Nov. 2016

Psychische Gesundheit in Ägypten  Noch ein langer Weg

A Health Blog - Exercise Plays Vital Role Maintaining Brain Health Foto (Ausschnitt): © Colourbox.de

Solltest du jemals einen Minibus nach Abbaseya nehmen wollen, musst du nicht jedes vorbeifahrende Fahrzeug anhalten und den Fahrer fragen, ob er dorthin auf den Weg ist – es geht viel einfacher! Halte nach diesem einen bestimmten Signal Ausschau: Das Kreisen des Zeigefingers neben der Schläfe. Wir alle kennen diese universelle Handbewegung für „Verrückt!“, „Loco!“, „Crazy!“ Was hat das aber nun mit Abbaseya zu tun? Nun ja, hier befindet sich die größte psychiatrische Klinik Ägyptens und des Nahen Ostens, das Abbaseya Mental Hospital. So also sieht der durchschnittliche Ägypter das Thema psychische Gesundheit…

Schon im Jahr 1944, also lange vor den meisten anderen afrikanischen und arabischen Ländern, führte Ägypten Gesetze und Vorschriften zu Fragen der psychischen Gesundheit ein. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte Nachricht jedoch ist, dass diese Gesetze seitdem keinerlei Neuerung erfahren haben und das wird Ägypten heutzutage zum Problem. So zum Beispiel bei der Finanzierung von entsprechenden Gesundheitsleistungen: Nur etwa 2 % aller Gesundheitsausgaben fließen in Ägypten in das geistige und seelische Wohlergehen seiner Bürger, davon wiederum 59 % in die Finanzierung staatlicher psychiatrischer Kliniken. Das führt uns zum nächsten Punkt: die Verteilung dieser Kliniken im Land. Es gibt 15 psychiatrische Anstalten in Ägypten; von den fünf größten sind allein drei in der Hauptstadt (Abbaseya, Khanka und Heliopolis), eine in Helwan und eine weitere in Alexandria, also in zwei weiteren großen Städten des Landes. Die restlichen zehn befinden sich in vorwiegend ländlichen Gegenden. Diese ungleichmäßige Verteilung von Kliniken für psychiatrische und psychologische Betreuung bedeutet eine dramatische Unterversorgung vor allem ländlicher Gebiete mit Kliniken und zwar in allen 24 Gouvernements Ägyptens. In fünf Gouvernements, nämlich Matrouh, Rotes Meer, Neues Tal, Nordsinai und Südsinai, ist kaum eine Einrichtung für die psychische Gesundheitsversorgung vorhanden. 

Hinsichtlich der Verfügbarkeit von Betten für die stationäre Behandlung ist zu sagen, dass sich der Großteil der Betten, nämlich 81 %, in den eben genannten 15 Kliniken befinden. Laut Statistiken des WHO stehen für 100,000 Personen jeweils durchschnittlich 9,12 Betten zur Verfügung. Das lässt ahnen, wie groß die Belastung für die Kliniken ist. Das Bild ist etwas optimistischer für ambulante Patienten, denn immerhin haben 62 staatliche ambulante Einrichtungen genügend Kapazität, um sich um mehr als 82 % der psychiatrischen Patienten zu kümmern.

Neben dem Mangel an Einrichtungen und Betten ist auch die Zahl von Beschäftigten im Bereich psychische Gesundheit unzureichend. Auf jeweils 100,000 Einwohner kommen im Durchschnitt nur 4,98 Fachkräfte, genauer gesagt 1,44 Psychiater/innen, 2,6 Krankenpfleger/innen, 0,27 Sozialarbeiter/innen, 0,2 Ärzte anderer Fachrichtungen, lediglich 0,11 Psycholog/inn/en und 0,3 andere psychiatrische Mitarbeiter/innen. Die Mehrheit der eben genannten Fachkräfte, etwa 73 %, arbeiten zwar in den großen psychiatrischen Kliniken, können dort jedoch dem großen Zufluss an Patienten nicht gerecht werden, da für jeden Patienten nur durchschnitt 0,07 Psychiater/innen und 0,27 Krankenpfleger bereitstehen. Immerhin gibt es auch eine gute Nachricht: Psychopharmaka gibt es in all diesen Institutionen zur Genüge! In Einrichtungen der medizinischen Grundversorgung allerdings sind sie nicht zu bekommen, obwohl die dort tätigen Ärzte solche Medikamente ebenfalls verschreiben dürfen.

