Drehtür statt Schleuse

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Fenster der Justizvollzugsanstalt in Chemnitz, Foto: gravitat OFF, CC BY 2.0

Laut Bundesministerium der Justiz waren 2015 rund 60.000 Menschen in deutschen Justizvollzugsanstalten (JVA) untergebracht, gut 95 Prozent davon sind männlich. Wer entlassen wird, steht aber meist alleine vor der Mammutaufgabe Resozialisierung – und dem Kampf mit sich selbst.

Zweimal saß Paul* bereits in Haft. Wenn er von seiner Entlassung spricht, klingt es zunächst fast wie die Zeit nach einem langen Krankenhausaufenthalt: Erstmal etwas richtig Gutes essen, Erledigungen machen, durch die Stadt bummeln. Dass er gerade aus einer JVA kommt, sieht ihm natürlich niemand an: „Trotzdem ist es, als ob du gerade von einem anderen Planeten kommst und dich jetzt ganz unauffällig bewegen musst.“

„Reizüberflutung vom Feinsten“

Paul kommt im Frühjahr frei, ganz oben auf seinem Merkzettel stehen – wie bei der Mehrzahl der Entlassenen – Wohnungssuche, Behördengänge und der Wunsch nach einem Job. Das Jobcenter rät ihm, erstmal anzukommen, er solle sich in einem halben Jahr noch einmal melden. Denn die Reizüberflutung der ersten Tage ist enorm, der Knast steckt noch ein Stück weit in ihm drin: „Ich bin aufgewacht und gucke zur Tür: Geil, kein Schlüsselgeklapper! Weiterschlafen, herrlich! Das dauert auch ’ne Zeit, bis man angekommen ist und diesen Alltag aus dem Kopf raushat. Ganz komisch ist das – du bist entlassen? Und 24 Stunden später denkst du: Gestern um diese Zeit... Das ist ganz eigenartig.“ Denn plötzlich entscheidet keiner mehr darüber, wann Paul aufstehen muss, was es zu Essen gibt, wann er Besuch empfangen darf - schlagartig muss er seine freie Zeit selbst füllen und strukturieren.

Fachleute sprechen vom „Entlassungsloch“, einer Art Kulturschock – der einst selbstverständliche Alltag in Freiheit ist befremdlich geworden. Paul befolgt jedoch den Rat des Jobcenters. Er zieht in ein anderes Bundesland und klinkt sich für sechs Monate aus: „Ich bin raus in die Natur gefahren, ich hab einfach das Leben genossen. Mir einfach Zeit genommen zum Abstand nehmen, sich sammeln. In der Natur kann man dann tatsächlich auch mal abschalten.“

Je nach Haftlänge beginnt die Resozialisierung in der Regel ein halbes Jahr vor Ende der Haftzeit. Auf Antrag gelangt man dazu in den offenen Vollzug – von dort können die Häftlinge tagsüber die JVA verlassen, um Termine wahrzunehmen, Unterlagen zu beantragen sowie eine Wohnung oder eine Arbeit zu suchen. Doch oft werden die Anträge auf offenen Vollzug auch abgelehnt. Dann bleibt den Inhaftierten nur, ihre Unterlagen und Anfragen per Briefpost zu schicken. Internet, E-Mails und Handys gibt es in den JVA nicht für Häftlinge, und Telefonate gehen nur von draußen nach drinnen.

Straftaten begehen sich zwar nicht von selbst. Dennoch wird von den Häftlingen vieles erwartet, was auch schon vorher im Alltag Probleme bereitete. Fehlt dann draußen der sogenannte soziale Empfangsraum aus Familie, Freunden oder Kollegen, fühlen sich die Entlassenen von Sozialarbeitern und Behörden alleingelassen. Der große Druck, sich schnellstmöglich wieder in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren, überfordert dann schon nach nur wenigen Tagen – ein Drittel aller Entlassenen wird laut Expertenmeinung rückfällig. „Es gibt so viele Leute, für die die Tür vor der Anstalt Drehtür ist statt Schleuse, das ist schon Wahnsinn“, sagt Paul. Gelungene Wiedereingliederung sei für ihn daher auch Prävention neuer Straftaten – „Resozialisierung fängt im Kopf an“, sagt er.

Trailer zum Dokumentarfilm “Nach Wriezen” des Filmemachers Daniel Abma über die Entlassung drei junger Männer aus der Haft

Professionelle Entlassenenhilfe zwischen Flughafen und JVA

In der Tat finden sich nicht alle Entlassenen wieder in Freiheit zurecht oder haben die Kraft für einen konsequenten Neubeginn. Michael Pehlgrimm, Vorstandsvorsitzender des Vereins „Mein soziales Berlin e.V.“ in Berlin-Reinickendorf kümmert sich mit seinem kleinen Team seit Juni 2015 um die Betreuung von Inhaftierten, Haftentlassenen sowie Asylbewerber*innen. Der Verein, eingebettet zwischen den Ferienfliegern des Flughafens und der JVA Tegel, ist eine von etwa 18 Einrichtungen in der Hauptstadt. Bundesweit gibt es mehr als 400 Anlaufstellen für Häftlinge, Entlassene sowie ihre Angehörigen, in denen sie Hilfe und Beratung erhalten.

