24. Februar 2022 „Nie Wieder – Nirgends“

Ruinen einer Mühle aus rotem Backstein, bei der die Fenster und das Dach fehlen.
Ein Blick auf die Ruinen der Gerhardt-Dampfmühle, die Teil des Museumsreservats der Schlacht von Stalingrad ist. Sie wurde Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut, während der Schlacht um Stalingrad im Zweiten Weltkrieg teilweise zerstört und als Erinnerung an den Krieg nie repariert. | Foto (Detail): Dmitry Rogulin © picture alliance / dpa / TASS

Kriege hat es im Lauf der Zeit auf der gesamten Welt immer wieder gegeben. Aber wie der Autor und Filmemacher Ruchir Joshi aufzeigt, hat der jüngste Krieg in der Ukraine weltweit Länder alarmiert und Maßnahmen ausgelöst, etwas, das es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gegeben hat. Wir sind die Spezies, die unablässig Bombenterror gegen sich selbst verübt.

Als der russische Autor Wassili Grossman im September 1942 die Stadt Stalingrad erreichte, um für seine Zeitung vom Krieg zu berichten, waren große Teile der Stadt bereits von der Luftwaffe in Schutt und Asche gelegt worden. Die Luftangriffe wurden von Wolfram von Richthofen kommandiert, demselben Mann, der im Spanischen Bürgerkrieg (1936–1939) die Bombardierung von Zivilist*innen durch die Nazi-Luftstreitkräfte in Guernica und später die Zerstörung Warschaus aus der Luft (1944) beaufsichtigt hatte. In seinem Artikel über Grossman für die Zeitschrift The New Yorker zitiert Keith Gessen aus den Kriegstagebüchern des großen Schriftstellers:

„Stalingrad ist niedergebrannt. Stalingrad liegt in Asche. Es ist tot. Die Menschen sind in den Kellern. Alles ist ausgebrannt. Die heißen Mauern der Gebäude sind wie die Leichen von Menschen, die in der schrecklichen Hitze gestorben und noch nicht ausgekühlt sind ... Kinder wandern umher, man sieht viele lachende Gesichter. Viele Menschen sind halb wahnsinnig.“

Stalingrad, wie wir wissen, stirbt faktisch nicht völlig. Stränge und Bruchstücke der Stadt halten durch Blut und Feuer hindurch zusammen und sie wird als der Ort bekannt, an dem die Naziflut in Europa zum ersten Mal zurückgeschlagen wird. Nach dem Krieg regenerieren sich die ausgebombten Städte: Warschau und Rotterdam, Stalingrad und Leningrad, Dresden und Hamburg, Hiroshima und Nagasaki. Guernica erholt sich ebenfalls und wird wieder zu einer kleinen baskischen Stadt, aber ihr Name entwickelt – wie Stalingrad – ein Eigenleben, wird Teil eines Weltvokabulars. Weniger als 300 Menschen mögen in Guernica getötet worden sein, aber es gilt als das erste Mal, dass eine moderne Luftwaffe eine Stadt bewusst mit der Absicht bombardierte, hilflose Zivilpersonen zu ermorden und Wellen des Terrors in andere Städte schwappen zu lassen.

Tödliche menschengemachte Stürme

Von Richthofen war nicht der einzige Erfinder der Idee des Massenmordes aus der Luft – andere, wie Hitler, Göring und Hugo Sperrle, könnten als Miterfinder dieser „Taktik“ ebenfalls Anerkennung verlangen; die Kaiserlich Japanischen Luftstreitkräfte könnten eine Patentvariante anmelden; Winston Churchill könnte mit seinen barbarischen Doppeldecker-Bombardierungen von Iraker*innen in den 1920er-Jahren zu Recht den frühen Prototypen registrieren lassen; Arthur „Bomber“ Harris, Curtis LeMay und das Komitee, das den Abwurf von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki absegnete; Richard Nixon und seine Napalm einsetzenden Generäle in Vietnam: Sie alle könnten für sich beanspruchen, die Idee jeweils auf eine ganz neue Stufe gehoben zu haben.

Das, was man Guernica-Stalingrad oder sogar Guernica-Warschau-Stalingrad-Chongquing-Dresden-Hiroshima nennen könnte, verschwindet nicht. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geht dieser tödliche menschengemachte Sturm auf eine irreguläre, aber unerbittliche Welttournee. Im Laufe der nächsten 77 Jahre entzündet er sich weltweit wieder und wieder, ändert seine Form und Ballistik, trennt Glieder von Körpern, verbrennt Haut verschiedener Farben, pfercht Überlebende in Keller, macht Kinder vor Angst wahnsinnig, lässt Lachen in eine kubistische Grimasse zersplittern, verwandelt Hunderttausende von Zukünften in Asche, bevor er schließlich Ende Februar 2022 erneut in Europa anlandet, nur 800 Kilometer von der Stadt entfernt, die einst Stalingrad hieß.