Auch in Sachen Zusammenarbeit mit anderen Sektoren außerhalb des Gesundheitssystems hat Ägyptens zuständiges Generalsekretariat für geistige Gesundheit noch einen langen Weg vor sich. Ein Blick in den Bildungssektor verrät zum Beispiel, dass zwar 97 % aller Grund- und Sekundarschulen eine medizinische Fachkraft haben, aber nur etwa 1 % davon psychologisch oder psychiatrisch geschult ist. Weniger als 20 % der Schulen nehmen an Maßnahmen teil, die aktiv die psychische Gesundheit der Schüler und Angestellten fördern und Störungen vereiteln sollen. Auch auf dem Arbeitsmarkt gibt es schlechte Nachrichten: Weder sind Arbeitgeber dazu verpflichtet, eine bestimmte Anzahl an Menschen mit besonderen physischen oder geistigen Bedürfnissen einzustellen, noch bietet das Gesetz Schutz für Menschen mit psychischen Störungen vor Diskriminierung (z. B. in Form niedrigerer Löhne). Finanzielle Unterstützung steht ihnen aber immerhin über die Sozialversicherung zu, die die nötige Behandlung und Medikation abdeckt. 33 % aller Empfänger von Sozialhilfe erhalten diese aufgrund des Zustands ihrer psychischen Gesundheit. Ganz ohne psychologische und psychiatrische Betreuung müssen Menschen im Strafvollzug auskommen. Polizisten nehmen an regelmäßigen Weiterbildungen zur geistigen Gesundheitsfürsorge teil, nicht aber Richter und Anwälte. Im Vergleich zu anderen Bereichen ist das bestehende Netzwerk für die Aufklärung der Menschen (durch NGOs zum Beispiel) über die Bedeutung psychischer Gesundheit noch immer wenig effizient, was vor allem mit den schlechten Beziehungen dieses Sektors zu anderen bereits genannten Sektoren zu tun hat. Schließlich lässt sich auch in der psychischen Gesundheitsforschung wenig Positives vermerken, bedenkt man, dass sich nur etwas 4 % aller Publikationen im Land zum Thema Gesundheit mit der Psyche beschäftigen.

Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass alle genannten Daten aus dem aktuellsten  Bericht zur geistigen Gesundheit in Ägypten stammen – aus dem Jahr 2006 (siehe dazu die Seite der Weltgesundheitsorganisation: World Health Organization – „Assessment Instrument for Mental Health Systems“). Sie geben Einblick in die Formalitäten, die offiziellen Probleme im Bereich psychische Gesundheit in Ägypten. Aber was ist mit all den inoffiziellen Problemen? Wie nehmen die Ägypter solche Krankheiten und Störungen wahr, wie gehen sie damit um? Um Namen wie „Abbaseya“ und „El Saray El Safra“, zweier psychiatrischer Kliniken, ranken sich die unglaublichsten Geschichten; sie lassen die Vorstellung der Leute geradezu überlaufen. Psychisch instabile Menschen werden als Gefahr angesehen, als minderwertig, als menschliche Manifestationen der Wut Gottes in unserer Gesellschaft, sie werden beleidigt und beschimpft. Manche Menschen gehen sogar so weit zu behaupten, Menschen mit psychischen Störungen seien vom Teufel besessen. Manchmal treiben Schande und Scham die Menschen dazu, Mitglieder ihrer eigenen Familie einfach im Stich zu lassen, weil diese unter einer Störung leiden. Wie oft hört man die Klagen von Mitarbeitern in Psychiatrien, dass Patienten die Klinik nicht wieder verlassen – nicht etwa, weil sie noch krank sind, sondern weil Familie und Gesellschaft sie einfach nicht akzeptieren können. Also werden sie einfach dortbehalten, als wären sie eine Krankheit, deren Ausbreitung man verhindern will! Auf der anderen Seite beginnen viele Patienten, das Krankenhaus als ihr Zuhause anzusehen. Sie haben furchtbare Angst, es zu verlassen, weil sie wissen, dass draußen nur Ausgrenzung und Leid auf sie warten. Diesen Menschen geht es noch verhältnismäßig gut, denn immerhin erhalten sie irgendeine Form der Behandlung. Es gibt andere, die zu unzähligen Besuchen bei traditionellen und religiösen Heilern gehen, ehe sie sich, wenn die erhoffte Besserung ausbleibt, vielleicht doch entschließen, der Wissenschaft eine Chance zu geben. Eine Studie von A. Okasha am Universitätsklinikum Kairo hat aufgedeckt, dass 60 % aller dortigen ambulanten Patienten aus sozioökonomisch armen Verhältnissen erst traditionelle Heiler aufgesucht haben, ehe sie zum Psychiater gegangen sind. Ehrlich gesagt frage ich mich, wer hier dringender eingewiesen werden muss: ein Mensch mit psychischer Störung oder jemand, der all diesen rückschrittlich-traditionellen Quatsch glaubt! Nicht immer liegt es an der finanziellen Situation und Bildung; viele wohlhabende, gebildete Menschen sind ähnlich ignorant und intolerant.

