Essays

Das Erblühen des Hinterhofs – Teil II

Seit den 1970iger-Jahren erblühte die demokratische Tradition in Indien wie nie zuvor durch das Aufkommen der Demokratiebewegung und das verstärkt selbstbewusste Auftreten von Stimmen, die zuvor an den Rand der Gesellschaft gedrängt gewesen waren.

Die Stimme der Dalit

Dalit-Dichtung ist in Kannada, Marathi und Gujarati zum Mainstream geworden und zeigt ihre deutliche Präsenz auch in Sprachen wie Bengali, Oriya, Punjabi, Hindi, Tamilisch, Telugu und Malayalam. Es ist nicht mehr als nur ein reines Zeichen für die Verzweiflung und den Widerstand der Dalit-Gemeinschaften, die sich dreißig Jahrhunderte lang im Kastenwesen auf die unterste Stufe versetzt sahen, sondern auch eine Selbstbestätigung der Werte der Dalit und jener rechtmäßigen Ansprüche, die die Demokratie allen Volksgruppen garantiert. Die Bewegung hat einen außerordentlich innovativen Dichter wie Namdeo Dhasal in Marathi hervorgebracht, und wurde bereichert durch die Beiträge von Legionen von Dichtern wie Siddalingaiah auf Kannada, S. Joseph, Vijila und M. B. Manoj auf Malayalam, Sivsagar, J. Gautam, Maddoori Nageshbabu, Paidi Thereshbabu und Satish Chander auf Telugu, Anpathavan, Yakkan, Bharati Vasanthan, Puthiya Matavi und Idayavendan auf Tamilisch, Soorajpal Chauhan, Om Prakash Valmiki, Mohandas Naimishrai, Susheela Taksore, Asang Ghosh und Kusum Meghval in Hindi, Gurdas Alam, Sant Ram Udasi, Manjit Khader und Lalsingh Dil in Punjabi, von Marathi-Dichtern wie Baburao Bagul, Arjun Dangle, Daya Pawar, J.V. Powar, Arun Kamble, Arun Kale, Sharan Kumar Limbale, Prakash Kharat, Arun Chandra Gavli, Dinkar Manwar, Mahendra Bhavre, Asha Thorat, Meena Gajbhiye, Urmila Pawar, Jyoti Lanjewar und Kumud Pavade und Gujarati-Dichtern wie Harish Mangalam, Yoseph Macwan, Mangal Rathod und Kisan Sosa, um nur einige Namen zu nennen. Dichterstimmen wie die von Meena Kandasamy haben Dalit-Dichtung ins Englische übertragen.

Die Dalit-Dichter entwickelten eine eigene Ästhetik, die sich nicht selten gegen die Abwertung von traditionellen Poetiken ausspricht, wenn sie Ausdrücke verwenden, die früher als gramya (bäuerlich), chyutasamskara (kulturell verdorben) und ashleela (obzön) verpönt waren, und wenn sie durch dhwani (Andeutungen) und ouchitya (Korrektheit) Regeln und Normen in Frage stellen. Sie führten in die Dichtung einen kompletten Wortschatz voller lokaler Dialekte, Slangs, Gossensprache und kaum bekannten Redewendungen und Worten ein. Sie kartografierten die Karte der indischen Literatur neu, indem sie so viele zuvor unbelichtete Gegenden der Erfahrung entdeckten und erforschten. Die Dalit-Schriftsteller mussten durch diese reinigende Erneuerung auch den Stillstand überwinden, der vielen Literaturen drohte. Es gelang ihnen, Mythen neu zu beleben, die Epen aus der Perspektive von Sambooka oder Ekalavya neu zu lesen und dadurch die in der Mittelklasse vorherrschenden Vorstellungen von Dichtung und poetischer Sprache zu unterlaufen. Anthologien wie Poisoned Bread (Marathi-Dichtung, hrsg. von Arjun Dangle, Orient Blackswan, 2009) No Alphabet in Sight, Steel Nibs Are Sprouting (mit südindischer Dalit-Literatur, hrsg. von K. Satyanarayana und Susie Tharu, Harper Collins, 2011, 2013), Ekalavyas with Thumbs (Gujarati Dalit-Literatur, hrsg. von K.M. Sheriff, Pushpam, Ahmedabad, 1999), The Oxford India Anthology of Malayalam Dalit Writing und The Anthology of Tamil Dalit Writing (verschiedene Herausgeber OUP, 2012) verschafften der Dalit-Literatur nationale und internationale Aufmerksamkeit.

Ein Beispiel in Malayalam:

Das steckt in der Bibel meiner Schwester:
ein aus dem Leim gegangenes Bezugsscheinheft,
ein Kreditantrag,
eine Karte von einem halsabschneiderischen Geldverleiher,
Ankündigungen von Festen
in der Kirche und im Tempel,
das Fotos des jüngsten Kindes meines Bruders,
eine Anleitung zum Stricken eines Säuglingsmützchens
ein Hundert-Rupien-Schein,
ein S. S. L. C.-Buch.

