Spurensuche in Wien  Die Kolonie im Kopf

Straßenszene in Tianjin
Straßenszene in Tianjin © Charl Folscher

Österreichs Kolonialgeschichte gilt gemeinhin als unbedeutend und ist in der Bevölkerung weitgehend unbekannt. Auch unsere Autorin war überrascht, als sie auf einer Reise in die ostchinesische Hafenstadt Tianjin erfuhr, dass Österreich hier einst ein Stück Land besessen hatte. Was ist aus dieser Zeit geblieben? Eine Spurensuche in Wien.

Der Wind pfeift uns um die Ohren. Kein Wunder, schließlich stehen wir stehen ganz oben auf einem Hochhaus. Die Sonne scheint und oberhalb der leichten Smogschicht kann man sogar den blauen Himmel sehen.

Unverputzte Betonbalken kreuzen über unseren Köpfen und deuten eine letzte Etage an, die nie fertiggestellt wurde. Die brusthohe Mauer an den Außenrändern dieser zufälligen Terrasse ist der einzige Grund, warum wir uns hier oben nicht nur bäuchlings kriechend bewegen. In meinen Träumen stürze ich manchmal von Hochhäusern. Wach trete ich dennoch an die Mauer heran und lehne mich vor. In einem rechteckigen Innenhof sind abertausende jener Leihfahrräder aneinander geschlichtet, die hier in China so beliebt sind. Orange, gelbe, grüne, blaue. Gegenüber streckt sich ein Wolkenkratzer kraft seiner 65 Stockwerke in die Höhe; das Tianjin Modern City Office Center. In den Scheiben der ersten vierzig Etagen spiegelt sich ein Sportplatz, das sommerliche Grün der Bäume und dahinter der Rest der Stadt – Tianjin, so weit das Auge reicht.

Weniger als eine Stunde mit dem Hochgeschwindigkeitszug von Peking entfernt liegt diese Hafenstadt, eine Megastadt wie man in den Neunzigern gesagt hätte, mit beinahe doppelt so vielen Einwohnern wie mein Heimatland. Und hier soll Österreich eine Kolonie besessen haben? Bevor meine Freund*innen und ich beschlossen hatten, an diesem verlängerten Wochenende einen Kurztrip nach Tianjin und Qingdao zu machen, wusste ich nicht mal, dass diese Stadt existiert. Geschweige denn, welche dunkle Vergangenheit mein Österrreich mit diesem Ort verbindet. Mein Blick streift über die Stadt, die sich in allen Himmelsrichtungen bis zum Horizont erstreckt und ich weiß, dass das mulmige Gefühl in meiner Magengruben nicht nur daher rührt, dass ich über einem 150 Meter tiefen Abgrund lehne.

Obwohl die Kolonialbestrebungen der Monarchie nicht sehr erfolgreich waren, muss man sagen: Die geistigen Begleiterscheinungen sind voll da. Und wenn man diese aufarbeiten will, muss man einsehen, dass sie mit der Eingliederung Österreichs in das koloniale System zusammenhängen.

Walter Sauer, Historiker

Zurück in Wien rufe ich Walter Sauer an. Er ist Geschichtsprofessor an der Universität Wien und befasst sich mit dem Thema Kolonialismus und Habsburgermonarchie sowie der Geschichte Afrikas. Ich habe selbst im Rahmen meines Politikwissenschaftsstudiums einige Semester Geschichte studiert. Und auch journalistisch habe ich mich mit dem europäischen – speziell dem belgischen – Kolonialismus befasst. Dass mir dabei das k.u.k  Konzessionsgebiet in Tianjin als eines der wenigen kolonialen Projekte Österreichs niemals untergekommen ist, macht mich stutzig. Hatte Österreich seine koloniale Agenda nicht nach ein paar missglückten Eroberungsversuchen an der afrikanischen Ostküste und im indischen Ozean aufgegeben?

Mit dieser Wissenslücke bin ich bestimmt nicht alleine, denke ich. Und möchte von Walter Sauer wissen, warum ich eigentlich nichts über Tianjin weiß. „Die herrschende Lehre ist: Österreich hatte mit dem Kolonialismus nichts zu tun.“ Er erklärt mir, dass Österreich seine koloniale Vergangenheit nach dem zweiten Weltkrieg erst mal verleugnet hat. Und zwar aus zwei strategischen Motiven: Einerseits hatte man sich vor dem Anschluss an Nazideutschland 1938 gerne damit gerühmt, dass das Habsburger Reich vorbildhaft für den deutschen Kolonialismus gewesen sei und somit auch den Aufbau des nationalsozialistischen Deutschen Reiches beflügelt hätte. Eine These, die man nach dem Krieg schleunigst gegen die Opferthese auszutauschen gedachte, deshalb galt es, sie in der Mottenkiste der Geschichte zu verstauen. Andererseits war eine weiße Weste in Bezug auf den Kolonialismus hilfreich, als es in den 1970er Jahren darum ging, Beziehungen zu den neuen, unabhängigen Staaten in Asien und Afrika aufzubauen. „Dieser Teil unserer Geschichte ist in der Bevölkerung also ziemlich wenig bekannt.“   © KHM-Museumsverband Ich bin erstaunt. Und was ist von dieser Zeit geblieben? Was erinnert an das österreichische Konzessionsgebiet in Tianjin und die Entwicklungen, die dazu führten? Das moderne Wiener Stadtbild zeigt keine Indizien darauf.

