Nie unbeschwert essen

Foto: Johanna Albert, CC BY-NC-SA 2.0Foto: colourbox.de
Es war vor zwölf Jahren, als Elisabeth Schmidt* zum ersten Mal massiv an Gewicht verlor. 25 Kilo nahm die damals 15-Jährige innerhalb weniger Monate ab. Ein Jahr später fand sie sich in einer Jugendpsychiatrie wieder. Die Diagnose: Anorexie – Magersucht. Die Gründe für ihre Erkrankung kann Elisabeth heute mit Abstand reflektieren. Vor allem eine vielzitierte Ursache hatte ihre Essstörung nicht: Das von der Werbeindustrie geprägte Schönheitsideal des schlanken Mädchens.

Es ist überraschend einfach, Elisabeth für ein Gespräch über ihre therapierte Essstörung zu gewinnen. Eigentlich sei sie froh, einmal öffentlich über das Thema sprechen zu können, sagt sie. Mit manchen Vorurteilen wolle sie gern aufräumen: „Immer wieder lese ich, dass das von den Medien transportierte Schlankheitsideal zu Magersucht bei Jugendlichen führe. Es ist unglaublich, worauf junge Frauen – und auch Männer – damit reduziert werden. Darauf nämlich, zu blöd zu sein, um ein von der Werbeindustrie vorgegebenes Bild kritisch zu hinterfragen.“

„Es sind nicht die Castingshows“

Kurz vor unserem Gespräch hat Elisabeth einen Artikel gelesen, in dem argumentiert wurde, die Sendung Germany’s next Topmodel treibe junge Mädchen in den Schlankheitswahn. Solche Darstellungen verursachen bei der ehemals Betroffenen leidenschaftliche Verärgerung: „Es sind nicht irgendwelche Castingshows, in denen schlanke Mädchen, die nach medizinischen Maßstäben schon untergewichtig sind, ihre Figur noch weiter ‚optimieren‘ sollen, um Model werden zu können, die dazu führen, dass Jugendliche sich ungeliebt fühlen, wenn sie ein paar Kilo zu viel auf der Waage haben“, sagt Elisabeth. „Es ist die Gesellschaft, die ihren Kindern nicht beibringt, dass es nicht um ihr Aussehen geht. Und die ihnen auch nicht beibringt, mal ein bisschen nett zu einander zu sein.“

Wenn Elisabeth über ihren eigenen Fall spricht, gewinnt man teilweise den Eindruck, es ginge um eine andere Person. Von einer „konservativen Familiengeschichte“ spricht die 27-Jährige, von Leistungsdruck, Mobbing und fehlender Zuneigung. „Nie gesagt zu bekommen, dass man geliebt wird – und dass einem nicht beigebracht wird, sich selbst wertzuschätzen“, sei für ihre erste Depression ein ausschlaggebender Faktor gewesen. Und über Selbstkontrolle: „Es macht einen natürlich auch ein bisschen stolz, wenn man sich so sehr unter Kontrolle hat, dass man nichts essen muss. Das ist etwas, das nicht jeder kann. Man sagt damit: ‚Seht her!‘ Binnen kürzester Zeit fühlt man sich trotzdem wieder schlecht.“

Vielfältige Ursachen

Das westliche Schönheitsideal könne jedoch durchaus ein relevanter Risikofaktor für Magersucht sein, sagt Thomas J. Huber, Chefarzt an der auf Essstörungen spezialisierten Klinik am Korso im westfälischen Bad Oeynhausen. „Wir wissen von einer Untersuchung auf den Fidschi-Inseln, dass die Einführung westlichen Fernsehens mit der entsprechenden Propagierung eines überschlanken Schönheitsideals nicht nur das dort herrschende Schönheitsideal deutlich in Richtung dünner verschoben hat, sondern im zeitlichen Zusammenhang auch Körperunzufriedenheit und gestörtes Essverhalten deutlich zugenommen haben. Insofern spielt unser Schlankheitsideal eine gewichtige, aber sicherlich nicht die einzige Rolle“, führt der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie aus. Der Konsum von Sendungen wie Germany’s next Topmodel könne einen negativen Einfluss auf die eigene Körperzufriedenheit und das Selbstwertgefühl haben. Jedoch unterstreicht auch er: „Anorexia nervosa ist eine Erkrankung, bei der erbliche Einflüsse, Persönlichkeitsfaktoren, unser westliches Schlankheitsideal und die persönliche Entwicklung und Lebensgeschichte nur einige von den bekannten Risikofaktoren darstellen. Die Ursachen sind so vielfältig wie es die Menschen sind.“