Das steckt nicht in der Bibel meiner Schwester:
Vorwort,
das Alte und Neue Testament,
Karten,
der rote Umschlag.

(S. Joseph, My Sister’s Bible, nach der Übersetzung ins Englische von K. Satchidanandan)

Die Stammes-Schriftsteller

Wie die Dalits forderten auch die Stammesgesellschaften in Indien ein Recht auf Land und Leben ein und entrissen ihre Geschichte dem Vergessen. Sie erkannten und führten sich vor Augen, dass sie es waren, die die ersten Dichter, die ersten Philosophen, die ersten Kosmologen, die ersten Dorfbewohner, die ersten Mythenerfinder und die ersten Künstler und Wissenschaftler waren. Die Vedas, die Upanishads und die Epen wurden von uralten Stämmen verfasst. Die menschliche Geschichte war die Geschichte ihrer Unterdrückung und Entfremdung vom sogenannten Mainstream. Ihre Geschichte war auch eine der Kämpfe gegen fremde Besatzer. Die Bhils von Gujarat, die Kurichyas von Kerala und die Santhals von Bihar waren die ersten, die sich gegen die britische Herrschaft auflehnten.

Es ist bezeichnend, dass Helden wie Birsa Munda, Siddhu Kanhu, Chand Bhairav, Thilak Majhi, Tantiya Bhil, Khajya Nayak und Rumalya Nayak in der offiziellen Geschichtsschreibung keinen Platz finden. Vinayak Tumram beschrieb die neue Stammes-Literatur als „die Verbalisierung eines ursprünglichen Schmerzes und des verstümmelten Lebens der adivasi“. Die neue Stammes-Literatur tritt in Opposition zum Varna-System, das sie aus der Gesellschaft ausschloss, und vertritt dagegen das Ideal einer gleichberechtigten, unhierachischen, nicht-ausbeuterischen und gewaltfreien Gesellschaft. Prakriti, sanskriti und itihas (Natur, Kultur und Geschichte) beeinflussen gleichermaßen ihr Schreiben, und sie feiern die positiven Stammeswerte wie Kameradschaft, Teilen, Sorge um die Natur.

Neben Santhali und Bodo, die unlängst einen Platz im achten Anhang der Verfassung fanden, gibt es auch in Sprachen wie Bhili, Mundari, Gondi, Garo, Gammit, Bhartari, Mizo, Lepcha, Garhwali, Pahadi, Kokborok, Tenydie, Adi und Ho viel neue Literatur, die durch ihre oralen Traditionen in Verbindung mit ihrer mythopoetische Einbildungskraft anspricht und sich dabei ganz eigenständig gegenwärtig zeigt. Anil Bodo, Ramdayal Munda, Nirmala Putul, Mamang Dai, Paul Lingdoh, Bhujang Meshram and Vinayak Tumram – die zum Teil auf Englisch schreiben – sind nur einige der Meistererzähler dieser Stammes-Literatur einer Widerständigkeit und Selbstversicherung.

Die Nativisten und Post-Modernisten

Die Nativisten oder desivadi-Autorenfeierten den kulturellen Pluralismus und stellten den hegemonialen Kanon der Märkte und Revivalisten in Frage, um das Bild eines Indiens nach ihren Vorstellungen zu entwerfen. Sie sind der Ansicht, dass unser geopolitische und sprachliche Föderalismus durch die Alltagspraktiken des Staates unterlaufen wird, und setzten daher ganz auf die Bekräftigung des Multikulturalismus und der Heteroglossie, die die Kultur Indiens seit Urzeiten prägen. Der Erhalt des kulturellen Erbe der Soodras, wie ihn sich die kannada-schreibenden Bandaya-Dichter Chandrasekhara Patil, P. Lankesh und Siddalingaiah zur Aufgabe gemacht haben, die Ent-Sanskritisierung des Malayalam als dem erklärten Ziel von Dichtern wie M. Govindan, N. N. Kakkad (in seine späteren Jahren) und Attoor Ravivarma, die ganz bewusste Verwendung von lokalen Dialekten in der Arbeit zahlreicher Dichter in Malayalam und Telugu, der Bezug auf örtlicher Geschichte und ihre poetischen Traditionen, auf provinzielle Archetypen, Mythen und Natur in den Arbeiten von Kadammanitta Ramakrishnan, K. G. Sankara Pillai, P. P. Ramachandran, P. N. Gopikrishnan, K. R. Tony, P. Raman Anwar Ali, Anitha Thampi, Mohanakrishnan Kalady oder Rafeek Ahmed in Malayalam, Arun Kolatkar in Marathi oder Kanji Patel in Gujarati, das Setzen auf Mündlichkeit und die Verweise auf das ländliche Leben in der uttar-adhunik von Bengali-Dichtern wie Anuradha Mahapatra, Ekram Ali und Amitabha Gupta, die wohlüberlegte Betonung der tamilischen Tradition und Identität tamilischer Dichter wie Jnanakkoothan, Manushyaputran, Vallikkannan, Pasuvayya und anderer, die Rückkehr zu Bhakti, um einen gegenwartsbezogenen spirituellen Diskurs zu stiften, wie sie H. S. Shivaprakash, S. R. Ekkundi oder Dilip Chitre in ihrer Dichtung unternehmen, die Betonung der Meithei-Geschichte und der Landschaft von Manipuri durch Dichter wie Y. Ibomchasingh, Thangjom Ibopishak und Saratchandra Thiyam: dies alles sind Versuche, wieder regionale Färbungen auf die kulturelle Karte Indiens aufzubringen, die unter dem Druck der Marktmächte und der hinduistischen Theokraten zunehmend monochrom wurde. Verschiedene Dichter sind unter die Blogger gegangen und versuchen sich an neuen Möglichkeiten, die die Technik ihnen zur Verfügung stellt, um Hyperlink-Dichtung und Multimedia-Lyrik zu produzieren. Dichter wie Latheesh Mohan, Kuzhoor Wilson und Vishnuprasad haben der Malayalam-Dichtung neue Richtungen gegeben. Eine Rückkehr feierte auch die Performance-Dichtung, die Dichter wie Jeet Thayil, Anand Thakore, Jerry Pinto und Vivek Narayanan wieder aufgriffen.

