Menschliche Grausamkeit des 20. Jahrhunderts

Argo

Der Comic „Wir sind noch im Krieg“ („Ještě jsme ve válce“) erzählt die Geschichten von Menschen, deren Leben durch Rache, Ideologie und der Angst vor sich selbst zerstört wurden.

„Der letzte Flug“ ist eine der 13 Geschichten im Comicbuch „Wir sind noch im Krieg (Ještě jsme ve válce)“. © Argo

Der 2011 erschienene Comic-Sammelband „Wir sind noch im Krieg“ behandelt die schmerzhaftesten und kontroversesten Etappen der tschechoslowakischen Geschichte. Dabei werden jedoch keine alten Wunden aufgerissen. Vielmehr werden auf eine unverbrauchte Art und Weise die Geschichten von Menschen beschrieben, deren Leben für immer von Nazi-KZs, kommunistischen Straflagern, Kriegsfronten oder auch von den schwierigen Jahren im Widerstand gezeichnet wurden.

Dreizehn reale Menschen haben ihre realen Geschichten den Dokumentaristen der gemeinnützigen Organisation Post Bellum anvertraut. Diese zeichnet seit 2001 Interviews mit Zeitzeugen auf und veröffentlicht sie auf dem 2008 gegründeten Internetportal Paměť národa (Gedächtnis der Nation). So entsteht eine wertvolle Sammlung von Zeugnissen mit dem Titel Příběhy 20. Století (Geschichten des 20. Jahrhunderts), die auch in der gleichnamigen Reihe des Tschechischen Rundfunks regelmäßig gesendet werden.

Für das Buch Wir sind noch im Krieg schöpften aus dieser Sammlung von Zeitzeugenberichten drei Dramaturgen (Mikuláš Kroupa, Adam Drda, David Bartoň) und vor allem dreizehn tschechische und slowakische Spitzenzeichner. Jede Geschichte erscheint deshalb in einer eigenen grafischen Gestalt und entwickelt ein spezifisches Tempo. Und jede Geschichte spielt auch in einer anderen Zeit. Dennoch gibt es viel Gemeinsames. Vor allem zeigen die Episoden, dass die verbrecherischen Ideologien des vergangenen Jahrhunderts von einer unbegreiflichen menschlichen Grausamkeit genährt wurden, die nicht nur die Angehörigen des totalitären Apparates ausübten: Der deutsche Soldat musste das jüdische Kind nicht verprügeln, trotzdem tat er es; die Stasi-Leute schickten den Familien der Gefangenen deren blutgetränkte Kleidung und schließlich waren die tschechischen Kollaborateure nur in der Lage sich selbst zu retten, indem sie ihre unschuldigen Nachbarn erschlugen.

Das Buch beginnt mit der Geschichte des Generals Tomáš Sedláček, der nach dem Zweiten Weltkrieg an eine glückliche Zukunft der Tschechen und Slowaken glaubte. Gewaltiger hätte er sich nicht irren können. Nach dem kommunistischen Umsturz im Jahre 1948 wurde er zur Persona non grata. Die Tatsache, dass er ein Kriegsheld war, spielte dabei keine Rolle. Aufgrund erfundener Vorwürfe verbrachte er zehn Monate in Untersuchungshaft. Neun Tage und Nächte durfte er in seiner Zelle nicht schlafen. Zwei Monate musste er laufen. Drei Monate verbrachte er in absoluter Isolation ohne Kontakt zu lebenden Menschen. Als er 1960 im Rahmen der großen Amnestie entlassen wurde, hat er die Welt nicht wiedererkannt. Und die Welt hat ihn nicht mehr gekannt.

Ins Unbekannte verschlug es auch Jiřina Tvrdíková in der Geschichte des Zeichners Vojtěch Šeda, dessen visueller Stil an die derbe Krimi-Reihe Sin City von Frank Miller erinnert. Tvrdíková hat während der Nazi-Okkupation ihr Glück in Russland gesucht. Dort wurde sie jedoch der Spionage beschuldigt und in einen Gulag verbannt, wo ihr eine russische Prostituierte das Leben rettete.

Eine weitere starke Frauengeschichte erzählt in diesem Band ein Mädchen mit dem Pseudonym Anna F., das ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert wurde. Später hob sie gemeinsam mit ihrer Mutter beim Lager Stutthof Gräben aus, wo sie von SS-Männern brutal zusammengeschlagen wurden. Ihre Geschichte ist vor allem ein herzzerreißendes Zeugnis der Mutterliebe, die auch Gaskammern, Selektionen und dem allgegenwärtigen Tod widerstehen kann.