Geplant war die Vereinsgründung von „Mein soziales Berlin e.V.“ nicht – vielmehr war sie Reaktion auf den gewaltigen Zulauf an Klienten mit Hafterfahrung, der aus dem Jobcenter Reinickendorf in die Firma strömte, für die Pehlgrimm und seine Mitarbeitern weiterhin tätig sind: „Die Leute brauchten dringend Hilfe und wir wussten nicht, wo wir mit ihnen hin sollten. Wir konnten aber nicht einfach sagen: Das ist nicht unser Problem.“ Pro Monat führt der Vereinsvorsitzende circa 120 bis 150 Beratungen durch. Hinzu kommen etwa 20 bis 40 Telefongespräche, gut ein Dutzend Besuche in den JVA, Kontaktpflege zu den Haftanstalten, Antragsbearbeitung sowie oft große Mengen Briefpost, die er am Wochenende erledigt. Das Pensum reißt kaum ab, denn aktuell kommen auf einen Sozialarbeiter in der JVA Tegel etwa 70 bis 80 Häftlinge.

Migranten und Frauen trifft es besonders hart

Paul hat bei hohem Krankenstand schon bis zu 200 Häftlinge pro Sozialarbeiter gezählt. Individuelle Unterstützung bleibt dadurch schnell auf der Strecke, besonders hart trifft es Inhaftierte mit Migrationshintergrund, obwohl Vereine wie „Mein soziales Berlin“ auch mehrsprachigen Service anbieten. So stellt Michael Pehlgrimm fest, dass diese Klienten „keine Hilfe wollen und denken, sie können die Resozialisierung alleine schaffen. Daraus resultiert leider, dass es oft zu Rückschlägen und auch eventuell wieder zu neuen Straftaten kommt.“

Unsichtbarer sind in der Entlassenenhilfe nur noch jene fünf Prozent weibliche Inhaftierte, die nach der Entlassung scheinbar vom Radar verschwinden: „Frauen versuchen irgendwie alles alleine hinzubekommen. Aus welchen Gründen auch immer. Sie sind distanzierter und möchten niemandem zur Last fallen“, so Pehlgrimm. Jedoch stellte das Bundesprogramm „XENOS“ Ende 2014 auch fest, dass sich der deutsche Strafvollzug einseitig an den Problemen und Bedürfnissen männlicher Inhaftierter orientiert und passgenaue Konzepte für Frauen noch eher die Ausnahme bilden.

Ob eine „Hilfe von unten“, in der ehemalige Häftlinge frisch Entlassene mit ihrem Know-how beraten, vielleicht sinnvoll wäre? Trotz prinzipieller Zustimmung sehen Michael Pehlgrimm und sein Team in dieser Idee auch Hürden – zum Beispiel der Mangel an persönlichem oder professionellem Abstand zur eigenen Haft, dass Entlassene eine JVA nur als Besucher betreten dürfen, oder dass ihr Führungszeugnis vorerst verbietet, als Vollzugshelfer tätig zu werden. Paul sieht in dieser Art von gegenseitiger Erfahrungshilfe wiederum den Vorteil, dass die Ansprache auf Augenhöhe stattfindet: „Die Erfahrung, die man selbst gemacht hat, toppt jedes Studium. Du kennst die Lücken, die ganzen Tricks, denn was dazwischen ist, was in den Menschen vorgeht, wird von den Sozialarbeitern oft gar nicht gesehen.“

Paul scheint indes gut angekommen zu sein. Er hat einen festen Job und Halt in seinem Umfeld gefunden. Alleine seine überteuerte Wohnung ärgert ihn im Moment. Zu ehemaligen Häftlingen hat er kaum noch Kontakt: „Wenn einer wieder in Freiheit ist, dann verhält er sich ganz anders. Da wird man oft überrascht.“ In Haft passe man sich an, schließlich brächte das ja auch direkte Vorteile – „Zweckverhalten“ sagt Paul nüchtern. Wie er die vordergründige Normalität draußen erlebe, in der Konzerne betrügen oder fast jeder versucht, bei der Steuer zu tricksen? „Ach, das ganze Leben ist ein Zweckverhalten.“

*Name von der Redaktion geändert

Sylvia Lundschien

Copyright: jádu | Goethe-Institut Prag
Januar 2016

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