Chen Wei Wie Einsamkeit totalitäre Systeme begünstigt

Totalitarismus und das einsame Dasein des modernen Menschen
Illustration: © Eléonore Roedel

Wie wirkt sich Einsamkeit auf den modernen Menschen aus – und warum ist sie ein Nährboden für totalitäre Herrschaft? Der chinesische Philosoph Chen Wei analysiert Hannah Arendts Denken und zeigt, wie politische Teilhabe dem Rückzug ins Private entgegenwirken kann. 

Es ist eine Tatsache, vor der der Mensch gerne die Augen verschließt: Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert des Totalitarismus – für das 21. Jahrhundert gilt dies unverändert. Das Ende des Kalten Krieges zu Beginn der 1990er-Jahre hat den Totalitarismus nicht begraben. Die Geschichte hat mitnichten, wie von Francis Fukuyama verkündet, ein Ende gefunden. Ihr Rad dreht sich weiter, doch weder bewegt sie sich zurück zu den Religionskriegen, wie Mark Lilla befürchtete, noch hin zu Samuel P. Huntingtons Vision vom Clash of Civilizations oder in Richtung der zeitgenössischen westlichen Identitätspolitik. Vielmehr lässt die Geschichte den klassischen Kampf zwischen liberaler Demokratie und totalitärer Diktatur wiederaufleben. Ein unsichtbarer Eiserner Vorhang senkt sich vom Himmel, teilt Ost und West erneut. Die Entwicklung von Wissenschaft und Technik hat diesen Konflikt noch verschärft, anstatt den Menschen, wie Francis Bacon einst hoffte, Freiheit und Befreiung zu bringen.

Man fragt sich: Warum haben die schmerzhaften Lehren aus den drei großen Kriegen des letzten Jahrhunderts (darunter zwei „heiße“ und ein „kalter“) nicht zum moralischen Fortschritt der Menschheit geführt? Warum erweist sich der Totalitarismus als ein Tausendfüßler, der bereits totgeglaubt immer weiterkriecht? Um dies zu verstehen, lohnt es sich, noch einmal die antitotalitäre Theoretikerin Hannah Arendt zu befragen.

Arendts Denkansatz

Hannah Arendt (1906–1975) stammte aus einer assimilierten deutschjüdischen Familie. Um der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entgehen, wanderte sie in die USA aus und wurde dort nach dem Krieg zu einer herausragenden Vertreterin der intellektuellen Elite. Zu ihren Hauptwerken zählen Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Vita activa oder Vom tätigen Leben, Über die Revolution und Vom Leben des Geistes. Begriffe wie Totalitarismus oder Revolution erhielten durch Arendts Schriften eine eigenständige Bedeutung und wurden zu anerkannten theoretischen Werkzeugen der Wissenschaft. In der Geschichte des politischen Denkens und innerhalb der politischen Strömungen der westlichen Gegenwart nimmt Arendt dadurch eine einmalige Stellung ein.

Nach Arendt besitzt jede politische Ordnung ihre eigenen Prinzipien, die auf spezifische menschliche Daseinserfahrungen zurückgehen oder diese widerspiegeln. Demzufolge reicht weder ein institutionalistisches noch ein handlungsbezogenes Politikverständnis an das Wesen der Staatsform heran. Was die neue Staatsform des 20. Jahrhunderts, den Totalitarismus, betrifft, so muss man erkennen, dass er in besonderer Weise den spezifischen Existenzbedingungen des modernen Menschen entspricht: Einsamkeit und Überflüssigkeit, die Entfremdung von einer gemeinsamen Welt und die Auflösung traditioneller Bindungen. Vor allem die Einsamkeit sieht Arendt als eine fundamentale Daseinserfahrung des modernen Menschen an. In der Gesellschaft der Antike galt sie indessen noch als Randphänomen, wie Cicero in De senectute andeutete. Absolute Einsamkeit und Verzweiflung kann mitunter verheerender sein als der Tod. Man sieht ihn vor sich, den verlorenen Massenmenschen, der sich in die Arme des Totalitarismus flüchtet, wie ein Verdurstender, der seine Not mit Gift stillen möchte. Doch die Etablierung totalitärer Herrschaft lindert diese Einsamkeit nicht, sondern nährt und verstärkt sie, um schließlich die totale Verfügung über den Einzelnen und eine radikale Verneinung der Menschlichkeit zu ermöglichen.

