Teatro La Re-Sentida, Santiago de Chile, Chile
Über die Ursprünge und Mechanismen von Gewalt

Gruppe aufgereihter, karnevalesk maskierter, bunter Figuren
Teatro La Re-Sentida, Szene aus dem Theaterstück Oasis de la Impunidad | © Maglio Pérez, Teatro La Re-Sentida, Goethe-Institut

Ausgehend von spezifischen Gewalterfahrungen in der jüngsten Geschichte Chiles wurde während eines Theaterlabors im Teatro La Re-Sentida in Santiago de Chile das Theaterstück Oasis de la Impunidad entwickelt. Ohne viel Worte, allein durch die choreographische Setzung werden Ursprünge und Mechanismen von Gewalt offen gelegt und in unmittelbar eindringliche Bilder übersetzt.
 

Interview mit Marco Layera, Elisa Lero und Martin Valdés-Stauber, dem künstlerischen Leitungsteam des Theaterstücks Oasis de la Impunidad

Könnt ihr uns zu Beginn das Teatro La Re-Sentida vorstellen? Welche Intentionen verfolgt ihr mit eurer Theaterarbeit?

Das Theaterkollektiv wurde 2008 von jungen Theaterschaffenden aus Chile mit dem Anspruch gegründet, den Vorstellungen, Überzeugungen und Visionen der eigenen Generation im Theater Ausdruck zu verleihen. Über die Jahre hinweg hat sich der feste Kern immer wieder erneuert und dennoch besteht die Anfangsstruktur, die  kollektive Arbeitsweise rund um den Regisseur Marco Layera unverändert fort.

Der Name "La Re-Sentida" bedeutet übersetzt "die Nachtragende" und doch ist es wichtig zu betonen, dass die Truppe nicht nur Kritik übt, sondern die politische Verantwortung des Theaterschaffens in den Mittelpunkt stellt. La Re-Sentida verbindet Reflexion mit Provokation und begreift dabei das Theater als Instrument der Kritik, des Nachdenkens und der (Re-)Konstruktion. So weichen die Stücke keiner kritischen Selbstbefragung aus und hinterfragen frech und klug die eigenen Gewissheiten. Anstatt Fragen aus Vergangenheit und Gegenwart zu vereinfachen, schreckt la Re-Sentida nie vor Widersprüchen zurück. Außerdem begeben wir uns bei jedem Projekt auf eine neue Reise, um eine spezifische Formensprache zu suchen.

Durch dich, Martin Valdés-Stauber, gibt es die Verbindung zwischen dem Teatro La Re-Sentida und den Münchner Kammerspielen. Wie schaut hier die Zusammenarbeit aus?

M.V-S: Schon vor der Pandemie hatte sich ein Austausch zwischen den Münchner Kammerspielen und La Re-Sentida entwickelt. Gemeinsam wollten wir darüber nachdenken, was Arbeiten in internationalen Konstellationen bedeuten könnte. Zuvor hatte La Re-Sentida meist Stücke ohne Unterstützung europäischer Partnerorganisationen entwickelt. Ab dem Moment der Premiere aber waren die Stücke wichtige programmatische Beiträge vieler Festivals. Durch die Pandemie kam der internationale Austausch aber komplett zum Erliegen.

Der Hilfsfonds des Goethe-Instituts und des Auswärtigen Amtes war wesentlich, damit das Theater die Pandemie überstehen konnte. Die Arbeit im Theaterlabor brachte uns auf die Idee, über eine gemeinsame Premiere nachzudenken: Aus den Erfahrungen hunderter Workshopteilnehmer*innen entwickelten wir ein Konzept für das gleichnamige Stück “Oasis de la impunidad”, das federführend durch den künstlerischen Forschungsbereich “Erinnerung als Arbeit an der Gegenwart”, den ich an den Kammerspielen leiten darf, produziert wurde. 
Da ich zweisprachig aufgewachsen bin, freue ich mich Brücken zu bauen und Übersetzungsprozesse auf allen Ebenen zu ermöglichen. Als Dramaturg begeistert mich das Stiften von Allianzen, die eine spannende und einzigartige Formsuche ermöglichen.

Eine Gruppe von Menschen, eng beieinander um eine weitere Person stehend, halten dieser den Mund zu und umklammern ihre Kniee
Proben zum Theaterstück Oasis de la Impunidad | © Maglio Pérez, Teatro La Re-Sentida, Goethe-Institut
Bleiben wir doch gleich bei dem Theaterlabor. Ihr sprecht von einer Versuchsanordnung, aus der ein Theaterstück über Gewalt entsteht. Was interessiert euch an diesem Thema?

Gewalt ist ein universelles Thema. Und doch gibt es gerade in Chile eine spezifische Gewaltgeschichte. Genau ein solches Konfliktfeld liegt meist in den Anfängen der Projekte von La Re-Sentida: Ausgehend von ganz speziellen Erfahrungen entsteht eine ganz eigene Theaterwelt, die Grundfragen verhandelt, die uns alle betreffen. Entscheidend für diesen Prozess sind all jene Erfahrungen, die im Theaterlabor geteilt wurden.

Was hat das Thema Gewalt mit dem Ort, mit dem Land, mit Chile zu tun?

