Plagiat
Fiktive Einträge und Spionagewörter

Plagiat? Illustration: © Amélie Tourangeau

Wie erklärt sich das Vorhandensein eines falschen Eintrags in einer Enzyklopädie, die schließlich autoritativ sein soll?

Vanessa Allnutt

Lillian Virginia Mountweazel entwarf Brunnen, bevor sie sich Anfang der 1960er-Jahre der Fotografie zuwandte. Von Bussen in New York City bis zu Briefkästen im ländlichen Amerika hatte sie ein Auge für ungewöhnliche Blickwinkel. Geboren 1942 in Bangs im US-Bundesstaat Ohio, kam sie im Alter von nur 31 Jahren auf tragische Weise bei einer Explosion ums Leben, als sie für die Zeitschrift Combustibles („Treibstoffe“ – man beachte die Ironie) eine Reportage machte.
 
Wenn Mountweazel als Fotografin heute einen gewissen Bekanntheitsgrad beanspruchen kann, dann liegt das daran, dass sie … niemals existiert hat! Woher kommen also diese Informationsschnipsel, von denen einige gelinde gesagt absurd erscheinen? Der Eintrag findet sich in der vierten Auflage der New Columbia Encyclopedia, 1975 von Columbia University Press herausgegeben.
 
Wie also erklärt man sich die Existenz eines falschen Eintrags in einem solchen Werk, das schließlich autoritativ sein soll? 

Wenn der Fehler gar keiner ist

„Fiktive Einträge“ (im Englischen auch „mountweazels“ genannt) sind selten, aber es gibt sie. Diese absichtlich in Wörterbücher oder Enzyklopädien aufgenommenen Falscheinträge haben den Zweck, Urheberrechtsverletzungen auf die Spur zu kommen. Wenn ein solcher Falscheintrag von einem anderen Verlag nachgedruckt wird, ist es einfacher nachzuweisen, dass es sich in der Tat um eine unrechtmäßige Kopie handelt. Plagiatsvorwürfe sind schwer zu erheben, wenn es um einfache, objektive Tatsachen oder Allgemeinwissen geht. Der Apfel ist eine Frucht des Apfelbaums, ganz gleich, in welchem Lexikon man nachschaut.
  
Ganz anders sieht es bei dem englischen Begriff „esquivalience“ aus, da hätte man Schwierigkeiten, in einem Nachschlagewerk eine Definition zu finden – es sei denn, man besitzt eine der beiden Erstausgaben des New Oxford American Dictionary. Dort ist nachzulesen, dass esquivalience „das absichtliche Vermeiden öffentlicher Verantwortlichkeiten“ („the wilful avoidance of one’s official responsibilities“) bedeutet. 15 Jahre blieb dieses erfundene Wort unbemerkt, bis die Verfasser im Jahr 2015 schließlich die Katze aus dem Sack gelassen haben.
 
Da niemand nach Begriffen oder Stichwörtern suchen kann, die gar nicht existieren, werden diese Falscheinträge als harmlos angesehen, sie sind aber nützlich, um Plagiatoren das Handwerk zu legen. Den Lektoren mangelt es sicherlich nicht an Humor, wenn es darum geht, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen.

Wenn der Fehler in eine Sackgasse führt

Man kann sich fragen, ob Lillian Virginia Mountweazel auch London besucht hat, wo sie doch so weitgereist war und die Friedhöfe von Paris fotografiert hat. Man kann sich sehr gut vorstellen, wie eine solche fiktive Person eine ebenso fiktive imaginäre Straße entlangschlendert, zum Beispiel die Moat Lane im Norden von London, die sich auf den Karten von Tele Atlas findet (und von Google Maps zu einer Zeit übernommen wurde, als der Internetgigant noch die Daten des niederländischen Unternehmens verwendete, allerdings, wie man dazu anmerken muss, auf legale Weise).
 
Absichtliche Fehler finden sich nicht nur in Wörterbüchern und Enzyklopädien, sondern werden manchmal ohne unser Wissen in Straßenkarten eingebaut, sogenannte Fallenstraßen („trap streets“).  Manchmal sind es real existierende Straßen, deren Verlauf nur etwas geändert wurde. Ganz gleich wie, der Zweck ist der gleiche: Urheberrechtsverletzer*innen auf frischer Tat zu ertappen.
 
Aber Vorsicht, diese trap streets sind nicht zwangsläufig rechtlich geschützt. In den USA beispielsweise fallen sie anders als echte Fakten nicht unter das Urheberrecht. Die Reproduktion von fiktiven Fakten zu verbieten, die zusammen mit anderen echten Fakten als echt präsentiert werden, würde den freien Fluss aller echten Informationen verhindern, da man niemals sicher sein könnte, Fakten ohne das Risiko der Urheberrechtsverletzung zu reproduzieren.
 
Daher dienen trap streets vielmehr als eine Art Fingerabdruck, den Verbrecher*innen am Tatort hinterlassen – ein Indiz unter vielen anderen.

Wenn der Fehler zur Strategie gehört

Diese Taktiken gibt es nicht nur im Verlagswesen. 2011 hat Google seinen Konkurrenten Microsoft öffentlich beschuldigt, seine Suchergebnisse zu kopieren.  Zum Nachweis haben die Softwareingenieure in Mountain View hundert sinnlose Suchanfragen von Grund auf neu erstellt und falsche Suchergebnisse damit verknüpft (so führte die Suche nach „hiybbprqag“ auf die Webseite einer Theatergruppe in Los Angeles). Was für eine Überraschung, nach zwei Wochen fanden sich bei Bing die gleichen Suchergebnisse … 
 
Trotz einer recht erdrückenden Beweislast stritt Microsoft die Anschuldigungen von Google ab und warf Google im Gegenzug vor, ihm eine Falle (im Informatikjargon „honeypot trap“ genannt) gestellt zu haben. Auch wenn die Geschichte dann nicht weiterverfolgt wurde, diese absichtlichen Fehler, die Google anschließend korrigierte, haben gewisse fragwürdige Praktiken eines Konkurrenten ans Tageslicht gebracht – Praktiken, die selbst Lillian Virginia Mountweazel zweifelsohne verurteilt hätte.

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