Kunst
„Ich choreografiere gerne Fehler“

Besucher*innen einer Galerie, die moderne Kunstwerke ausstellt Foto (Detail): Mathilde Pée © Unsplash

Wie sollten Künstler*innen mit Fehlern umgehen? Die Illustratorin Emanuelle Dufour und der Performance-Künstler Amitesh Grover diskutieren mit Verena Hütter vom Goethe-Institut Washington darüber, wie Fehler als unerwartete Kraft ein Kunstwerk prägen können. Unsere Chatdebatte beschäftigt sich mit harmlosen Fettnäpfchen und unverzeihlichen Fauxpas in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen.

Emanuelle Dufour, Amitesh Grover und Verena Hütter

Verena Hütter © Kopf & Kragen Verena Hütter (15:02):
Meine Name ist Verena Hütter. Ich arbeite für das Goethe‑Institut in Washington, D.C. und habe in Karlsruhe Kunst studiert. Das Thema Fehler in der Kunst interessiert mich daher ganz besonders.
Amitesh Grover © Amitesh Grover Amitesh Grover (15:03):
Hi, mein Name ist Amitesh Grover. Ich bin Performer, Regisseur, Schriftsteller und Kurator in New Delhi in Indien. Ich werde oft gefragt, was genau ich eigentlich mache. Diese Frage stelle ich mir auch.

Emanuelle Dufour © Lisa Graves Emanuelle Dufour (15:03):
Ich freue mich sehr, euch beide kennenzulernen, Verena und Amitesh. Mein Name ist Emanuelle Dufour, und ich arbeite als Illustratorin und Anthropologin in Montréal (Québec, Kanada). Zurzeit bin ich an verschiedenen Projekten im Bereich Grafik (Comics) und der autochthonen Bildung beteiligt und zudem als Beraterin für Gleichberechtigung, Vielfalt und Inklusion am Collège Ahuntsic in Montréal tätig. 
Verena Hütter © Kopf & Kragen Verena Hütter (15:03):
Hier kommt meine erste Frage an euch: Emanuelle, du lebst in Montréal. Amitesh, du in New Delhi. Wie reagieren Menschen in euren Städten darauf, wenn jemand einen Fehler macht? Mit Ärger? Oder mit Gelassenheit?
Emanuelle Dufour © Lisa Graves Emanuelle Dufour (15:03):
Die Antwort hängt meines Erachtens davon ab, wie man Fehler definiert.
Verena Hütter © Kopf & Kragen Verena Hütter (15:03):
Sagen wir mal, Fehler sind kleine Missgeschicke, die sich in einer Stadt ereignen – im Verkehr, in Zügen, beim Einkaufen und so weiter. 
Emanuelle Dufour © Lisa Graves Emanuelle Dufour (15:04):
In Montréal sind die Menschen in der Regel ausgesprochen gelassen und entspannt. Ich denke, dass sie also in den meisten Fällen keine große Sache aus einem kleineren Fehltritt oder Fehler machen würden, solange er keine schwerwiegenden Folgen hat.

Amitesh Grover © Amitesh Grover Amitesh Grover (15:05):
Bei uns lässt sich der Begriff ‚Fehler‘ nur schwierig definieren, weil es nicht einfach ist, sich auf einen Standard oder ein gängiges Verständnis oder allgemein akzeptierte Handlungs- oder Wahrnehmungsmuster zu einigen. Es gibt verschiedene Wege, um einen bestimmten Moment in Zeit und Raum zu erreichen oder zu verlassen. Die Verkehrssituation ist in Delhi meistens furchtbar, Züge haben immer Verspätung und Einkaufen ist normalerweise ein Alptraum wegen der Menschenmassen. Wo soll ich da nach einem Fehler Ausschau halten?

Emanuelle Dufour © Lisa Graves Emanuelle Dufour (15:06):
Mir geht es da wie dir, Amitesh. Vor unserem Treffen habe ich mir einige formale Definitionen des Wortes ‚Fehler‘ im Französischen und Englischen angeschaut und festgestellt, dass ich den Begriff ganz anders verstanden habe.
Verena Hütter © Kopf & Kragen Verena Hütter (15:06):
Als wir dieses Projekt ins Leben riefen, verbrachten wir viele Tage mit der Frage „Was ist ein Fehler?“ Amitesh, du hast recht: Was einige als Fehler betrachten, kann für andere ein Segen sein.
Amitesh Grover © Amitesh Grover Amitesh Grover (15:07):
Wie unterscheidet sich die Definition des Begriffs im Französischen und Englischen, Emanuelle?


