Inklusion durch Technologie Die Freiheit virtueller Welten

Virtuelle Welten als Chance für Inklusion
Virtuelle Welten als Chance für Inklusion | © picture alliance / Westend61 | Jose Carlos Ichiro

Menschen mit Behinderung können dank virtueller Realität, Metaversum oder 3D-Animation laufen und sprechen. Fabián Barros aus Uruguay experimentiert mit virtuellen Welten. Er spricht darüber, wie Technologie Inklusion voranbringen kann.

Fabián Barros, glauben Sie, dass die neuen Technologien eine Chance für mehr Inklusion sind?

Ich glaube, dass es da ein riesiges Potenzial gibt. Ich hatte immer den Eindruck, dass es sich um einen Markt oder einen Bereich handelt, der seine künstlerischen, beruflichen, geschäftlichen, ja generell seine Möglichkeiten noch nicht ausschöpft. Das Potenzial für Inklusion ist groß, aber wird, wie bei so vielen anderen Themen, in Abhängigkeit von der sogenannten Normalität unsichtbar gemacht. In virtuellen Welten haben wir die Freiheit bestimmter modellierter Verhaltensweisen. Durch bestimmte Presets oder Motion Capture erlangen wir Fähigkeiten, die wir im echten Leben nicht haben, wie zum Beispiel Fliegen; Tauchen, ohne zum Luftholen an die Wasseroberfläche zu müssen; oder uns schneller zu bewegen als gewöhnlich. Es war schon immer ein Bestreben von mir, diese Möglichkeiten in meine Arbeit zu integrieren.

Haben Sie in dieser Hinsicht schon mit Menschen mit Behinderung zusammengearbeitet?

In zwei sehr unterschiedlichen Projekten. Eines davon war ein junges, alternatives Tango-Orchester namens „Juana y los heladeros del tango“. Juana (Virginia Núñez) ist eine exzellente Performerin. Das Ensemble hat einen integrativen Ansatz und eine sehr kritische Haltung gegenüber dem traditionellen, ausgrenzenden Machismo im Tango. Sie luden mich ein, einen Tango für Gehörlose zu entwickeln. Es entstand die Idee, eine kleine Inszenierung zu schaffen, in der eine Anekdote aus der Geschichte des Tangos – Immigranten, die auf Schiffen nach Uruguay gelangten – mit Musik und Tanz verknüpft werden sollte. Eine riesige Herausforderung! Wie konnten wir den Gehörlosen eine Wahrnehmung, ein Gefühl der Übereinstimmung mit dem vermitteln, was sie sahen?
„Tango Sentido“, ein Tango für Gehörlose, Sala Zitarrosa, Montevideo, 2019 „Tango Sentido“, ein Tango für Gehörlose, Sala Zitarrosa, Montevideo, 2019 | Foto: Fabián Barros Als erstes galt es herauszufinden, welche Tonfrequenzen sie wahrnehmen können. Es gibt viele Grade der Gehörlosigkeit, aber bestimmte Frequenzen, vor allem tiefe, können beispielsweise aufgrund der Vibration auf dem Fußboden wahrgenommen werden. Darum waren die Teilnehmer*innen barfuß. Eine weitere Hilfe waren Luftballons, die, gegen den Körper gedrückt, ebenfalls bei tiefen Klängen vibrieren. 

Was aber sollten wir mit den mittleren und hohen Frequenzen anfangen? Dafür dachte ich mir einen visuellen Code mit klanglichen Entsprechungen aus. Zum Beispiel verknüpfte ich die Querflöte mit gelben Dreiecken, das Bandoneon mit roten Quadraten, das Klavier mit grünen Sternen und den Kontrabass mit blauen Kreisen. Die Musiker*innen mussten an einer bestimmten Stelle platziert sein, denn ich projizierte die Formen über der jeweiligen Person. Die Formen waren audioreaktiv. Das heißt, wenn die Querflöte spielte, erschienen die gelben Dreiecke, und wenn das Bandoneon spielte, die roten Quadrate. Außerdem gab es Übersetzer*innen für Gebärdensprache. Danach wurden die Gehörlosen zum Tangounterricht eingeladen. Zwei Tangolehrer platzierten die Luftballons zwischen den Teilnehmenden und zeigten ihnen die Grundschritte. Das war eine wunderbare, unvergleichliche und verbindende Erfahrung!

