jedes Hexagramm entweder mit einem Solo, Duett, Trio, Quartett, Quintett oder Sextett. Darunter befindet sich ein Schlüssel, der anzeigt, welche Hexagramme welchen Gruppen entsprechen (z.B. Hexagramm 1-11 ist ein Solo, 12-21 ein Duett). Dann hat er unterhalb der Zahlen die Partitur in die Gruppierungen „übersetzt“. Hier beginnt der Tanz mit einem Abschnitt für ein Quartett und einem Duett. Unten steht „throw“ für den Inhalt von Solos u. a. (d. h. das I Ging werfen, um ein Hexagramm zu erhalten, wobei jedes Hexagramm in diesem Fall einer Phrase entspricht). | © Merce Cunningham Trust, all rights reserved. Wie es oft mit Fehlern geschieht, eröffnete dies neue Möglichkeiten für Cunningham und Cage. Sie schufen sich damit einen idealen Zufluchtsort und veränderten grundlegend die Wahrnehmung von Zusammenarbeit. 

„Ich will neue Dinge tun“

Ein herausragendes Beispiel für die Entwicklung von Fähigkeiten und die Inszenierung choreografischer Abenteuer, bei denen die Künstler Fehler machen dürfen, war Jérôme Bel/MoMA Dance Company im Museum of Modern Art (MoMA) in New York als Teil der Artists’ Choice-Serie des Museums im Jahr 2016. Normalerweise würdigen die Künstler*innen in diesem Programm die Kunstwerke der Museumssammlungen. Jérôme Bel hingegen entschied sich für ein anderes Verfahren: Er ließ 25 MoMA-Mitarbeiter*innen aus verschiedensten Abteilungen wie Verwaltung, Operatives, Finanzen, Bildung und Ausstellungsgestaltung sowie Kuratoren auftreten. Es waren keine professionellen Tänzer*innen und daher überraschte es nicht, dass sie sich alle auf recht unterschiedliche Weise bewegten. Es gab nur drei Gruppenproben. In der Presseerklärung für die Veranstaltung hieß es: „Bel … begann sich für die Beziehung des Museumspersonals zu bestimmten Kunstwerken, zum Museum als Institution und für ihre Beziehung zum Tanz zu interessieren … Das Projekt erkundet das soziale Potenzial von Tanz, um durch gemeinsame Bewegungen flüchtige Gemeinschaften zu schaffen.“ 
 
  • Installations-Ansicht der Ausstellung, "Artist's Choice: Jérôme Bel/MoMA DanceCompany." 27.-31. Oktober2016. The Museum of Modern Art, NewYork. Fotografin: Julieta Cervantes Digital Image © The Museum of Modern Art/Licensed by SCALA / ArtResource, NY
    Auf Zehenspitzen.
  • Installations-Ansicht der Ausstellung, "Artist's Choice: Jérôme Bel/MoMA DanceCompany." 27.-31. Oktober2016. The Museum of Modern Art, NewYork. Fotografin: Julieta Cervantes. Digital Image © The Museum of Modern Art/Licensed by SCALA / ArtResource, NY
    Performance und Publikum
  • Installations-Ansicht der Ausstellung, "Artist's Choice: Jérôme Bel/MoMA DanceCompany." 27.-31. Oktober2016. The Museum of Modern Art, NewYork. Fotografin: Julieta Cervantes. Digital Image © The Museum of Modern Art/Licensed by SCALA / ArtResource, NY
    Liegende Teilnehmer*innen der Performance
  • Installations-Ansicht der Ausstellung, "Artist's Choice: Jérôme Bel/MoMA DanceCompany." 27.-31. Oktober2016. The Museum of Modern Art, NewYork. Fotografin: Julieta Cervantes. Digital Image © The Museum of Modern Art/Licensed by SCALA / ArtResource, NY
    Die Freude am Tanz.
Das Wundersame an der MoMA-Vorstellung war, dass jede Person ihre eigene zweiminütige Tanzchoreografie zu einem ihrer Lieblingsmusikstücke schuf, während der Rest der Gruppe versuchte, zu folgen. Die Betonung liegt auf „versuchte“, denn von niemandem wurde erwartet, dass er oder sie den Tanz erlernt oder Fachkenntnisse darbietet. Kurzum, gutgelaunt teilzunehmen und Fehler zu machen, machte dieses Werk grundlegend demokratisch. Wie ein Teilnehmer an Bels Projekt anmerkte, war es diese Haltung des „lasst uns tanzen“, die es „uns erlaubte, unsere Patzer zu zeigen – mit anderen Worten, all das Bittersüße, was mit dem Menschsein verbunden ist – und es ist genau das, was uns zueinander zieht.“ 

Wie ein Artikel in der New York Times anmerkte, hat Bel keine Angst vorm Scheitern und er schert sich auch nicht um festsitzende Strukturen. „Ich habe kein Interesse daran, ein Museum meiner selbst zu werden“, sagte er. „Ich will neue Dinge tun.“ Seine Herangehensweise an Bewegung weist darauf hin, dass eine solche Art der Inszenierung die Prämisse bekräftigt: Je mehr Risiken man eingeht, desto mehr Freiheit hat man, einen Diskurs loszutreten. 

In der derzeitigen Quarantäne stellen wir fest, dass wir uns in einer Phase zwielichtiger Schachzüge befinden, voller Paradoxien und Widersprüche. Uns ist bewusst geworden, dass Dinge kaputtgehen können, wir überprüfen unsere Vorstellung von „Grenzüberschreitung“ und finden neue Bedeutsamkeit in vorgefertigten Codes des gemeinsamen Tuns von Dingen. In der auf den Kopf gestellten Welt der Pandemie und Massenquarantäne werden wir ermutigt, die Möglichkeiten für Lernen und Wachstum zu erkunden, eine Atmosphäre von gegenseitigem Respekt und Offenheit in unserem Umgang mit anderen zu pflegen und auf kreative Weise neue Wege sozialer Bindungen zu erfinden. Während sich die Tage und Wochen aneinanderreihen, befinden sich die Menschen in einem fortdauernden Zustand der Reflexion, des Abmessens der Möglichkeiten dessen, was vor ihnen liegt. Einst wurde uns gesagt, dass uns Isolation machtlos macht, denn zuvor hatten sich die Menschen allzu leicht daran gewöhnt, dass man zum Arbeiten und zu schöpferischer Tätigkeit mit anderen zusammenkommen muss. Aber jetzt, wo wir die Brüche in unserer Gesellschaftsvision akzeptiert haben und diese Brüche in unseren neoliberalen Entwicklungsnarrativen ganz offen daliegen, werden Misserfolge zu subversiven Katalysatoren.  

In dieser Zeit der geteilten Online-Existenz revidieren sowohl die Öffentlichkeit als auch die Macher ihre Schaffensstrategien und pausieren, um die vielen verschiedenen Weisen in Betracht zu ziehen, wie einzelne Handlungen oder eine Reihe von Handlungen in unserem Gemeinschaftsleben wahrgenommen, beobachtet und beurteilt werden. 
 

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