Essays

Gegenwarts­dichtung aus Bangladesh

Foto: privat

Die Beschäftigung mit der Geschichte und dem sich verändernden politischen Raum hat zu einer konstanten Weiterentwicklung der literarischen Form geführt, so die Auffassung von Syed Manzoorul Islam.

Kolkata war bis 1947 das Zentrum der bengalischen Literatur, bis dann durch die Teilung Indiens Ost- und Westbengalen entstand. In den späten Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts begannen die Dichter der Kollol-Gruppe, die ihren Namen wegen ihrer Nähe zur gleichnamigen avantgardistischen Literaturzeitschrift trug, eine ausdrücklich modernistische Strömung in der bengalischen Dichtung zu initiieren. Die Gruppe wandte sich bewusst von der romantischen Tradition, wie sie Rabindranath Tagore begründet hatte, ab.

Nach 1947 dann allerdings entwickelte sich in Dhaka, der Hauptstadt von Ostbengalen, das zu einem Teil von Pakistan wurde, eine andere literarische Strömung. Diese spiegelte neue soziale Wirklichkeiten und kulturelle Bestrebungen, die sich von denen in Westbengalen unterschieden, wider. Durch die Teilung von Kolkata abgeschnitten, mussten in Dhaka eine eigene Verlagslandschaft und eigene literarische Institutionen entstehen.

Das Entstehen einer neuen kulturellen Identität

Die Sprachbewegung von 1952 war die erste Manifestation eines Kampfes um unsere eigene kulturelle Identität. Dies wiederum inspirierte unsere Dichter dazu, Möglichkeiten der Sprache auszuprobieren, wodurch sich neue Räume zum Experimentieren mit Formen und Techniken eröffneten.
Die Dichter der Fünfzigerjahre, von denen viele die Universität besuchten, waren begeisterte Leser zeitgenössischer europäischer Literatur. Sie waren mit den thematischen Komplexitäten und dem stilistischen Erfindungsreichtum in der Dichtung von Eliot, Pound und Auden vertraut.

Während sie mit ihren Experimenten und Neuerungen immer weiter gingen, war ihnen dabei zugleich sehr bewusst, dass sie auf ihre sozialen und politischen Realitäten zu antworten hatten. Diese Dichter brachten auf glückliche Weise das Lokale mit dem Globalen zusammen: Sie waren ihrem bengalischen Ethos treu und verarbeiteten gleichzeitig die Erkenntnisse, die sie aus der europäischen Dichtung gewannen.

Bis 1971, als es nach einem neunmonatigen Bürgerkrieg zur Staatsgründung von Bangladesch kam, lag das Hauptaugenmerk der bengalischen Dichtung in erster Linie auf den politischen Bestrebungen des Volkes – selbst wenn sie darum bemüht war, eine modernistische Sensibilität zu schaffen, die objektiv, ironisch, reflexiv und unverkennbar städtisch geprägt war.
Weil auf das Politische konzentriert, vermied die Sprache der Dichtung eine Abstraktion und Distanziertheit zugunsten von Unmittelbarkeit und Engagement. Die neue, nach der Unabhängigkeit anbrechende kulturelle Epoche mit einer kurzlebigen Euphorie und einer anschließenden Desillusion angesichts der sozialen und politischen Realitäten sah die Fortsetzung des themen-zentrierten Engagements und der formeller Eigenheiten der Sechziger.
Mit dem Aufkommen einer entzweienden Politik, der Herrschaft des Militärs über den Staat, der Ausweitung der Bildungsanstrengungen auf der einen und der Ankunft der visuellen Medien auf der anderen Seite jedoch wendeten sich die Dichter neueren Themen und formellen Experimenten zu.

Sprachliche Reprogrammierungen in den Achtzigern

Gekennzeichnet jedoch war die Dichtung der Achtziger von einer spürbaren sprachlichen Verschiebung. Teils als Reflexion der Vieldeutigkeiten in unseren nationalen Diskursen, in denen die einen den anderen oftmals widersprachen, teils als Antwort auf die zeittypische Ungewissheit und teils in Anerkennung des Einflusses der visuellen Medien gab die Dichtung ihre frühere Direktheit auf und kehrte wieder dazu zurück, dicht und abstrakt zu sein.

Zu den Dichtern, die diese vorrangig selbst-referentielle und selbst-reflexive Sprache schufen, gehörten Farid Kabir, Masud Khan, Sajjad Sharif, Shantanu Choudhury, Subrata Augustine Gomes, Rifat Choudhury, Samshet Tabrezi, Jewel Mazhar, Bratya Raisu und eine ganze Anzahl weiterer.