Einsamkeit und Moderne

Auf Grundlage von Arendts politischem Denken lässt sich die Einsamkeit des modernen Menschen mindestens aus zwei Perspektiven verstehen:

Erstens ist sie eine Folge der säkularen Epoche. Einsamkeit äußert sich zunächst als innere Leere und Haltlosigkeit. Ohne Transzendenz ist der Mensch ein in die Welt Geworfener. Bei Weber liest man von den Calvinisten, die in einsamer Askese innere religiöse Selbstprüfung betreiben, und wie die Prädestinationslehre die Unsicherheit über das Schicksal im Diesseits und die Rettung im Jenseits verstärkte. Im Zeitalter, in dem Nietzsche den Tod Gottes proklamierte, wurde der Mensch als materialistisches, seelenloses Atom betrachtet und zu einem Körper mit Energie, aber ohne geistiges Leben deformiert. Seine Einsamkeit wurzelt eben in dieser inneren Verschlossenheit und dem Zusammenbruch, ja Verschwinden seiner geistigen Welt. Weder Gott noch das Licht der Vernunft können seine Welt noch erhellen. Die logische Konsequenz ist der von Nietzsche beschriebene Übermensch, der nur vom Willen zur Macht geleitet ist. In einer solchen Welt gilt nur noch das Gesetz von Anziehung und Abstoßung zwischen Atomen. Philosophisch schlug sich dies im aufkommenden Existentialismus des 20. Jahrhunderts nieder. Arendt, die bei den Existenzphilosophen Karl Jaspers und Martin Heidegger studierte, erkannte das einsame Dasein des modernen Menschen. Mithilfe des Existentialismus reflektierte sie totalitaristische Herrschaft auf einer tieferen Ebene als die Einsamkeitserfahrung der Moderne und übte daran Kritik.

Zweitens ist die Einsamkeit des modernen Menschen eine soziale Folge der Industrialisierung und Modernisierung. Für Arendt war sie die chronische Krankheit unserer Zeit. Die Modernisierung wurde dem Menschen nicht geschenkt; einer ihrer Preise war die Zerstörung öffentlicher Bindungen. Im Zuge der Säkularisierung zog sich die Kirche weitgehend aus dem Alltagsleben der Menschen zurück. Zugleich zerfielen mit der Befreiung von feudaler Leibeigenschaft im Mittelalter und durch den Zusammenbruch der kleinbäuerlichen Wirtschaften des Ostens auch die traditionellen Dorfgemeinschaften.

Die Stadt brachte zwar die industrielle Zivilisation hervor, schuf jedoch keine neuen Bande der Solidarität. Der auf ökonomische Rationalität ausgerichtete Bezug zur Arbeit ließ menschliche Wärme vermissen. An die Stelle des klassischen citoyen trat der bourgeois; bürgerlicher Zusammenhalt und individuelles Verantwortungsgefühl gegenüber der öffentlichen Sphäre verschwanden. Der modern-kleinbürgerliche Mensch vermochte es, sich im blutigen Sturm des Kriegsgeschehens am gewohnten Nachmittagstee zur wärmen, während sich neben ihm Leichenberge auftürmten.

