Vertrauen als Konstrukt Der Anfang von allem

Ein junge springt vom Felsen in ein türkisblaues Meer
Urvertrauen meint Selbst-Vertrauen, ein Vertrauen in andere Personen und in die Welt an sich. | Foto: Nikola Radojcic (via Unsplash)

Ohne Vertrauen könnten wir nicht leben. Und doch war der frühe Begriff von Vertrauen nur Teilen der Gesellschaft vorbehalten. Eine kleine Ideengeschichte.
 

Wir tun es minütlich, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Wir vertrauen. Dem Busfahrer, dass er einen Führerschein, Ortskenntnis und Verantwortungsbewusstsein besitzt. Dem Arzt, dass er weiß, wie man einen Blinddarm entfernt. Wir vertrauen dem Verfallsdatum auf der Dosenwurst. Kurz: Wir müssen vertrauen, damit wir unseren Alltag überhaupt bewältigen können, anstatt ganze Tage damit zu verbringen, etwa die Referenzen des Piloten im Urlaubsflieger zu überprüfen. Und wir wollen ja auch vertrauen: auf die Liebe, auf unsere Nächsten, darauf, dass die von uns gewählten Volksvertreter*innen zuverlässig zum Wohle aller agieren und dass die Wettervorhersage nicht irrt, wenn sie einen schönen Tag prognostiziert.

Ritterschlag einer Männerbeziehung

Das klingt, als sei Vertrauen wie Sonne, Mond und Sterne: schon immer und für alle da gewesen. Ein Irrtum. Lange galt Vertrauen als reine Männersache. Angefangen bei den alten Philosophen wie Aristoteles oder Cicero „bis in die hochmittelalterlichen Freundschaftsdebatten hinein“, war Vertrauen so etwas wie der Ritterschlag einer Männerbeziehung, die sich durch „Wahrhaftigkeit und Verantwortlichkeit“ auszeichnete, schreibt die Historikerin Dorothea Weltecke. Diesem ersten Vertrauensnachweis entsprechend weist das Etymologische Wörterbuch für den Begriff auch eher virile Wurzeln aus. Demnach handelt es sich um einen substantivierten Infinitiv, der als „vertruwen“ bereits im Mittelhochdeutschen vorkam. Gebildet aus einem präfigierten Verb „fertruen“, das seit dem Althochdeutschen belegt ist. Gemeinsam mit einem Bündel gemeingermanischer Begriffe gehört Vertrauen zu einer Wortfamilie, die sich auf Indogermanisch „deru“ (Eiche, Baum) bezieht und „stark, fest, hart wie ein Baum“ bedeutet, so Weltecke.

Im 18. und 19. Jahrhundert stand Vertrauen endlich auch den Frauen zu und zwar nicht nur als „Gottvertrauen“, sondern als Freundschaftsnachweis, als Synonym für vor allem auch körperliche Nähe, so die Historikerin Ute Frevert. Vertrauen materialisierte sich „durch Mitteilung von Heimlichkeiten, Geheimnissen etc.“. Pflegte man einen „vertrauter“ Umgang, „legte Vertrauen an den Tag“ oder wechselte „vertraute Briefe“, sei das in der Regel Ausdruck gleichgeschlechtlicher Beziehungen gewesen.

Urvertrauen in die Welt an sich

Um sich andere nahe gehen zu lassen, brauchte man etwas, das man als den Anfang aller Beziehungsfähigkeit bezeichnen kann: das Urvertrauen. Den Begriff prägte der Freud-Schüler und Entwicklungspsychologe Erik H. Erikson. Das „Gefühl des Sich-Verlassen-Dürfens“ war für ihn eines, das auf Erfahrungen im ersten Lebensjahr basiert. Wenn das Kind eine zuverlässige, liebevolle Versorgung durch eine möglichst konstante Bezugsperson erlebe, entwickle es ein grundsätzliches Selbst-Vertrauen, ein Vertrauen in andere Personen, in die Welt an sich. Fehlt dagegen das Urvertrauen, sagt man Sätze wie „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“. Dieses Lebensmotto der pathologisch Misstrauischen wird gewöhnlich Lenin in den Mund gelegt. Tatsächlich soll es auf eine alte russische Redewendung zurückgehen, die zu den Lieblingssätzen von Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin gezählt habe: „Dowjerjaj, no prowjerjaj“ (etwa: Vertraue, aber prüfe nach).

Whistleblower mit Mut zum Vertrauensbruch

Klar, Judas, Brutus und Legionen von gebrochenen Herzen belegen, welche Verheerungen der Vertrauensbruch hinterlassen kann. Aber er hat auch gute Seiten. Wenn Whistleblower unter Einsatz ihrer eigenen Existenz wichtige Informationen an die Öffentlichkeit bringen und so das Vertrauen jener enttäuschen, die sich auf ihre Verschwiegenheit verlassen haben. Der erste Whistleblower soll Carl von Ossietzky im Jahre 1929 gewesen sein. In einem Artikel deckte er die Aufrüstung der Reichswehr auf, was Deutschland nach dem Ende des Ersten Weltkriegs verboten worden war.

Vertrauen ist nicht per se gut, wie Misstrauen per se nicht schlecht sein muss. Wir brauchen beides und beides braucht Wissen und Erfahrung, um nicht „blind“ zu sein. Und um zu verstehen, dass gerade Vertrauenskrisen Vertrauen stärken. Bevor ich nicht weiß, wie sich etwa eine Freundin in einem Streit verhält, oder ob sich ein Rechtssystem bewährt, wenn wir unsere Rechte einklagen müssen, kann ich nicht wirklich vertrauen, so Rainer Forst. Der Professor für Philosophie und Politische Theorie an der Goethe-Universität Frankfurt, Träger des Leibniz-Preises, befasst sich im Rahmen der Forschungsinitiative ConTrust – Vertrauen im Konflikt intensiv mit Vertrauensfragen und sagt: Vertrauen finde gerade dort, wo Menschen sich auch in Konflikten über alle Gräben hinweg austauschen und verständigen können, überhaupt erst ideale Wachstumsbedingungen. Vorausgesetzt, man begegnet jenen, die vielleicht anders sind, andere Meinungen haben, andere Interessen verfolgen, kooperativ, mit Vertrauen darauf, dass auch sie nur das Beste wollen: ein friedliches Zusammenleben über alle Hürden hinweg. Am Ende ist das immer noch das Klügste. Denn ohne Vertrauen könnten wir weder befreundet sein, noch lieben, heiraten, Kinder bekommen oder auch nur in den Bus steigen, der uns zur Arbeit fährt – weil niemand auf diesem Planeten uns garantieren kann, dass das alles ganz bestimmt gut ausgehen wird.