Marta Krus Eine Fahrt durchs Nichts

Autobahn gesehen durch die Frontscheibe
Christian Werner

Autobahnen sind Nicht-Orte, weil keiner jemals auf ihnen verweilt. Und doch, oder gerade deshalb, werden auf ihnen Geschichten geschrieben, pro Auto eine Geschichte. Ein Essay über eine Autofahrt von Polen nach Deutschland, über das Weggehen und das Ankommen. 

Ein Nicht-Ort ist laut Marc Augé ein Ort, dem es vor allem an dreierlei fehlt: an Identität, Erinnerung und an Geschichte. Ein Nicht-Ort hat keinen historischen Wert. Er zeichnet sich durch Flüchtigkeit und Transit aus. Und die Menschen, die an ihm verweilen, sind anonym und entwurzelt.

Die Autobahn A11 nach Berlin, auf der wir fuhren, stellte uns an diesem Freitagmorgen im Winter des Jahres 1998 vor keine besonderen Schwierigkeiten. Unser Ziel war allerdings auch noch weit entfernt. Zuerst mussten wir den Grenzübergang zwischen Polen und Deutschland passieren. Polen war damals noch nicht in der Europäischen Union und gehörte nicht zum Schengen-Raum. Eine zähe Wartezeit. Grenzkontrollpunkte sind Orte des erzwungenen Innehaltens. Es sind Transitorte, Fragmente der Transformation, Neuverortung und Metamorphose. Der Moment, in dem sich das Auto über die Grenze bewegt, ist eine Mischung aus Entschleunigung, Stillstand und Weiterfahrt. Es ist eines der Zeitfenster, in dem das Identitätsgefühl, zwischen dem Wir und dem Sie hin und her springt. Ein Moment, in dem Inklusion oder Exklusion passiert. Bevor man wieder in den Fluss der Autobahn eintaucht.

Nach fast zwei Stunden Wartezeit und einer Begegnung mit einem grimmigen Grenzschutzbeamten, der den Reifenzustand des mit vielen Gegenständen aus unserem alten Leben beladenen Autos beanstandete, durften wir die Grenze passieren. Wir umrundeten Berlin über die A10 und fuhren weiter auf der A2 an Marienborn vorbei, dem Gedenkort der Deutschen Teilung. Und während wir in dem kleinen Fiat 126p an diesem Symbol der Unfreiheit, der Trennung und der Hoffnung vorbeifuhren, bekamen meine Schwester und ich von unserer Mutter eine kleine Geschichtsstunde. Jan Röhnert schreibt in Die Metaphorik der Autobahn: „Die sprichwörtliche Mauer, sie fiel nicht zuerst in Berlin. Sie fiel zuerst auf der Transitautobahn zwischen Hannover und Berlin.“

Exklusive Nicht-Orte

Wenn man sich auf der Autobahn bewegt, ist man sich der Exklusivität dieses Ortes meist nicht bewusst. Abgeschirmt durch Lärmschutzwände, für Fußgänger*innen und Radfahrer*innen unzugänglich, ist die Autobahn ein exklusiver Ort, der nur für diejenigen offen und befahrbar ist, die sich mit Fahrzeugen fortbewegen, die 60 Stundenkilometer auf der Autobahn erreichen können – so sieht das die Straßenverkehrs-Ordnung in § 18 Abs. 1 Satz 1 vor. Unser kleiner Fiat konnte mit seinen 25 PS eine Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h erreichen. Damit waren wir zwar für die Autobahn schnell genug, aber für die hupenden LKWs hinter uns zu langsam. Langsame Fahrer*innen dürfen laut dem Allgemeinen Deutschen Automobil-Club ADAC den Verkehrsfluss nicht behindern. Das bekamen wir deutlich zu spüren. 

Was für die Autobahn gilt, gilt auch für ihre Raststätten. Auch sie sind exklusive Nicht-Orte. Sie sind nur für Menschen erreichbar, die mit dem Auto, dem Bus oder anderen schnellen Fahrzeugen unterwegs sind. Im Gegenzug für diese Exklusivität erhalten die Menschen im Rasthof die Sicherheit, sich in einem vertrauten System zu befinden, unabhängig davon, woher sie kommen und wohin sie fahren. Denn Nicht-Orte zeichnen sich durch besondere Handlungsanweisungen aus, bei denen sich um Empfehlungen („rechts halten“), Verbote („wenden verboten“) oder um Informationen („WC“) handelt. Die Kommunikation beschränkt sich in der Regel auf die Weitergabe von Informationen über die Tanksäulennummer und die Art der Bezahlung.

Wenden verboten 

Obwohl auf Raststätten die typische Anonymität von Nicht-Orten herrscht, kommt es vor, dass Menschen sich dort begegnen und unterhalten. So staunte auf einer Raststätte kurz vor dem Dreieck Nordharz der Fahrer eines mit Winterreifen bestückten Toyotas über die Fahrfähigkeiten unseres kleinen Fiats, der uns trotz des widrigen Winterwetters bis kurz vor Bad Harzburg gebracht hatte und auch auf den verbleibenden 40 Kilometern nicht aufgeben wollte. Nach dem notwendigen Zwischenstopp an der Raststätte ging es zurück auf die Autobahn.

Durch die Windschutzscheibe betrachtet sieht die Autobahn oft wie eine Linie aus, die nur vorwärtsführt. Das Ziel ist die Zukunft. Wenden verboten. Als wir an diesem grauen Dezembertag vom verregneten Szczecin nach St. Andreasberg in den verschneiten Harz aufbrachen, waren wir sicher, dass wir so schnell nicht wieder nach Polen zurückkehren würden. Das Gefühl der Freude, aber auch der Unsicherheit, welches der Anblick des Ortsschildes St. Andreasberg auslöste, hatte seine Kraft darin, dass es der erste greifbare Beweis dafür war, dass wir an einem Ort, an einem neuen Ort angekommen waren und die Nicht-Orte hinter uns gelassen hatten.