Sie waren außerdem an einem Projekt mit Menschen mit zerebraler Bewegungsstörung beteiligt. Wie gestaltete sich das?

Als Dozent an der ORT Universität in Uruguay habe ich 2019 in einem Workshop für Digitalkunst mit unserer Partnerorganisation Escuela Horizonte, einer Schule für Kinder und Jugendliche mit zerebraler Bewegungsstörung, zusammengearbeitet. Der Antrieb war, dass Teilen der Gesellschaft der Zugang zu spezifischen Inhalten verwehrt bleibt. Wir dachten, dass die Studierenden gut darüber forschen könnten. Bei einem ersten Besuch mit Therapeut*innen und Psychopädagog*innen zusammen wurden die Studierenden stark für das Thema sensibilisiert, es war bewegend. Es sind Realitäten, die keiner sehen will, und oft kommen wir damit nur in Berührung, wenn es um Spenden geht. Das erscheint mir nicht angemessen. Vielmehr sollte Respekt dahinterstehen, Verständnis, was wir tun können um zu helfen, wie wir interagieren können, und sei es nur wegen eines vernachlässigten Marktbereichs.

Mobilität ist für mich ein Schlüsselbereich.

Die Vorschläge für das Projekt waren sehr unterschiedlich. Den ersten nannten wir „Schreimaschine“. Es handelte sich um einen Raum mit Matratzen auf dem Fußboden, in dem die Kinder ausgestreckt daliegen und stimuliert durch Lichter einfach nur schreien. Die Studierenden entwarfen eine Anlage, die als Reaktion auf die Schreie Bilder produzierte: Kreise, Sterne, Farbenspiele. Es war eine Art immersives 3D. Die Kinder begannen, mit dieser Anwendung zu spielen, es war beeindruckend. Ihre Gesichter zeigten, dass sie dabei waren, etwas zu entdecken, von dessen Existenz sie nichts geahnt hatten, es war rührend. Eine andere Gruppe arbeitete mit Kindern, die ihr Spiegelbild erkennen konnten. Verwendet wurden digitale Spiegel, die bei jeder Bewegung der Kinder Elemente ihres Spiegelbildes veränderten, was für sehr viele Überraschungen sorgte.

Welche Möglichkeiten können Räume wie das Metaversum für solche Projekte bieten?

Mobilität ist für mich ein Schlüsselbereich. Die Sensoren sind noch in der Entwicklung, aber schon heute können Menschen mit Beweglichkeit in den Händen, aber nicht in den Beinen, im Metaversum laufen, rennen oder fliegen – ohne jede Begrenzung, nur durch die Bedienung des Steuergeräts.

Bergen diese neuen Technologien auch Probleme und Risiken, wie zum Beispiel die ökonomische Zugänglichkeit und die digitale Kluft?

Meinem Verständnis nach gibt es bei der ökonomischen Frage einen stetigen Fortschritt, wie bei jeder technischen Neuerung, die zunächst sehr teuer ist und mit der Zeit immer billiger wird. Teuer und schwierig ist es heute jedoch, wenn man nicht nur konsumieren, sondern auch produzieren möchte. Insgesamt sehe ich darin aber kein allzu komplexes Problem. Dagegen gibt es hinsichtlich der digitalen Kluft psychische Risiken, würde ich sagen, weil manche Menschen mit der Realitätsverzerrung nicht zurechtkommen oder durch eine alternative Realitätsebene die Verwirrung immer größer wird.

Ich bin aber positiv gestimmt! Das 21. Jahrhundert fasziniert mich, gleichzeitig bin ich mir der Komplexität und Risiken bewusst. Wichtig ist, dass diejenigen, die für diese Bereiche geschult sind und sich dafür begeistern, in der Lage sind, Warnungen auszusprechen und vor allem zu einer nicht rein anwendungsorientierten Kritikkultur gegenüber diesen Medien zu gelangen.