Die Austro-Chinesische Community mit ihren rund 30.000 Menschen ist gut in die Mehrheitsgesellschaft integriert, sie ist als Gruppe in der Öffentlichkeit wenig sichtbar. Ein wenig China in Wien entdecke ich in der Nähe des Naschmarktes im 5. Bezirk. Rund um den 350 Jahre alten Lebensmittelmarkt haben sich eine Handvoll chinesischer Restaurants und Geschäfte angesiedelt. An einer grauen Hausmauer ist ein Schablonendruck mit blauer Farbe an die Wand gesprayt. 中國城 steht da , China Town, und daneben: „Wien 5“. Eine minimale Intervention, die gewiss nichts mit Tianjin zu tun hat.

In den Museen verläuft meine Suche schon besser. Im Weltmuseum Wien finde ich kolorierte chinesische Holzschnitte, die den Verlauf des Boxerkrieges zeigen, an dessen Ende 1901 das nur rund 60 Hektar große Konzessionsgebiet Österreichs in Tianjin steht. Weniger als ein Quadratkilometer gepachtetes Land, eine Minikolonie, als Belohnung dafür, dass die k.u.k Kriegsmarine sich gemeinsam mit Japan, Russland, den USA, dem Vereinigten Königreich, dem Deutschen Reich sowie Frankreich und Italien an der Niederschlagung eines Aufstandes von Einheimischen – den sogenannten Boxern - beteiligt hatte. Deren Attacken auf die ausländischen Gesandten gelten als offizieller Kriegsauslöser.

Die Holzschnitte zeigen die Ankunft der internationalen Flotten am Fort Taku vor Tianjin. Sie zeigen die Kanonenfeuer von beiden Seiten und Leichen, die im Wasser treiben. Sie zeigen auch, wie 1901, nach einem Jahr der Kämpfe, ein Friedensvertrag beschlossen wurde, der das ungleiche Machtverhältnis zugunsten der ausländischen Invasoren aufrechterhält. Was die Kunstwerke nicht zeigen, ist das, was dem Boxerkrieg vorausgegangen war. Die Opiumkriege, die China zur Öffnung seiner Häfen zwangen. Die christlichen Missionierungen, die durch Günstlingspolitik zugunsten christlicher Chinesinnen und Chinesen neue Ungleichheiten innerhalb der Bevölkerung schufen. Wie aus wirtschaftlichem Kalkül ein großer Teil der chinesischen Bevölkerung in die Opium-Abhängigkeit getrieben wurde. Und wie die ausländischen Mächte ihre militärische Überlegenheit dazu nutzten, ökonomische Vorteile mittels „ungleicher Verträge“ zu institutionalisieren.

Das zeigen die Holzschnitte nicht, aber eine Fahne, die ich im Archiv des Museums finde. Sie ist rot, die Farbe wirkt hektisch auf den Stoff gekleckst, verschmiert, fast wie Blut. In chinesischen Schriftzeichen steht darauf "Unterstützt die Qing- Dynastie, vernichtet die Fremden". Es ist das alte Spiel, das die Menschheit so perfekt beherrscht: Wer Hass sät, erntet Hass.   © KHM-Museumsverband Ich lasse das Museum hinter mir. Gedanklich kehre ich ohnehin immer wieder zur gleichen Frage zurück: Wieso überrascht es mich so sehr, nichts von Österreichs Mini-Kolonie gewusst zu haben? Schließlich war sie klein und bestand nur für die Jahre zwischen 1901 und 1917. Vielleicht ist es wirklich vernachlässigbares Wissen, denke ich.

Doch wenn ich ehrlich bin, war ich wohl froh, dass sich Österreich beim Thema Kolonialismus ausnahmsweise nichts zu Schulden hatte kommen lassen. Ich äußere diesen Gedanken gegenüber dem Geschichtsprofessor Walter Sauer. Er lacht auf: „Ja, da haben Sie es!“ Die österreichische Verleugnungsstrategie hat also ihren Zweck erfüllt. Ob der Kolonialismus denn Spuren hinterlassen habe in Wien, möchte ich von ihm wissen. Sauer bejaht. Aber seine Antwort fällt anders aus, als ich erwartet hätte. Denn in Wien halten keine Straßennamen her, um den Kolonialismus zu heroisieren, wie in Berlin etwa die Takustraße, die an jene Forts vor Tianjin erinnert, die von deutschen Kanonenbooten zerschossen wurden. Anders als in Brüssel rechtfertigen in Wien auch keine Statuen in heldenhaften Possen die Gräueltaten der Kolonialherren, die sie abbilden.

Die Spuren, die der Europäische Kolonialismus in Wien hinterlassen hat, sind Großteils unsichtbar. „Koloniale Mindsets“ nennt es Walter Sauer. Gemeint ist das Überlegenheitsgefühl des Westens gegenüber den anderen, die als unzivilisiert, kultur- und geschichtslos abgewertet wurden. In letzter Konsequenz äußert sich dieses Gedankengut in Rassismus. „Obwohl die Kolonialbestrebungen der Monarchie nicht sehr erfolgreich waren, muss man sagen: Die geistigen Begleiterscheinungen sind voll da. Und wenn man diese aufarbeiten will, muss man einsehen, dass sie mit der Eingliederung Österreichs in das koloniale System zusammenhängen.“

Das macht die Sache klarer, aber leider um nichts einfacher. Denn was unsichtbar ist, ist auch schwer greifbar. Wie also beginnen mit der Aufarbeitung eines Themas, das im kollektiven Bewusstsein praktisch inexistent ist? Wie die Kolonie in unseren Köpfen befreien? Ich lege auf und suche in der Universitätsbibliothek nach einem Buch über den Einsatz der k.u.k Kriegsmarine in Tianjin, das mir Professor Sauer empfohlen hat. Und während ich auf den „Reservieren“-Button klicke, glaube ich, einen Teil meiner Frage schon beantwortet zu haben. Womit beginnen? Damit, meine Geschichte zu lernen. Und die der anderen.
 

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