Mit dieser neuerschaffenen Sprache und ihrer Poetiken begannen die Dichter, das reiche Innenleben der Dichtung zu untersuchen und ließen in der Folge die Grenze zwischen Innen und Außen kollabieren. Persönliches wurde mit Politischem überblendet; in die bengalische Hochsprache hielten umgangssprachliche Worte und Wendungen Einzug. Die neue Dichtung begann auch vielfältige und unterschiedliche Themen aufzunehmen. Für viele der Dichter wurde die Sprache selbst zum Gegenstand. Das Abstraktionsvermögen führte zu Experimenten, die zu Zusammenbrüchen und Überschneidungen führten und eine getrennte Präsenz schufen.

In den 80ern und 90ern begannen die Experimente mit der Reimform – die zuvor von den vorrangig freien Vers-Kompositionen an den Rand gedrängt worden war. Sie führten auch zu einer Wiederbelebung des Lyrischen. In beiden Fällen allerdings musste die Wiederbelebung und die Wiederherstellung im Licht der geänderten Wirklichkeiten und den Verschiebungen in der kulturellen und politischen Landschaft ausgehandelt werden. Mehr und mehr qualitätsvolle Dichter wie Tokon Thakur, Kamruzzaman Kamu, Shahnaj Munni, Mujib Iram, Sohel Hasan Galib und Hijal Jubaer betraten die Szene.

Sie führten neue Sichtweisen und Themen ein, zeigten einen neuen Umgang mit Identität, Gender, Gesellschaft und der Umwelt. Manche Dichter bedienten sich der Ironie. Bei anderen dominierte der Sarkasmus oder sogar der Zynismus. Einige kämpften mit Entfremdung und Paranoia, wo andere verlorene Mythen wieder neu belebten. Die Sprache der meisten dieser Dichter bewegte sich in Richtung Experiment, manchmal ganz ausdrücklich. Während kleine Zeitschriften im ganzen Land an Einfluss gewannen – ihre Leserschaft wuchs deutlich –, traten neue und unterschiedliche Stimmen auf wie Shahin Mumtaz, Badre Munir, Ahmed Munir, Imran Majhi und Muyeen Pervez.

Weiter voran

Im letzten Jahrzehnt hat eine ganze Reihe von Dichtern neue Wege gefunden, sich kritisch gegenüber der ausgrenzenden Art der modernen Dichtung und ihrer Anfälligkeit zur Maßlosigkeit zu positionieren. Diese Dichter sind überzeugt, dass die Dichtung sich nicht vom Ländlichen, dem Ewigen und dem, was sie die lebendigen Prinzipien unserer Kultur nennen, fernhalten soll. Sie befördern sogar das Vor-Moderne auf ihrer Suche nach einer neuen Ästhetik, die integrativ und vielstimmig sein soll.

Die bengalische Dichtung der Sechzigerjahre war voller Angst im Angesicht der Zeit, der Geschichte und der Ungewissheit des Lebens in einer sich wandelnden Welt. Die Dichter unserer Zeit fürchten sich eher um den Verlust von Räumen – territorialen sowie politischen und kulturellen. Die Herrschaft des Bildlich-Visuellen und einer sich selbst befriedigenden Konsumkultur, der Anstieg von Gewalt jeglicher Art und eine Verschiebung des Leserinteresses hin zur Fiktion bedeutet für die jetzige Dichtung ein Problem. Aber junge, ruhelose und talentierte Dichter sind hartnäckig und eifern nach neuen Ausdrucksweisen und neuen Bedeutungen.

Syed Manzoorul Islam ist Autor, Übersetzer und Kunstkritiker. Er unterrichtet englische Sprache und Literatur an der University of Dhaka. Neben seinen wissenschaftlichen Publikationen veröffentlicht Dr. Islam seit 1973 literarische Werke in bengalischer Sprache. Bislang sind sechs Bände mit Kurzgeschichten und vier Romane bei Verlagen in Dhaka und Kolkata erschienen. Im Jahr 1996 wurde Dr. Islam mit dem Bangla Academy Award for Literature ausgezeichnet, einem der angesehensten Literaturpreise in Bangladesch. Er war Mitglied in der Jury des Commonwealth Prize (Eurasia Region, 1989) und des DSC Prize for South Asian Fiction (2016).
Syed Manzoorul Islam, 2015

Übersetzung: Nils Plath
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