Siehe dieses Gedicht von Anitha Thampi:

Der Rücken schmerzt,
während der Besen fegt
in die Erinnerung, bei Sonnenaufgang
sprossen Erdstippen,
im Vorgarten hervor
des Hauses im Schlummerzustand
mit tief geschlossenen Augen.

Vielleicht hätte der Regen
den Boden auflockern können
am Vorabend.
Regenwürmer müssen ihn
aufgewühlt haben,
schuftend, wahrscheinlich schlaflos, um
kleine Erdhäuser zu bauen.

Nur um getilgt zu werden,
um gespreizt zu werden,
in Finger-Streifen,
die der Besen zurücklässt.
Nach dem Morgentanz
des Kehrmädchens
ihre Rückwärtsbewegung.

Das Fegen erledigt,
kommt die Dämmerung,
das Licht bricht an, die Augen
des Hauses öffnen sich
Kein Fußabdruck,
Noch nicht einmal fallende Blätter,
Wie sauber ist es!

Die Zeitung kommt,
die die Tiefen der Nacht
gereinigt hat, fällt
strauchelnd gegen die Tür.
Dann erhebt sie sich vom Säubern der Fetzen so durstig,
Trinkt sie den Kaffee mit dem Kaffeesatz.

(Den Vorgarten fegen, nach einer Übersetzung aus dem Englischen von K. Satchidanandan.)

Dies ist gegenwärtig die Zeit des „Erblühens des Hinterhofs“ (um einen Begriff von U. R. Anantha Murthy zu borgen) in der indischen Literatur im Allgemeinen und in der Lyrik im Besonderen. Das Aufblühen gilt nicht allein der Literatur; es ist Spiegel der demokratischen Sehnsüchte der subalternen Teile des indischen Volkes, ein kollektiver Schritt zu mehr Demokratie. Auch wenn diese Bewegungen nicht im westlichen Sinne als postmodern bezeichnet werden können, finden sie nach der Blütezeit der „Hoch-Moderne” in der indischen Dichtung statt und teilen sich mit dem Postmodernismus bestimmten Kennzeichen: die Betonung von Differenz, ein Misstrauen gegenüber universalen Verallgemeinerungen, die Verwischung der Grenzen zwischen dem „Populären“ und dem „Ernsten“ in der Kunst, eine nicht simple Wiederaneignung der Vergangenheit, die Ablehnung eines modernistischen Solipsismus und die Akzeptanz einer Vielstimmigkeit in der Gesellschaft wie in literarischen Texten und Bewegungen.

K Satchidananda ist ein indischer Dichter und Kritiker, der in Malayalam und Englisch schreibt. Er gilt als Pionier der modernen Dichtung in Malayalam. Er ist zweisprachiger Kritiker, Literaturkritiker, Bühnenautor, Herausgeber, Übersetzer und Kolumnist. Er war Herausgeber der Zeitschrift für Indische Literatur (Indian Literature Journal) und Schriftführer bei der Sahitya Akademi. Satchidanandan hat 60 Bücher in Malayalam veröffentlicht, darunter 21 Gedichtbände, ebenso viele Gedichtübersetzungen, Bühnenstücke, Essays, Reiseberichte und vier literaturkritische Essaybände in englischer Sprache. Er hat 32 Literaturpreise erhalten, unter anderem den Sahitya Akademi Award. Von der italienischen Regierung wurde er in den Ritterstand erhoben.
K.Satchidanandan
(Dies ist der zweite Teil eines zweiteiligen Essays über Widerstandsdichtung aus Indien mit dem Titel „Das Erblühen des Hinterhofs“.)
Übersetzung: Nils Plath