Elisabeths Essstörung war eine Reaktion auf die Depression, die sie schon lange vorher hatte. „Das Problem, wenn Jugendliche plötzlich anfangen nichts mehr zu essen, ist ja, dass es von den Eltern oft nicht ernst genommen oder gar nicht erst bemerkt wird.“ Hinzu gekommen seien Menschen in ihrem familiären Umfeld, „die niemals die Chance aufkeimen ließen, dass ein gesundes, normalgewichtiges Kind, ein realistisches Körperbild entwickeln kann.“ Von klein auf sei ihr von den Großeltern eingeredet worden, dass sie zu dick sei. „Ich hatte noch nie ein unbeschwertes Verhältnis zum Essen“, sagt sie.

Frank Spilker, Sänger der Hamburger Band „Die Sterne“, verarbeitete in einigen Liedtexten das Thema Magersucht.

Minimalgewicht: 41 Kilo

Elisabeths Problem blieb in der Familie lange Zeit unerkannt. Sie war eine Einserschülerin. Im Vergleich zu den Geschwistern schien sie nach einem Umzug in eine andere Stadt gut mit dem Schulwechsel umzugehen. Ihre Eltern hatten keinen offensichtlichen Grund, sich um sie zu sorgen. Als sie immer tiefer ins Untergewicht rutschte, riet ihr der Vater, „doch einfach wieder zu essen“. Ein Ratschlag, der ignorant klingt, den Elisabeth aber so ähnlich auch aus Therapien kennt. „Es werden halt zunächst die Symptome therapiert, nicht die Ursache. Es ist ja auch richtig, erst mal die offensichtliche, selbstzerstörende Essproblematik anzugehen. Leider ist nur der Fokus eben oft so sehr darauf, dass vergessen wird, dass danach erst die Arbeit so richtig ans Eingemachte geht.“

Elisabeths niedrigstes Gewicht lag bei 41 Kilo. Das war, als sie 19 war und gerade ein Semester studiert hatte. Ein anstrengendes Fach an einer renommierten Uni – Elisabeth erhoffte sich mit der Studienwahl auch Anerkennung von ihren Eltern. „Mein Selbstwertgefühl war in dieser Zeit auf einem Tiefpunkt“, sagt sie. Was folgte, war ihr längster stationärer Klinikaufenthalt. Fünf Monate befand sie sich in einer Erwachsenenklinik – für Elisabeth im Nachhinein eine ambivalente Erfahrung.

Kliniken, in denen Essstörungen therapiert werden, arbeiten mit sogenannten Therapieverträgen. Untergewichtige, bei denen eine Anorexie festgestellt wurde, unterschreiben darin unter anderem, dass sie während des Klinikaufenthalts ein Kilo pro Woche zunehmen. Werden die vertraglich festgehaltenen Abmachungen nicht eingehalten, kann der Patient vorzeitig aus der Therapie entlassen werden. Auch bei Elisabeth kam es zu einem Vorfall, nach dem sie zur „Motivationsüberprüfung“ eine Woche lang die Klinik verlassen musste. Kurz vor Weihnachten wurde sie ganz entlassen. „Zu früh“, sagt sie. Sie wog 48 Kilo.

Hohes Rückfallrisiko

Dann ging wieder alles ganz schnell: die Überforderung, der Druck, endlich wieder gesund zu sein. Die Angst, zuzunehmen. Elisabeth kaufte sich Abführmittel, um an Weihnachten essen zu können, ohne zuzunehmen. „Richtig dumm“, sagt sie heute. Die Methode, die eine andere Patientin aus der Klinik jahrelang angewandt hatte. „Von alleine wäre ich wohl nie darauf gekommen“, sagt Elisabeth.