Das ist der Zeitpunkt, an dem wir, die gesamte Welt, das Monster identifizieren, als sähen wir es zum ersten Mal, und mit Entsetzen darauf deuten. Ansonsten haben dies über den Großteil eines Jahrhunderts hinweg zu viele Menschen in aufeinanderfolgenden Generationen ignoriert: ob die von der Explosion glühend heißen Mauern schwankend in Vietnam oder Gaza stehen, in Basra oder Homs, Sanaa oder Charkiw, wir sind die Spezies, die seit den 1930er-Jahren unablässig Bombenterror gegen sich selbst verübt hat.

Eine Geschichte des Massenmords

Wenn die Bomber der Luftwaffe die Spitze des Nazi-Speers waren, der 1941 im Rahmen der Operation Barbarossa die Sowjetunion aufschlitzte, hatte der Rest der Lanze zudem Stacheln, die das Fleisch des Landes weiter aufrissen. Nach den Bombern kamen die Artillerie, die Panzer und die Infanterie. Und danach kamen die SS-Einsatzgruppen, dem Namen nach „Einsatzteams“ oder „Sonderkommandos“, in Wirklichkeit jedoch paramilitärische Todesschwadronen, deren Hauptaufgabe es war, bestimmte Kategorien von Zivilist*innen zusammenzutreiben und mit Maschinengewehren niederzumähen. Jüdische Menschen waren die Hauptziele, aber dieses Projekt des Mordens im großen Stil beförderte auch Roma, Intellektuelle, Priester, Homosexuelle und andere Gruppen in Massengräber, deren fortbestehende Existenz für unerwünscht befunden wurde. Im Laufe des Krieges töteten diese Mordkommandos in Mittel- und Osteuropa mehr als zwei Millionen Menschen, eine erhebliche Anzahl davon in der Ukraine, dem Flecken Land, dem heute unser Augenmerk gilt.

Wie bereits erwähnt, wurde der Massenmord nicht von den Nazis erfunden. Die Neuerungen, die Hitler und seine Schergen implementierten, lagen bei Umfang und Effizienz – Methoden, um die größtmögliche Anzahl von Menschen mit dem geringstmöglichen Einsatz von Mühe und Ressourcen zu töten. In dieser Hinsicht übertrafen sie innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums die unbeholfenen Experimente Stalins und verschiedener europäischer Imperialmächte auf der ganzen Linie. Noch einmal: Das Ende des Zweiten Weltkriegs bedeutete weder das Ende von Völkermord noch das Ende von Krieg. Die Bereitschaft, Menschen zu massakrieren, war längst Teil der menschlichen DNS und sie mutierte, um sich gegen immer größere Zahlen zu richten. Ob in Hunan, Ost-Pakistan, Kambodscha, Rwanda oder Bosnien – Varianten des Massenmords schwärten immer wieder überall auf dem Körper der Erde. Jetzt, da die russischen Truppen sich tiefer in die Ukraine vorbewegen, sind wir mit der Möglichkeit konfrontiert, dass neue Einsatzgruppen, in anderen Uniformen, mit anderen Namen, erneut damit beginnen werden, dieses Land zu durchkämmen, nur aus der anderen Richtung.

Die Tore Europas

Angesichts dessen ist plötzlich überall in den sogenannten Industrienationen eine kritische Masse alarmiert. Plötzlich beginnen die Europäer*innen die grotesken Ironien wahrzunehmen, bemerken die Spiegelungen der Mitte des 20. Jahrhunderts. Was die USA und Europa im Palästina-Israel-Konflikt nicht aufwühlen konnte, was sie in Kurdistan oder im Falle der Uiguren in China nicht störte, stachelt sie plötzlich zu allen möglichen entschiedenen Sofortmaßnahmen an. Die Tore Europas, die den Flüchtlingswellen aus Afrika und dem „Nahen Osten“ nur den allerengsten Zugang boten, werden für Ukrainer*innen aus einem Gefühl des warmen Humanitarismus heraus ohne jedes Zögern plötzlich weit aufgerissen.

Ein Nazi ist, wer wie ein Nazi handelt. Ein Faschist ist, wer wie ein Faschist handelt. Der eine Satz, den wir immer wieder in Zeug*innenaussagen und von Überlebenden der Massenmorde der Nazis hören, ist: „Nie wieder“. Vielleicht hätte der gesamte Satz lauten müssen: „Nie wieder – nirgends“. Heute, in diesen bizarren Zeiten, hat man manchmal das Gefühl, als habe die Geschichte die Träume und Hoffnungen der Millionen, die in der Hölle des Zweiten Weltkriegs gefoltert und getötet wurden, gekapert und sie in einen shraap, einen Fluch für uns, die nachfolgenden Generationen, verwandelt, einen Fluch, der uns ständig neue Kriege und Massaker produzieren lässt.

Für viele von uns außerhalb Europas und Nordamerikas fühlt es sich an, als erlebten wir lediglich eine weitere Ernte dieser begrabenen Träume, eine Art tödlichen Wanderfeldbau, der sich endlos von Menschenacker zu Menschenacker bewegt.

Dieser Artikel wurde am 12. März 2022 verfasst.