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Kuhmilch mit Prager Beigeschmack

Foto: Martin Nejezchleba

Wie Söhne vietnamesischer Einwanderer die Straßenmode nach Hanoi brachten

Foto: Martin NejezchlebaAnton und Honza haben keine Zeit. Ständig klingelt einem von beiden das Handy. Sie installieren Leuchten, gehen den Handwerkern zur Hand, die mit Bohrern und Hämmern bewaffnet zwischen den ersten Kunden im halbfertigen Laden umher irren, geben Anweisungen. Neben Umzugskartons warten Angestellte in neonfarbenen Tennisschuhen und mit riesigen, schwarzen Brillengestellen auf ihre Lohnauszahlung. 

Anton und Honza sind gerade dabei, die bislang größte der insgesamt sieben Filialen ihres erfolgreichen Streetwear-Shops zu eröffnen: „Boo citi“ soll eine Art Zentrale werden – zwei Läden, ein Café und Büros für Designer und Kreative. „From dream to reality“ steht auf den Flyern zur Einweihungsparty. Ihren Traum verwirklichen sich die Zwillinge an einer der unzähligen, in Moped-Gehupe und Auspuffgasen versinkenden Kreuzungen der vietnamesischen Hauptstadt Hanoi. Dort heißt Anton Viet Anh und Honza Viet Hung.

Skaten unter Lenins strengem Blick

Vor zwanzig Jahren zogen die Brüder mit ihren Eltern nach Prag, gingen hier zur Grundschule, dann aufs Gymnasium. Von ihren Lehrern bekamen sie – wie viele vietnamesische Einwanderer – tschechische Spitznamen. Honza wurde zum Skateboarder als seine Eltern nach Vietnam zurückkehrten. Für die Fachoberschule blieb da nur noch wenig Zeit. „Wir hatten riesiges Glück, dass unsere Eltern uns große Freiheiten gelassen haben“, sagt Honza beim Mittagessen in einem Hanoier Straßenimbiss. In den meisten, traditionell eingestellten vietnamesischen Familien sei das undenkbar, fügt er hinzu und tunkt das frittierte Stück Tofu zwischen seinen Stäbchen in eine streng riechende Krabbensoße.

Sein Vater – mit tschechischem Spitznamen ebenfalls Honza und eines der aktivsten Mitglieder des Vereins für vietnamesisch-tschechische Freundschaft – begann sich nach zwei Jahren Sorgen um die Zukunft seiner Söhne zu machen und rief die Brüder zurück in die alte Heimat. Zunächst kam Viet Anh. Er nahm sich ein Beispiel an seinem Bruder und fing als einer der Ersten in Hanoi an, unter dem strengen Blick Lenins seine Skateboard-Tricks zu üben. Wenn abends die subtropischen Temperaturen auf einigermaßen erträgliche Werte sinken versammeln sich auf dem weitläufigen Platz um die Statue des Kommunisten-Führers Fußballspieler, Breakdancer und eben eine wachsende Schar an Skateboardern. Die Hauptstadt der Sozialistischen Republik Hanoi platzt aus allen Nähten und bietet nur wenig Platz für solche Hobbys.

Foto: Martin NejezchlebaSchnell stellte Anton fest, dass es in der Metropole weder neue Bretter, noch passende Skatermode zu kaufen gab. Als ein Jahr später auch Honza aus Tschechien zurückkam, haben sich die Brüder Geld von ihrem Vater geliehen und kurzerhand ihren eigenen Skateshop aufgemacht: Der trägt den Namen „Boo“ und im Logo die Silhouette einer Milchkuh.

„Wir wollten den jungen Vietnamesen einen neuen modischen Impuls geben – aber auch neue Denkanstöße“, sagt der hagere Viet Anh. Hin und wieder kommt der Dreißigjährige ins Stocken und fragt nach dem richtigen Wort im Tschechischen. Heute trägt er ein T-Shirt der eigenen Marke „Bò Sữa“: Auf hundertprozentiger Baumwolle steht das vietnamesische Wort für „Ich“, ein Herz und ein Tropfen. „Im Vietnamesischen kann man das entweder als Wasser lesen, also als Symbol für die Natur, oder als Erde, also Heimat“, erklärt Honza mit perfektem Prager Akzent. Sein Bruder Anton nickt und saugt die letzten Tropfen eisgekühlten Grüntees durch seinen Strohhalm. Er erklärt, warum gerade dieses T-Shirt symbolisch für die Philosophie seines Unternehmens ist: „Wir wollen den Vietnamesen die Augen öffnen für Dinge, an die hier heute noch keiner denkt: Umweltschutz, soziales Engagement aber auch Stolz auf Vietnam.“

Wichtigere Dinge als Reichtum

Als 2003 der erste „Boo Skateshop“ aufmachte schrieb die vietnamesische Wirtschaft sensationelle Wachstumsraten. Im ehemals verschlafenen Hanoi schießen heute verglaste Hochhäuser und Einkaufszentren wie Pilze aus dem Boden. Westliche Markenartikel kämpfen auf blinkenden Billboards um die Aufmerksamkeit der Einwohner; Seite an Seite mit Propagandaplakaten der kommunistischen Einheitspartei. In dieser Stadt wächst eine Generation von Mittelschichtskindern heran, die verrückt ist nach den smarten Designs von „Bò Sữa“. „Übersetzt heißt das soviel wie Kuhmilch; also das Produkt eben jener Kuh aus dem Logo des ersten Ladens“, erklärt Viet Anh.

Foto: Martin Nejezchleba„Bò Sữa“ hat heute über Hundert Angestellte und unterstützt die hiesige Zweigstelle der Naturschutz-Organisation WWF sowie das vietnamesische Zentrum für Umwelterziehung. „Der Großteil unserer Gesellschaft hat heute nur ein Ziel: Reichtum. Es gibt doch aber wichtigere Dinge“, breitet Viet Anh seine Unternehmens-Philosophie weiter aus. Die dreht sich um Wertvorstellungen, die teils völlig fremd sind für seine Klientel. So ernten die Verkäufer oft kritische Blicke, wenn sie ein T-Shirt in einer ökologischen Papiertasche über den Ladentisch schieben. Nicht Wenige verlangen dann nach den im Tropenregen bewährten Plastiktüten.

Viet Anh und Viet Hung wissen, dass sie einen langen Weg vor sich haben. Auf dem würden sie sich gerne noch einen weiteren Traum erfüllen: „Irgendwann möchten wir einen Laden in Prag haben. Damit auch die Tschechen sehen, dass wir Vietnamesen innovative und einzigartige Mode machen, dass wir auch etwas anderes können, als Markenklamotten zu fälschen.“

Martin Nejezchleba 

Copyright: Goethe-Institut Prag 
Dezember 2011

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