Wenn wir gerade über Arm und Reich sprechen: Das Nebeneinander von Privatkliniken und staatlichen Krankenhäusern ist eine weitere Problematik. Gerade kommt mir eine Karikatur in den Sinn, die ich vor kurzem gesehen habe und die das Ganze auf den Punkt bringt: Ein Mann mit umgestülpten Hosentaschen und finsterem Gesichtsausdruck betritt eine Klinik. Dort sitzt eine Krankenschwester am Empfang und über ihr hängt ein Schild, „Untersuchung 200 L.E.“. Der Mann sieht das Schild und denkt: „Wenn ich 200 L.E. hätte, warum wäre ich dann hier?“ Mehr muss man nicht sagen. Die soziale Polarisierung in diesem Land hat nichts unberührt gelassen. Natürlich kannst du eine vermutlich gute psychiatrische Behandlung bekommen – wenn du sie denn bezahlen kannst. Du musst dich entscheiden: Verlierst du deine Gesundheit oder dein Geld? Und wenn die Behandlung nicht hilft? Dann hast du eben beides verloren.

Eine weitere unübersehbare Katastrophe ist die Tatsache, dass in der Apotheke nie jemand nach einem Rezept fragt. Sagen wir mal, du gehst in die Apotheke, kaufst eine Packung Xanax, gehst nach Hause und im nächsten Moment findet deine Familie deinen leblosen Körper! Die Anzahl der Selbstmorde in Kairo liegt bei 38,5 pro 100,000 Personen. Und was, glaubst du, ist mit über 80 % die am häufigsten verwendete Methode? Richtig, die Tablettenüberdosis. Es ist nicht nur Haschisch, das dich umbringen kann. Wenn man den Bürgern Ägyptens schon nicht genügend psychologische und psychiatrische Versorgung zur Verfügung stellt, dann wäre es doch wohl das Mindeste Gesetze zu erlassen, die es schwieriger machen an Tabletten zu gelangen und sich damit umzubringen.

Im Bereich der psychischen Gesundheit in Ägypten gibt es einen wahren Teufelskreis. Zwei Seiten bedingen sich hier gegenseitig und schaffen so die oben genannten Probleme: die offizielle Seite mit ihren politischen und legislativen Mängeln, und die inoffizielle Seite, also die Wahrnehmung der Menschen und ihr Umgang mit psychischen Störungen – als wäre eine Seite nicht schon schlimm genug. Immer wenn sich eine Seite bessert, wird die andere schlimmer. Fortschritt kann es aber nur dann geben, wenn er auf beiden Seiten gleichzeitig geschieht. Mir persönlich kommt das schizophren vor – kein Wunder, dass das die am häufigsten diagnostizierte Störung in ägyptischen Psychiatrien ist.