Emanuelle Dufour © Lisa Graves Emanuelle Dufour(15:08):
Ich selbst habe den Begriff ‚Fehler‘ als einen unerwarteten oder ungeplanten Ablauf von Ereignissen verstanden, der nicht der eigentlichen Absicht entspricht. Wenn man es so definiert, bin ich ein großer Fan von Fehlern.
Verena Hütter © Kopf & Kragen Verena Hütter (15:09):
Genau darauf haben wir uns für unser Projekt geeinigt: Es ist wichtig, dass ein Fehler nicht beabsichtigt war.
Lasst uns nun über Kunst sprechen! Ihr seid beide Kunstschaffende. Welche Rolle spielen Fehler in eurer Arbeit?
Amitesh Grover © Amitesh Grover Amitesh Grover (15:10):
Bei manchen meiner Projekte choreografiere ich gerne Fehler. Wie kann ich die Voraussetzungen dafür schaffen, dass Fehler geschehen, dass es zu Irrtümern oder Unterbrechungen kommt? Wie kann ich als Künstler eine Veranstaltung so gestalten, dass sie offen für Zufälle und unerwartete Wendungen ist?
Verena Hütter © Kopf & Kragen Verena Hütter (15:11):
Ein Fehler-Choreograf – großartig! Hast du ein Beispiel für uns?
Amitesh Grover © Amitesh Grover Amitesh Grover (15:11):
Ich habe beispielsweise ein Performance-Projekt entwickelt, bei dem ich sechs Monate lang als ‚falscher Mitarbeiter‘ in einer der größten IT-Firmen Indiens tätig war. Tag für Tag ging ich wie ein normaler Angestellter gekleidet ins Büro und arbeitete mit 20.000 anderen Angestellten auf einem Campus zusammen. Doch während ich lernte, wie ich meinen Job mache und ein guter Angestellter bin, ließ ich klitzekleine Performances zum Thema ‚Nutzlosigkeit‘ einfließen, mit denen ich meine Kolleg*innen um mich herum ansteckte und von ihrer Arbeit ablenkte, um sie so dazu zu bringen, ihre Situation zu hinterfragen.

Emanuelle Dufour © Lisa Graves Emanuelle Dufour (15:12):
WOW! Was für eine großartige Idee! Ich habe in der Tschechischen Republik einen Australier getroffen, der im audiovisuellen Bereich tätig war. Sein Unternehmen hatte eine vollständige Videoreihe auf der Grundlage von Fehlern entwickelt. Nachdem sich sein Team monatelang abgemüht hatte, seinen Kund*innen makellose Produkte anzubieten (beispielsweise mit der Übertragung von Super-8-Filmen auf andere Videogeräte), beschloss das Unternehmen schließlich, die Fehler anzunehmen und zu seinem Markenzeichen zu machen. Von diesem Tag an wies jedes einzelne Produkt einen (geringfügigen) Mangel auf. Wenn eine Übertragung zu gut gelungen war, fügten sie sogar einen Fehler hinzu (beispielsweise durch einen Sprung vor die Leinwand). Mich als junge Künstlerin, die ich seit Jahren mit knapper Reisekasse unterwegs war, hat diese Begegnung in meiner eigenen Vision und Herangehensweise nachhaltig beeinflusst.
Verena Hütter © Kopf & Kragen Verena Hütter (15:15):
Welche Rolle spielen Fehler in deiner eigenen Arbeit?
 
Emanuelle Dufour © Lisa Graves Emanuelle Dufour (15:16):
Für meine Arbeit ist es ganz entscheidend, dass ich Raum für Fehler und Überraschungen lasse. Ich habe mich selbst schon immer als etwas merkwürdig, asymmetrisch oder schräg wahrgenommen. Meine Selbstinszenierung ging immer knapp am Ziel vorbei, meine Haare waren immer unfrisiert, meine Kleidung war eigenartigerweise immer voller Löcher und so weiter. Daher war es für mich eine große Erleichterung, als ich mit Anfang 20 begriff, dass es in Ordnung ist, einfach mal loszulassen und organische, unvollkommene oder sogar zufällige Ergebnisse zu akzeptieren. Seitdem ist mir bewusst, dass alles an mir und meiner Arbeit (vielleicht mit Ausnahme meiner wissenschaftlichen Berichte) auf Zufällen beruht.

