Gleichberechtigung Ruanda als Vorbild? Wie frei ist die Frau wirklich?

Genozid-Denkmal in Gisozi
Genozid-Denkmal in Gisozi | Foto (Detail): Jean Bizimana © Reuters

Ruanda wird in den Medien oft hochgepriesen, wenn es um Gleichberechtigung von Mann und Frau geht. Aber inwieweit deckt sich das Außenbild der ruandischen Frau mit der Frau im Privaten? Ein Gespräch über Erfolge, Ambivalenzen und Hürden auf dem Weg zur Gleichheit der Geschlechter.

Die Gleichstellung von Mann und Frau wurde 2003 im Gesetz festgehalten. Welche Bedeutung hatte dieses Gesetz damals für die Frauen in Ruanda?

Assumpta Mugiraneza:
Um zu verstehen, was die Festschreibung der Gleichberechtigung in der Verfassung bedeutet hat, muss man zunächst die Zeit nach dem Völkermord betrachten. Die Ruanderin hatte bei diesem Verbrechen eine ungewöhnliche Stellung inne, sowohl bei der Ideologie des Bösen als auch bei der Ausführung des Verbrechens und ihrer Rolle darin (sie war teilweise nicht nur Opfer, sondern auch Täterin). Das Gesetz erscheint mir wie eine Teil-Antwort auf die vielfältigen Herausforderungen, vor denen die ruandische Gesellschaft stand, es ergab sich aus der damaligen Zeit. Aber ich sehe darin vor allem einen ersten Schritt, den Wert des Menschen allgemein und insbesondere der Frau wiederherzustellen.

Louise Umutoni Bower:
Die deutlichsten Veränderungen durch das Gesetz waren meines Erachtens bei den Erbschaftsregelungen zu beobachten. Vielen Frauen in Ruanda war es bisher nicht erlaubt, Land zu erben. Dies hatte einen wesentlichen Einfluss auf ihre sozioökonomische Stellung, denn sie konnten keine Kredite beantragen, weil sie nicht über die grundlegendste Form von Sicherheiten verfügten. In diesem ehemals krisengeschüttelten Land, in dem Frauen die Bevölkerungsmehrheit bilden und in vielen Fällen auch das Familienoberhaupt, war es daher für viele von ihnen nicht leicht, sich aus der Armut zu befreien. Mit der Möglichkeit des Landbesitzes konnten Frauen zusätzlich Vermögen aufbauen. Sie hat außerdem wesentlich dazu beigetragen, dass viele Frauen den Weg aus der Armut finden konnten.

Natacha Muziramakenga:
Ich schließe mich Louises Meinung zu den Erbschaften an. Außerdem möchte ich hervorheben, dass Frauen in Macht‑ und Entscheidungspositionen im öffentlichen und privaten Sektor selbstverständlicher geworden sind. Vor diesem Hintergrund und dank zahlreicher Initiativen zugunsten der finanziellen Unabhängigkeit von Frauen verfügen sie heute über eine Vielzahl von Möglichkeiten, die ihnen in der Vergangenheit verwehrt blieben.

Ruanda ist heute weltweiter Spitzenreiter, was die Frauenquote im Parlament betrifft. Die Regierung fördert Frauen in zahlreichen Lebensbereichen durch weitere Kampagnen. Quoten und staatliche Förderungen können aber weitere patriarchale Mittel sein, um sich nach außen modern zu präsentieren. Inwieweit würden Sie sagen, trifft dieses Statement auf Ruanda zu?

Assumpta Mugiraneza:
Ich vertraue Statistiken nicht, deren gesellschaftlich verankerter Wahrheitsgehalt nicht bekannt ist. Ruandas kulturelle Wurzeln lassen erkennen, dass die Frau im präkolonialen Ruanda einen festen Platz innehatte. Die Tatsache zu untersuchen, dass die Geschichte und Ideologie der RPF (Ruandische Patriotische Front) darauf zurückgeht, erscheint mir interessanter, als das Thema im Hinblick auf richtig oder falsch zu diskutieren. Es ist weder das Paradies noch die Hölle, sondern ein recht gelungener Versuch, der noch dauerhaft verankert werden muss.

Louise Umutoni Bower:
Meines Erachtens ist die Lage in Ruanda ein wenig komplexer. Die Stellung von Frauen in der ruandischen Gesellschaft hat sich mit der Zeit gewandelt. Die derzeitigen Vorstellungen von der Rolle der Frau, insbesondere im öffentlichen Leben und in der Politik, stammen aus dem Exil, als die heutige Regierung bemüht war, sich als Befreiungsbewegung zu positionieren. Frauen haben in der Exilzeit eine deutlich stärkere Rolle in der Gesellschaft übernommen und diese Bemühungen ebenfalls unterstützt. Ich denke, das derzeitige Regime hat diese Erfahrung in das Ruanda der Nachbefreiungszeit und in den politischen Bereich eingebracht.