Sinnlose Gewalt

Die Geschichte von Rudolf Bělohoubek erzählt von der sinnlosen Gewalt, die nach dem Krieg an den Deutschen und Kollaborateuren ausgeübt wurde. Wegen niedrigster Instinkte, stumpfer Rachegelüste und Blutrünstigkeit verlor er seine Eltern, die der wütende Mob nahezu vor seinen Augen ermordete. Die traurige Tatsache dabei ist, dass Bělohoubeks Eltern gar keine Kollaborateure waren. Genauso wenig wie der

deutsche Industrielle Adolf Lange, der zahlreiche Tschechen vor der Besatzungsmacht versteckte. Auch er wurde gemeinsam mit den Eltern von Rudolf Bělohoubek getötet. Der Grund? Er wurde unbequem, weil wusste, wer die tatsächlichen Täter waren.

Eine zumindest visuelle Verschnaufpause stellt die Comic-Geschichte über Leopold Farber dar, der den Spitznamen Hurvínek hatte. Farber gehörte zum antideutschen Widerstand und hatte nach dem Februarputsch auch keine Angst vor den Kommunisten. Seine Eskapaden schildert der Zeichner mit dem Pseudonym Vhrsi in einem humorvollen, farbigen, einfachen und fast schon märchenhaften Stil, der entfernt an Čtyřlístek [Tschechische Comicreihe für Kinder, Anm. d. Red. ] von Jaroslav Němeček erinnert. Die visuelle Gestalt steht aber im scharfen Kontrast zur Handlung und den Dialogen. Es ist gerade Farber, der in seiner Geschichte über die Grausamkeit der Menschen nachdenkt, die dem System dienen – als hätte das Regime die unmenschliche Seite, die Lust am Quälen anderer, geweckt.

Er hat unterschrieben, sie nicht

Einen scharfen Kontrast stellen auch die Geschichten des Stasi-Spitzels Petr Berounský (der Name wurde von den Autoren geändert) und der inhaftierten jungen Mutter Miluška Havljůvová dar. Berounský unterschrieb eine Verpflichtungserklärung zur Zusammenarbeit mit der Staatssicherhei. Laut den Buchautoren hat er jedoch diese Zusammenarbeit bagatellisiert. Er gab an, nicht zu glauben, dass er jemandem bewusst geschadet habe. Er hätte Angst gehabt, seine Arbeit zu verlieren und befürchtete, dass seine Tochter nicht im Kindergarten angenommen wird. Deshalb unterschrieb er.

Allerdings hätte sich genau das Gleiche Miluška Havljůvová sagen können, als sie als Tochter eines Widerstandskämpfers im Zweiten Weltkrieg von den Kommunisten verhört wurde und ihr zweijähriger Sohn Tomáš im Nebenraum weinte. Havljůvová ging jedoch nicht in die Knie, sie unterschrieb nicht, obwohl sie die Kommunisten von ihrem Sohn trennten und ins Gefängnis sperrten. Ihre Heldenhaftigkeit und moralisches Rückgrat sind eine Antwort an alle „Informellen Mitarbeiter“ des kommunistischen Apparats, die ihre Zusammenarbeit mit der Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und Sorge um die Ausbildung ihrer Kinder entschuldigen. Das Verhalten Havljůvás widerlegt diese Argumente und Entschuldigungen eindeutig.

Alle Geschichten in Wir sind noch im Krieg sind es wert, dass man immer wieder an sie erinnert. Die Autoren und Dramaturgen der Comics sind dabei gegenüber den Akteuren der Geschichten keineswegs servil und heben sie nicht auf einen Sockel. Sie haben keine Angst zu schreiben, dass einige Zeitzeugen bereits an Gedächtnisschwund leiden und dass ihre Aussagen auf mühselig überprüft werden mussten. Auch deshalb sind die Comic-Geschichten angenehm nüchtern, direkt, unpathetisch und überhaupt nicht unterwürfig – manchmal scheint sogar eine leichte Ironie durch. Hin und wieder nimmt die Nüchternheit aber Überhand. Dann, wenn die für das Comicformat notwendige Straffung und Vereinfachung einige Schicksale eher wie Skizzen und nicht wie vollwertige Geschichten wirken lässt.

Übersetzung: Ivan Dramlitsch

Copyright: Goethe-Institut Prag
Mai 2013
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