Verschwende deine Zeit

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Julian Pörksen, Foto: © Ines Westernströer

Kann Zeitverschwendung sinnvoll sein? Ja, meint der junge Dramaturg und Filmemacher Julian Pörksen. Sein Buch „Verschwende deine Zeit“ ist ein Plädoyer für den genussvollen Müßiggang. Im Interview spricht der 28-Jährige über unser Verständnis von Zeit und darüber, ob es ihm selbst gelingt, sie erfolgreich zu verschwenden.

Warum sollten wir Zeit verschwenden? Und was bedeutet das überhaupt?

Unsere Vorstellung von dem, was Zeit ist, hat wenig damit zu tun hat, was Zeit tatsächlich ist – wenn man das überhaupt sagen kann. Es gibt natürlich verschiedene Konzepte aus der Physik und Philosophie, aber letztlich ist die Frage, was Zeit ist, immer noch nicht geklärt. Das merkt man zum Beispiel daran, dass zwei Personen eine Minute völlig unterschiedlich lang erfahren können: Sie kann sich zum Kotzen lang hinziehen oder wahnsinnig schnell vergehen. Hinzu kommt noch eine zweite Sache: Wir haben gelernt, dass wir mit unserer Zeit immer gut wirtschaften sollen, dass man Zeit nicht verstreichen lassen soll, sie nicht verschwenden soll. Dass es das größte Vergehen ist, seine eigene Lebenszeit nicht sinnvoll zu verwerten. Ich glaube, dass das auf mehreren Ebenen erstens widersprüchlich und zweitens ungesund ist. Widersprüchlich ist es, weil ja erst mal die Frage ist, wie viel Lebenszeit man zur Verfügung hat. Das weiß man ja nicht. Man tut so, als würde man die Größe von etwas kennen, das in Wahrheit völlig unbekannt ist. Die zweite Frage ist, wer entscheiden kann, was die sinnvolle Verwertung von Zeit ist. In der Regel nimmt man dann Fremdkonzepte an und sagt: Ich muss einen bestimmten Output haben, muss soundsoviele Projekte pro Jahr machen, um ein erfülltes Leben zu führen.

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Um so einen Begriff von Zeit ging es auch in deinem ersten Kurzfilm „Sometimes we sit and think and sometimes we just sit“.

Ja. Die Idee zu dem Buch kam eigentlich über den Film zustande. Es geht um einen 50-jährigen Mann, der freiwillig ins Altenheim zieht, in ein ganz scheußliches Zimmer. Dort sitzt er die ganze Zeit und es geht ihm unheimlich gut. Alle anderen denken aber, dass das doch nicht sein könne und sie ihm helfen müssten. Das war die Ausgangssituation, und dann habe ich versucht, die Frage noch einmal auf intellektuellerem Weg zu bearbeiten.

Im Buch beschreibst du eine persönliche Erfahrung in Indien. Du musstest mehrere Stunden an einem Bahnhof verbringen, weil dein Zug nicht kam und stelltest fest, dass du als einziger enorme Probleme damit hattest, dir die Zeit zu vertreiben. War das wirklich so ein Moment, in dem sich ein Schalter bei dir umgelegt hat, quasi eine Läuterungserfahrung?

Eine Läuterung nicht. Aber es hat schon etwas verändert. Man sagt ja ungern, dass man in Indien war und danach irgendetwas verstanden hat, weil das gleich so nach Kommune klingt oder nach Hare Krishna. Aber man ist dort alleine mit seinem westeuropäischen Zeitempfinden. Das lässt sich eine Zeitlang durchhalten, wird aber irgendwann peinlich und unnötig. Entweder man kann sich dann einlassen auf die Gegebenheiten oder nicht. Und wenn man es kann, ist es wirklich eine tolle Erfahrung.

Konntest du dich darauf einlassen?

Das konnte ich, ja. Das war schon viel wert. Es war leider nur relativ schnell wieder weg, als ich dann wieder zurück in Deutschland war. Das Zeitempfinden ist abhängig von der Umgebung.

Hältst du das ökonomische Verständnis von Zeit und Zeitverwertung für ein westliches Phänomen?

Ja, absolut. Ich glaube, das steht ganz stark in Zusammenhang mit der europäischen Geschichte, besonders seit der industriellen Revolution. Es gibt bei uns eine einseitige Zurichtung des Zeitverständnisses. Letztlich hat es aber auch viel mit der religiösen Prägung einer Gesellschaft zu tun. Im Hinduismus, der die indische Gesellschaft sehr prägt, glaubt man ja, dass das Leben in Zyklen verläuft, also das Leben, das man hat, nicht das einzige ist und man deshalb auch nicht alles in diesem Leben erledigen muss. Ganz anders in der protestantischen Vorstellung, die unsere westliche Gesellschaft sehr prägt: Da ist es so, dass man unbedingt alles in dem Leben, das man hat, erledigen muss und dass man Gott ehren kann, indem man viel arbeitet. Die ewige Wiederkehr im Hinduismus schafft automatisch ein anderes Verhältnis zur Zeit.

Foto: © Julian Pörksen / credo:film
Aus dem Film „Sometimes we sit and think and sometimes we just sit“ über einen 50-jährigen Mann, der freiwillig ins Altenheim zieht, Foto: © Julian Pörksen / credo:film, im Bild: Benjamin Pauquet, Peter René Lüdicke

Verstehst du, dass in Europa der Gedanke, Zeit verschwendet zu haben, viele Menschen deprimiert?

Das Buch war ja eher der Versuch, dem Begriff der Zeitverschwendung etwas Positives zu geben. Natürlich kann ich verstehen, dass man frustriert ist, wenn man es so empfindet, dass man seine Zeit mit etwas vergeudet hat, was sich später als sinnlos herausstellt. Diese Art von Zeitverschwendung sollte man auch vermeiden. Ich glaube nur, es gibt noch eine schöne Art.

Gelingt dir der genussvolle Müßiggang, für den du in deinem Buch plädierst, eigentlich selbst?

Viel zu selten. Das ist für mich aber auch keine Voraussetzung, um so ein Buch zu schreiben. Eher im Gegenteil – darum interessiert mich das Thema ja. Ich habe relativ früh angefangen, ziemlich viel zu arbeiten. Erst an der Oper, dann für Christoph Schlingensief. Ich bin eher genervt, wenn nichts passiert. Gleichzeitig gibt es schon die Erfahrung, dass die eigentlich kostbaren Momente die sind, in denen man nicht gearbeitet hat. Das sind eher Momente, in denen man in einer Blase ist oder aus dem Alltag rausfällt.

Julian Pörksen, Verschwende deine Zeit, 2013 Alexander Verlag Berlin | Köln, 112 Seiten, 9,90 Euro

Copyright: jádu / Goethe-Institut Prag
März 2014

    Julian Pörksen

    Julian Pörksen (* 1985) studierte Geschichte und Philosophie in Berlin und anschließend Dramaturgie in Leipzig. Er arbeitete an der Berliner Staatsoper und als Assistent für Christoph Schlingensief. Sein Filmdebüt Sometimes we sit and think and sometimes we just sit feierte 2012 auf der Berlinale Premiere.

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