Bullshit in the air
Lügen sind vergleichsweise leicht zu entlarven. Man muss nur die Fakten kennen. Schwieriger ist es mit Bullshit, laut Princeton-Professor Harry G. Frankfurt ein „größerer Feind der Wahrheit als die Lüge“. Frankfurt philosophiert darüber in seinem Kult-Buch „On Bullshit“.
Für Halbwissensdiskussionen gibt es ein Heilmittel: Es hat einen dunkelroten Hardcovereinband aus Stoff und etwa 80 Seiten. Leicht ist es, und schön anzusehen außerdem. Große Schrift auf kleinen Seiten – so flößt ein philosophischer Essay nur wenig Ehrfurcht ein. Dabei lässt der Titel des Buches erst einmal nicht auf Liebe zur Weisheit schließen: On Bullshit. Auf deutsch noch knackiger: Bullshit. Kann es sein, dass sich ein Philosoph wirklich mit einem solch vulgären Wort beschäftigt? Es kann.
Zu den auffälligsten Merkmalen unserer Kultur gehört die Tatsache, daß es so viel Bullshit gibt. Jeder trägt sein Scherflein dazu bei. Und doch neigen wir dazu, uns damit abzufinden. Die meisten Menschen meinen, sie seien in der Lage, Bullshit zu erkennen und sich vor ihm zu schützen, weshalb dieses Phänomen bislang wenig ernsthafte Aufmerksamkeit gefunden hat und nur unzulänglich erforscht worden ist.
Schon in seinen ersten Sätzen lässt Harry G. Frankfurt erahnen, dass er diese Lücke füllen möchte. Im Oxford English Dictionary und Werken von Philosophen und Schriftstellern sucht er nach ähnlichen Begriffen. Humbug findet er da. Oder Unsinn und heiße Luft. Erst bei Ludwig Wittgenstein kommt Frankfurt dem wahren Bullshit auf die Spur. Der österreichische Philosoph soll sich einmal über eine Freundin empört haben, die vom Krankenbett aus behauptete, sie fühlte sich wie „ein überfahrener Hund“. Aber woher hätte sie wissen können, wie sich ein überfahrender Hund fühlt?
Ihre Aussage gründet weder in der Überzeugung, daß sie falsch sei, wie es für eine Lüge erforderlich wäre. Gerade in dieser fehlenden Verbindung zur Wahrheit – in dieser Gleichgültigkeit gegenüber der Frage, wie die Dinge wirklich sind – liegt meines Erachtens das Wesen des Bullshits.
Der Bullshitter ist ein Manipulator
Laut Frankfurt schert sich der Bullshitter also weder um Wahrheit noch um Lüge. Sein einziges Ziel ist es, ein bestimmtes Bild von sich selbst zu erzeugen. Das mag im Fall von Wittgensteins Freundin verzeihlich sein. Sie wollte eben ausdrücken, dass es ihr schlecht geht. In anderen Zusammenhängen ist der Bullshitter aber schlicht ein Manipulator. Sei es ein Verkäufer, dem es egal ist, ob es stimmt, dass das Stück, das er uns verkaufen will, auch wirklich das Beste ist. Sei es der Politiker, der Bullshit redet, damit er die Wahl gewinnt. Sei es in einer Gesprächsrunde, bei der man informiert wirken will, ohne die Wahrheit zu kennen. Bullshit begegnet uns immer und überall. Aber gibt es heutzutage mehr davon als früher?
Es gibt in unserer Zeit mehr Kommunikation jeglicher Art als jemals zuvor, aber es mag durchaus sein, daß die Menge des produzierten Bullshits, proportional gesehen, nicht zugenommen hat.
Trotzdem scheint die Veröffentlichungsgeschichte von Bullshit das Gegenteil nahezulegen. Frankfurt publizierte den Essay schon 1986 in einer Fachzeitschrift. Erst 2005 wurde eine gebundene Einzelausgabe zu einem Bestseller: Allein in den USA verkaufte sich On Bullshit etwa 400.000 Mal. In einem Interview mit der deutschen Wochenzeitung Die Zeit erklärte Frankfurt 2006 den Erfolg mit dem Zeitgeist:
„Zuerst dachte ich, dass es einfach der Reiz des Skandalösen sei: Ein Professor von einer der Top-Universitäten des Landes verwendet so ein ordinäres Schimpfwort. Es hängt aber mit einem weit größeren Phänomen zusammen: Die Menschen sind, zumindest in den USA, hungrig nach der Wahrheit. Sie haben sich so viele Jahre lang Lügen anhören müssen, sie ersticken unter einer Lawine – und sie haben wohl das Gefühl, dass ihnen mein Buch helfen könnte, die Situation besser zu verstehen.“
Explizit erwähnt Frankfurt es zwar nicht. Man möchte aber annehmen, dass „die Situation“ anspielt auf die Präsidentschaft George W. Bushs, der 2005 in seine zweite Amtszeit startete.
Nachdenken, was wir von uns geben
Dieses Jahr wird Harry G. Frankfurt 85 Jahre alt. Geschmeichelt fühle er sich, antwortet er per Email auf die Interviewanfrage. Dennoch müsse er ablehnen. Über Bullshit habe er schon zu oft gesprochen, außerdem mache er gerade Urlaub.
Schade, aber irgendwie auch sympathisch, hat er doch zum Bullshit tatsächlich schon fast alles gesagt. Und je mehr man davon liest, desto sympathischer wird er, desto mehr versteht man, dass er nicht mit erhobenem Zeigefinger zu uns spricht, sondern aufklären und uns ermutigen will, mehr über das nachzudenken, was wir von uns geben.
Wir sollten also das kleine rote Buch zu Rate ziehen, aufmerksam sein und wenn es sein muss Bullshit-Alarm auslösen.
Originalausgabe:
Harry G. Frankfurt, On Bullshit, 2005 Princeton University Press
Deutsche Ausgabe:
Bullshit, 2006 Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main