„Essstörungen sind prinzipiell chronische Erkrankungen mit einem hohen Rückfallrisiko, wenn äußere oder innere Belastungsfaktoren auftreten oder sich verschlimmern. Oft kann es auch als Therapieerfolg gewertet werden, wenn jemand das Wiederauftreten symptomatischer Gedanken oder Verhaltensweisen selbst bemerkt und dann gegensteuern kann“, erklärt der Psychiater Huber.

Die Gegensteuerung funktionierte bei Elisabeth zunächst nicht. In den Jahren nach ihrem Klinikaufenthalt schwankte sie immer wieder zwischen Unter- und Übergewicht. „Entweder habe ich extrem viel gegessen oder eben gar nicht.“ Die beiden Extreme hatten jedoch immer dieselbe Ursache: das Gefühl des Alleinseins und der Wertlosigkeit. Doch ungeachtet der gemeinsamen Ursache gebe es einen Unterschied, sagt Elisabeth: „Wenn man maßlos Essen in sich hereinstopft, macht man das ja eher heimlich. Das kontrollierte Nichtessen hingegen eher öffentlich. Das ist ja oft auch als Signal an die Umwelt gemeint: Bei mir stimmt etwas nicht. Ich halte es für falsch, es gleich als vorübergehende Phase abzustempeln, wenn Eltern bei ihren Kindern einen zwanghaften Verzicht auf Essen beobachten. Man muss sich doch nur einmal vor Augen führen, dass auch Erwachsene an Essstörungen leiden, um zu verstehen, dass eben oft eine ernsthafte seelische Erkrankung dahintersteckt.“

Schlechte Gedanken durch gute ersetzen

Dass es ihr heute gutgeht, hat viel mit zwei Fähigkeiten zu tun, die Elisabeth in ihren Therapien gelernt hat. Es gelingt ihr nun schlechte Gedanken wie solche über Einsamkeit und eine vermeintliche mangelnde Beliebtheit durch gute zu ersetzen. Und sie kann mittlerweile ihren eigenen Willen artikulieren, ohne sich dabei aufmüpfig zu fühlen.

Nach ihrem langen Klinikaufenthalt wagte Elisabeth etwas, das für andere selbstverständlich ist: Sie begann ein Studium in einem Fach, das sie faszinierte und das sie nicht wählte, um zum Prestigegewinn ihrer Familie beizutragen. Sie nahm wieder zu und stellte überrascht fest, dass die Menschen in ihrem Umfeld sie trotzdem mochten. „Es gelingt mir zwar nicht immer, positiv zu denken. Aber dass ich in einer stabilen psychischen Situation bin, die ich mir selbst erarbeitet habe, hilft mir natürlich.“

*Name von der Redaktion geändert


Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
Juli 2014

    Themen auf jádu

    Gemischtes Doppel | V4

    Vier Kolumnisten aus der Slowakei, Tschechien, Polen und Ungarn schreiben über die Bedeutung Europas, Rechtspopulismus, nationale Souveränität, gesellschaftlichen Wandel, die Arroganz des westlichen Blicks – und brechen damit staatliche und gedankliche Grenzen auf. Mehr...

    Heute ist Morgen
    Oder ist es umgekehrt?! Und war nicht auch gestern schon mal Morgen? In was für einer Welt wollen wir gerne leben? Und wie lange wollen wir warten, bis sie Wirklichkeit wird? Mehr...

    Im Auge des Betrachters
    … liegt die Schönheit. Da liegt aber auch die Hässlichkeit – und alles dazwischen. Als Betrachter sind wir jedoch nur selten allein. Und als Betrachtete sowieso nicht. Mehr...

    Dazugehören
    Seit gesellschaftliche Akteure jeder Couleur ihre Forderung nach Integration einem Mantra gleich herunterbeten, gerät viel zu oft in Vergessenheit, dass Integration ein individueller Prozess ist, der auch von uns selbst etwas verlangt. Mehr...

    Themenarchiv
    Ältere jádu-Schwerpunkte findest du im Themenarchiv. Mehr...