Amitesh Grover © Amitesh Grover Amitesh Grover (15:17):
Ich arbeite viel mit Sprache und Körper und freue mich über Übersetzungsfehler zwischen Sprachen und über ‚Mis-Gestures‘ (meine eigene Wortschöpfung, ‚Gestenfehler‘) in der interkulturellen Kommunikation. Ein Beispiel: Das englische Wort ‚irony‘ wird immer falsch in Hindi übersetzt und der Begriff dadurch falsch verstanden, was an sich natürlich eine Ironie ist. Allerdings stellt sich in diesem Zusammenhang die interessante Frage, ob sich das Konzept der Ironie in der Hindu‑Kultur nachvollziehen lässt, wenn es kein Wort dafür gibt.
Verena Hütter © Kopf & Kragen Verena Hütter (15:18):
Ironie lässt sich so gut wie nicht übersetzen – eine große Fehlerquelle.
 
Emanuelle Dufour © Lisa Graves Emanuelle Dufour (15:19):
Ich selbst arbeite mit Tintenklecksen und zufälligen Formen. In einer meiner Graphic Novels geht es um eine Reihe von Begegnungen und Möglichkeiten (von denen die meisten ungeplant sind). Meistens arbeite ich mit Collage-Techniken und verfolge einen intuitiven Ansatz. Ich bin immer viel zufriedener mit meiner Arbeit, wenn sie nicht nach Plan verläuft, sondern Zufälle einschließt.
Verena Hütter © Kopf & Kragen Verena Hütter (15:20):
Aber du musst als Künstlerin in der Lage sein, diese Zufälle zu erkennen. Meine Definition eines Künstlers: Künstler*innen sind in der Lage, einen Fehler, der während des Arbeitsprozesses passiert, zu erkennen. Sie heben den Fehler bewusst hervor und machen davon ausgehend weiter. Künstler*innen verwandeln unbewusste Fehler in bewusste Kunst. Stimmt ihr dem zu? 
Emanuelle Dufour © Lisa Graves Emanuelle Dufour (15:20):
Das ist wunderschön. Und ganz anders als das, was an so vielen Kunstschulen gelehrt wird. Einige Jahre lange habe ich versucht, auch die wissenschaftlichen Aspekte meiner Arbeit (im Bereich der Anthropologie) von derartigen Vorstellungen leiten zu lassen und organische, künstlerische und intuitive Prozesse einfließen zu lassen.

Amitesh Grover © Amitesh Grover Amitesh Grover (15:21):
Du hast recht, Verena – als Künstler muss ich meiner eigenen Wahrnehmung von Fehlern vertrauen. Ich muss das Lebendige in einem Fehler sehen und das Lustige, Spielerische und Unheilvolle an Fehlern verstehen. Ich muss den Fehler sich entfalten und Form annehmen lassen und das ganze Ausmaß seiner Fehlerhaftigkeit erkennen. Ich muss mein ganzes Vertrauen in den Fehler setzen.

Emanuelle Dufour © Lisa Graves Emanuelle Dufour (15:22):
Diese Philosophie lässt sich auch auf das Leben im Allgemeinen übertragen. Gesellschaften müssen lernen zu spielen anstatt ständig alles kontrollieren zu wollen. Wir müssen uns von Zwängen befreien und Raum schaffen. Irgendwie denke ich, dass es so etwas wie Fehler gar nicht gibt. Es gibt Überraschungen ... und es gibt Verfehlungen. Schwerwiegende menschliche Verfehlungen. Doch diese Verfehlungen passieren in der Regel nicht zufällig. Sie stehen normalerweise in einem größeren und tieferliegenden Zusammenhang.

Amitesh Grover © Amitesh Grover Amitesh Grover (15:22):
Wie wunderbar, in Fehlern die Zeichen und Klänge von etwas Tieferliegendem zu erkennen. Bei der bewussten Gestaltung geht es um Kontrolle. Die Absicht wird durch Fehler demontiert. Absicht kann etwas Tyrannisches haben, Fehler bisweilen etwas allzu Anarchisches. Ich stelle mir die beiden gern als künstlerisches Tandem vor. Es geht darum, welche Rolle ich ‚Prozessen‘ und ‚Zufällen‘ in meiner künstlerischen Gestaltung zuteile.
Verena Hütter © Kopf & Kragen Verena Hütter (15:23):
Möchtest du mit deiner Kunst die Dinge verändern?
Amitesh Grover © Amitesh Grover Amitesh Grover (15:24): 
Verena – ja, die Realität ist immer enttäuschend.