Derart verlorene und ohnmächtige Individuen, die jeden bürgerlichen Zusammenhalt eingebüßt haben, bilden den fruchtbarsten Nährboden für den Totalitarismus: die moderne Masse. So zahlreich der Massenmensch auch sein mag, so tief bleibt seine innere Vereinsamung. In Massenaufläufen und fanatischem Gebrüll sucht er nach Linderung und möchte dem eigenen Leben Sinn geben. Dabei schürt die Einsamkeit noch die Streitlust des Einzelnen; potenziert in der Masse werden Aggressionen und destruktiven Kräfte mehrheitsfähig und dadurch gleichsam „entschuldigt“.

Schon Aristoteles warnte, dass ein der Gemeinschaft entzogener Mensch nicht im eigentlichen Sinne menschlich bleibe. Demgemäß erinnerte auch Arendt, in Anlehnung an Martin Luthers Kommentar zur Bibelstelle „es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei“, daran, dass ein normales menschliches Leben nicht in Einsamkeit möglich ist.

Geist gegen Terror

Die Ideologie des Kampfes wurde zur Lieblingsphilosophie der modernen Massen. Der Totalitarismus ist organisierte kollektive Kriminalität; sein Wesen ist totaler Terror. Er bietet dem vereinsamten Individuum die Gelegenheit, „Großes zu vollbringen“ und „Geschichte zu schreiben“ – ja, er stellt ihm sogar ein Paradies auf Erden in Aussicht. Doch sein Siegeszug hinterlässt eine „einsame Wüste ohne Nachbarn“: die totale Beherrschung und Zerstörung des öffentlichen wie des privaten Lebens.

Arendts spätere Auseinandersetzung in Vom Leben des Geistes stellt in gewissem Sinne ebenfalls eine Kritik an der Einsamkeitserfahrung des Einzelnen dar. Das Leben des Geistes bringt die politische Dimension der inneren Welt des Individuums zum Ausdruck. Dabei unterscheidet Arendt im geistigen Leben drei Grundtätigkeiten: Denken, Urteilen und Wollen.

Zwar setzt das Entfalten des geistigen Lebens ein Sich-Zurückziehen von der Welt voraus, doch verliert der Mensch dabei weder seinen Weltbezug noch seine Dimension des Öffentlichen. Im Denken, wenn das Ich sich verdoppelt und dem „Selbst“ begegnet, hört das Individuum auf, ein in sich Verschlossenes zu sein. Das Denken öffnet den Raum für Reflexion und ruft die Frage nach dem Sinn des Lebens hervor. Dieses „Selbst“ ist stets ein Selbst, das die Öffentlichkeit mitdenkt und uns in diesem Sinne ermahnt und warnt.

Im Urteilen wiederum tritt das Individuum in seiner Vorstellung mit einer Vielzahl möglicher Anderer in ein imaginäres, prüfendes Gespräch über einen gemeinsamen Gegenstand. Daraus ergibt sich ein zwar nicht universelles, aber immer noch wirksames öffentliches Urteil. Diese individuelle Fähigkeit zu urteilen, ist eng mit dem verknüpft, was Arendt den „Gemeinsinn“ nennt, eine Art siebten Sinn jenseits von Sehen und Hören.

Beim Wollen muss der Einzelne auch die Zukunft ins Auge fassen: Es muss darüber entscheiden, ob gehandelt werden soll oder nicht. Dabei muss er die Folgen bedenken und die Verantwortung, die ihm durch das Handeln gegenüber dem Gemeinwesen erwächst. Das vereinsamte Individuum hingegen besitzt gar kein geistiges Leben.

Westliche Selbstreflexion

Arendts gerade skizzierte Reflexionen sind stark in einem europäischen Kontext verwurzelt. Die einsame Existenz des Individuums, dessen Verflechtung mit dem modernen Staatswesen und die Erfahrung totalitärer Regime des 20. Jahrhunderts sind charakteristisch für den europäischen Kontinent. Die angelsächsische Welt hingegen ist dieser Falle lange erfolgreich entgangen.