Natacha Muziramakenga:
Ich gehöre zu denjenigen, die glauben, dass eine sehr große Zahl von Frauen im Parlament nicht zwangsläufig ein Engagement für das Wohl von Frauen nach sich zieht. Denn genau diese weiblichen Abgeordneten waren es auch, die vor einigen Jahren ein Gesetz zur Abstimmung vorlegten, das den Mutterschaftsurlaub im Namen der „Gleichstellung“ von drei Monaten auf einen Monat verkürzen sollte. Mir ist noch immer nicht klar, welchen Einfluss diese Abgeordneten auf Gesetzesänderungen haben können, um die soziale Befreiung von Frauen in einer sehr traditionellen und patriarchal geprägten Gesellschaft zu unterstützen. Aus meiner Sicht dienen Frauen im Parlament noch immer der politischen Kosmetik.

Verglichen mit anderen afrikanischen Staaten haben Frauen in Ruanda heutzutage viele Möglichkeiten. Trotzdem liegt Care Work immer noch größtenteils bei der Frau. Wie groß ist die Diskrepanz zwischen dem Bild der ruandischen Frau in der Öffentlichkeit und dem Bild der Frau im Privaten?

Assumpta Mugiraneza:
Die Medien und internationalen Organisationen erstellen ein Bild von Ruanda, das auch in Ruanda oft aufgegriffen wird, aber die Realität stimmt nicht mit diesen Darstellungen überein. Wenn man die ruandische Frau in Krisenzeiten versteht (Kolonisierung, Einführung der Währung und der Schule als neuen Wertmaßstab, die Fehler nach der Unabhängigkeit), erkennt man, wie oberflächlich manche Vergleiche sind. Aber man muss unterschiedliche Blickwinkel einnehmen, beobachten und beschreiben, bevor man ein Urteil fällt.

Louise Umutoni Bower:
Das ist eine gute Frage. Die Position von Frauen im privaten Bereich unterscheidet sich deutlich von ihrer Position in der Öffentlichkeit. In der ruandischen Gesellschaft sind bestimmte kulturelle Vorstellungen von den häuslichen Aufgaben einer Frau noch immer weit verbreitet. Sogar ermächtigte Frauen tragen noch immer die volle Last von Aufgaben wie Kinderbetreuung und Haushalt, weil dies den Erwartungen entspricht. Diese Vorstellungen ziehen sich durch die gesamte Gesellschaft und lassen sich schwer überwinden.

Natacha Muziramakenga:
In einem ruandischen Sprichwort heißt es: „Die Frau ist das Herz des Hauses, der Mann ist der Herr der Familie.“ Von der Frau wird schlicht und einfach erwartet, dass sie anstandslos die Care-Arbeit übernimmt. Alle sozialen Prozesse sind darauf ausgerichtet, diesen Status Quo zu erhalten. Männer, die sich an dieser Arbeit beteiligen, gelten als schwach, was nicht zu ihrer Motivation beiträgt. Die Mentalität lässt sich schwerer ändern als die Politik.

Welche Hürden gibt es für die heutige Generation in Ruanda? Was muss passieren, damit Gleichberechtigung abseits von binären Geschlechtsidentitäten wirklich gelebt wird?

Assumpta Mugiraneza:
Die neue ruandische Generation wird von Marianne Hirsch die „Postmemory-Generation“ genannt, und das sagt schon viel über die Herausforderungen aus, die diese Generation erwarten. Man muss Werkzeuge schaffen, um die Problematik der Gleichberechtigung gemeinsam anzugehen, nicht nur, was das Geschlecht angeht. Und dann sollten wir einen Blick auf die Ungleichheiten zwischen Mann und Frau wagen und Programme initiieren, mit denen sich jedes Mitglied der Gesellschaft vom patriarchalen Erbe befreien kann, das in der heutigen Zeit nicht mehr akzeptabel ist.

Louise Umutoni Bower:
Ich denke, dass die Politik zwar schon einiges geleistet hat, es bei den Einstellungen aber noch viel zu tun gibt. Es gab mehrere Versuche, das Bewusstsein für einige dieser Themen zu schärfen. Doch das war noch nicht genug. Meines Erachtens muss sich die Debatte nicht nur um das drehen, was die Regierung unternimmt oder unternehmen sollte, sondern auch um das, was wir als ruandische Bürger*innen tun können, um echte Gleichberechtigung zu fördern. Wir müssen unsere Kultur und die Elemente hinterfragen, die diesen Ungleichheiten noch immer zugrunde liegen.

Natacha Muziramakenga:
Dem Wandel stehen meiner Meinung nach Mentalitäten, religiöse Überzeugungen und Regelungen aus der Kolonialzeit im Weg, die noch immer Kontrolle über weibliche Körper ausüben und Frauen in ihrer Freiheit einschränken, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Für mich haben Glaube und Mentalität keinen direkten Einfluss auf die Frauenrechte. Sie bilden vielmehr eine soziale Barriere, denn viele Familien sind entweder religiös oder traditionalistisch. Und weil die Gemeinschaft in Ruanda einen sehr hohen Stellenwert hat, wagen es viele Frauen nicht, die Erwartungen zu enttäuschen, aus Furcht davor, von ihren Familien oder Gemeinschaften verstoßen zu werden. Das reicht vom Tragen bestimmter Kleidung bis hin zur Angst vor dem Alleinleben, selbst wenn sie finanziell unabhängig und erwachsen sind.


Dieses Interview wurde schriftlich geführt. Die Fragen stellte Marlene Eichhorn, „Zeitgeister“‑Redakteurin.