Emanuelle Dufour © Lisa Graves Emanuelle Dufour (15:25):
In den vergangenen Jahren habe ich viel mit autochthonen Jugendlichen gearbeitet, vor allem im Bereich der bildenden Kunst. Mein Ziel ist es, zum einen falsche Vorstellungen von den Lebenswelten der ‚First Nations‘ auszuräumen und das Bewusstsein für diese Realitäten zu stärken, zum anderen aber auch die gesamte Gesellschaft dazu zu bewegen, über dieses Thema nachzudenken und in den Dialog zu treten.

Amitesh Grover © Amitesh Grover Amitesh Grover (15:26):
Ich maße mir nicht an davon auszugehen, dass ich mit meiner Kunst etwas verändern kann. Meine Hoffnung ist es, dass ich durch die Einbeziehung all dessen, was ausgeschlossen, aussortiert, unsichtbar gemacht oder an den Rand gedrängt wurde, die ‚Fehler‘ zurück ins System holen und auf diese Weise kleine Beben erzeugen kann. Ich habe drei Jahre lang trauernde Menschen begleitet, um in ein Gespräch darüber zu kommen, wie wir in unseren Gesellschaften Verlust zum Ausdruck bringen, erinnern und teilen.

Emanuelle Dufour © Lisa Graves Emanuelle Dufour (15:27):
Jemand hat einmal gesagt, dass es sinnlos sei, eine Wand zu bauen, ohne ihre Schäden auszubessern. Meines Erachtens kann Kunst bei der Suche nach den Löchern behilflich sein. Die Veränderungen selbst müssen jedoch durch individuelles oder kollektives Engagement bewirkt werden.

Amitesh Grover © Amitesh Grover Amitesh Grover (15:30):
Außerdem drängt sich mir der Eindruck auf, dass die Vorstellung eines Fehlers unerträglich wird, solange wir ständig vom Gespenst der Utopie verfolgt werden.  


Emanuelle Dufour © Lisa Graves Emanuelle Dufour (15:31):
Was ist Utopie für dich, Amitesh?



Amitesh Grover © Amitesh Grover Amitesh Grover (15:32):
Die Idee von der Utopie – von dem gelobten Land, das wir erreichen müssen – bietet eine faszinierende Möglichkeit, uns eine Vorstellung von der Zukunft zu machen.


Emanuelle Dufour © Lisa Graves Emanuelle Dufour (15:35):
Welche Möglichkeiten warten noch auf uns dort draußen? Für mich scheint das Hoffen und Streben nach einem besseren Ort der einzig mögliche Weg in eine bessere Zukunft zu sein – sofern dies auch mit Handeln und Engagement verbunden ist.

Amitesh Grover © Amitesh Grover Amitesh Grover (15:38):
Offenbar sind die Utopie und die Idee der Katastrophe ein Bündnis miteinander eingegangen – und das gesamte 20. Jahrhundert ist möglicherweise sogar ein Beleg für diese Verbindung. 


Emanuelle Dufour © Lisa Graves Emanuelle Dufour (15:40):
Hahaha, ich glaube, hier kommt die paradoxe Seite an mir zum Vorschein, die mit der Planung für eine bessere Zukunft beginnen möchte (in der es keine schwerwiegenden Fehler gibt).

Amitesh Grover © Amitesh Grover Amitesh Grover (15:42):
Haha, mir geht es genauso!
Verena Hütter © Kopf & Kragen Verena Hütter (15:45):
Das Gespräch mit euch hat mir sehr viel Spaß gemacht, vielen Dank. Macht bitte weiter wundervolle Fehler!
Amitesh Grover © Amitesh Grover Amitesh Grover (15:46):
Ich hätte meinen Abend hier im tristen Delhi nicht besser verbringen können, als mit euch beiden wunderbaren Menschen zu sprechen. Vielen Dank für dieses herrliche Gespräch!

Emanuelle Dufour © Lisa Graves Emanuelle Dufour (15:47):
Vielen Dank euch beiden! Ich wünsche euch viele weitere großartige Fehler und Überraschungen.

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