Während in den sich später modernisierenden Gesellschaften der östlichen Hemisphäre Elemente des europäischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts aufgegriffen und in einer übermäßig selbstbewussten „antiwestlichen Haltung“ zur Wahrung von nationalem Prestige sowie zur Rechtfertigung von Autoritarismus und moderner Diktaturen instrumentalisiert wurden, hat in der westlichen Zivilisation längst eine tiefgreifende Selbstreflexion begonnen.

Hannah Arendt gilt als eine herausragende Vertreterin dieser historischen Aufarbeitung. Arendts Überlegungen stehen dabei in engem Zusammenhang mit ihren eigenen Erfahrungen als jüdischer Flüchtling: Nach Jahren der „Staatenlosigkeit“ fand sie in den Vereinigten Staaten eine neue Lebenswelt, die ihr ein tätiges Leben in einer anderen Tradition ermöglichte. Durch die konkrete Erfahrung politischer Teilhabe sowie verschiedene Bürgerrechtsbewegungen in der Neuen Welt entdeckte Arendt Wege, dem einsamen Dasein des modernen Menschen zu begegnen und der Versuchung des Totalitarismus zu widerstehen.

Ohne Zivilgesellschaft keine Freiheit

Theoretisch knüpfte die Philosophin an die klassische republikanische Tradition an, um die Defizite des Liberalismus zu überwinden: Seine Vernachlässigung des Politischen, den Mangel an Mitverantwortung sowie seine Tendenz zum Rückzug ins Private. Arendt bietet das theoretische Instrument, um totalitären Bewegungen von links wie von rechts den Kampf anzusagen und liefert die geistigen Ressourcen, um wieder eine gemeinsame Welt erstehen zu lassen und den Blick in die Zukunft zu öffnen.

Bei Arendt hat bürgerliches Handeln einen grundlegenden Sinn; ein öffentliches, politisches Leben ist für sie unverzichtbar. Die Anerkennung von Pluralität verweist auf die Unmöglichkeit jeglicher reduktionistischer Sicht auf den Menschen. Den Menschen als Menschen zu betrachten, bedeutet stets, das Individuum als solches zu sehen. Dieses Individuum ist kein von der Welt losgelöstes atomistisches Wesen; es ist empfänglich und lebt als „Individuum“ inmitten gleichberechtigter Mitmenschen mit ihren Wünschen und Hoffnungen. Erst im Bewusstsein, dass die Isolation des modernen Menschen überwunden werden muss, lassen sich Wege finden, totalitäre Herrschaft unmöglich zu machen.

Hannah Arendts politisches Denken macht deutlich, wie der Liberalismus im Kampf gegen den Totalitarismus oft unentschlossen, pragmatisch und opportunistisch agiert. Die Geschichte hat wiederholt gezeigt, dass die Beschwichtigungshaltung liberaler Demokratien den Totalitarismus nur weiter voranschreiten lässt. Dass England und die USA gegenüber dem „Virus“ des Totalitarismus weitgehend immun blieben, liegt daran, dass sie über den Liberalismus hinaus nie ihre republikanischen politischen Wurzeln und Traditionen aus den Augen verloren haben, was auch mit der Wertschätzung und Weiterführung des politischen Erbes des antiken Griechenlands (polis) und Roms (res publica) zusammenhängt. In der erneuten Betrachtung der politischen Entwicklung des antiken Griechenlands und Roms weist Arendt auf die Notwendigkeit und Dringlichkeit hin, die politische Dimension menschlicher Existenz wiederzubeleben. Dies bedeutet ein wirksames Zusammenspiel zwischen dem Einzelnen und der gemeinsamen Welt und eröffnet die Möglichkeit auch ohne Gottesbezug nach Freiheit, Moral und Gerechtigkeit zu streben. Kalkulierter Opportunismus oder rohe Gewalt sind ganz offensichtlich nicht in der Lage, diese Mission zu erfüllen.