Straflosigkeit und Gewalt sind in Chile eng verbunden mit der Militärdiktatur Pinochets, aber auch mit Polizeigewalt. Wir fragen uns: Wie verhandelt eine Demokratie den Umgang mit dem Gewaltmonopol des eigenen Staates?
Gewalt ist mannigfaltig und erscheint in den verschiedensten Formen. Klassismus, Sexismus und Rassismus führen systemisch und allerzeit zu Gewalterfahrungen. Was Chile betrifft, muss man aber besonders an die Verschleppungen und politischen Morde während der Militärdiktatur Pinochets erinnern. Umso erschreckender war in den vergangenen Jahren die Gewalt gegen Protestierende aus der Zivilgesellschaft, die beim estallido social für ihre Würde eintraten und für eine wahrhaft demokratische Verfassung auf die Straße gingen. Denn hier darf man nicht vergessen, dass die aktuelle Verfassung noch unter Pinochet installiert worden ist.

Welche Absichten verknüpft ihr mit dem Theaterlabor als Basis für das entstehende Theaterstück?

Labore sind Erfahrungsräume des Experimentierens. Für das Theater bedeutet das, dass Fähigkeiten und persönliches Wissen hier spielerisch ausgetauscht werden. Im Sinne künstlerischer Forschung ist das Theaterlabor ein Ort des Lernens (und Verlernens), sowie der Kreativität. Dabei entsteht Wissen. Aber vielleicht ist das ein Wissen, was in uns und unseren Körpern schon längst vorhanden ist, und nun einfach gemeinsam zu Tage befördert wird.
Im Oktober haben wir einen Aufruf gestartet, damit sich möglichst viele Menschen an dem Theaterlabor beteiligten. Teil der Anmeldung war ein kleiner Fragebogen, der sich als sehr bereichernd herausstellte, da viele Personen darin eigene Erfahrungen von Gewalt teilten. Insgesamt haben sich über 500 Menschen gemeldet! Rund 200 Personen haben wir dann zum Theaterlabor eingeladen. Gelegentlich haben wir auch Expert*innen dazu geholt, die etwa choreographisch mit den Teilnehmenden gearbeitet haben. Letztlich hat eine kleinere Gruppe von rund 20 Personen an einer Theaterskizze gearbeitet, die wir am 20. Januar einer kleinen Öffentlichkeit präsentieren konnten.

Wie verknüpft sich die Darstellende Kunst mit dem Thema Gewalt? Was kann da ein Theaterstück Besonderes leisten, im Vergleich zu anderen künstlerischen Formen?

Eine Krisensituation oder eine krisenhafte Stimmung (wie etwa der aktuelle chilenische Protest der estallido social) verlangt von der Kunst, sich neu zu erfinden, um an sozialen Prozessen mitwirken zu können.Die Kunst ist herausgefordert, ihre subversive und transformative Fähigkeit (wieder) zuerlangen. Als Künstler*innen sind wir dazu aufgefordert, einen Schritt ins Unbekannte und Ungewisse zu wagen, uns zu verirren, Risiken einzugehen und uns in ständige Gefahr zu begeben. Für uns hieß das konkret, mit den Mitteln des Theaters, aber ohne Worte, sich dem Thema der Gewalt zu stellen. Die Unmittelbarkeit des Theaters entfaltet in dieser choreographischen Setzung eine ganz eigene Dringlichkeit.

Bei unserer gegenwärtigen Arbeit haben wir viel über Ordnungssysteme nachgedacht: Der Staat als Ordnungsmacht des Öffentlichen Raumes, die Körper diszipliniert, um Kontrolle durchzusetzen…aber auch das Theater als Disziplinierungsort von Körpern auf einer Bühne. Den Bühnenraum haben wir schließlich auch als disziplinierten Ort gedacht: Als Museumsraum, in dem alles seinen festen Platz hat. Wie sortieren sich dazu Körper und wann brechen sie aus der strengen Choreographie aus?

Bei allen unseren Projekten entsteht der Text parallel zur experimentellen Laborphase und zu den eigentlichen Proben. Dieses Mal jedoch war der Anspruch gar nicht, ein dickes Textbuch zu entwickeln, sondern Text und Sinn vornehmlich auf ganz anderen Ebenen zu generieren. Choreographie und szenische Bilder treten deshalb bei dieser Arbeit in den Vordergrund.

Eine Reihe von Menschen in schwarzen Trikots, in der Mitte ein nackter Mensch mit geschundenem Körper, die Arme ausgebreitet
Probe von Oasis de la Impunidad, Teatro La Re-Sentida, März 2022 | © Maglio Pérez, Teatro La Re-Sentida, Goethe-Institut
Wir haben eine neue künstlerische Sprache gesucht und gefunden in diesem Prozess, was sowohl einen Bruch als auch eine Fortführung unseres Programms darstellt. Eigentlich beabsichtigen wir mit jedem Projekt eine neue künstlerische Sprache zu entwickeln und in diesem Fall ist es eine choreografische. Vermutlich sind jedoch die Themen, die uns umtreiben nicht neu, da sie sich aus unserem Erfahrungsraum in Chile speisen.

Die intensive choreographische Arbeit der vergangenen Monate wird uns auf jeden Fall weiter begleiten. Außerdem haben wir erstmalig in einem chilenisch-europäischen Team gearbeitet, da die Dramaturgen Elisa Leroy und Martin Valdés-Stauber uns von der Grundkonzeption bis zur Premiere begleitet haben. Diese intensive Auseinandersetzung mit europäischen Kolleg*innen im Probenprozess selbst möchten wir natürlich auch in Zukunft wiederholen.
 
Wie geht es mit dem Stück weiter? Wo soll es überall gezeigt werden? 

Das Stück feiert Premiere auf einer Tour von Berlin über München zurück nach Santiago de Chile, wo auch die Proben stattgefunden haben. Gerade planen wir weitere Gastspiele in Europa (im Sommer sind wir bei der Ruhrtriennale dabei) und Südamerika und freuen uns, wenn möglichst viel Publikum sich mit uns darauf einlässt, Ursprünge und Mechanismen von Gewalt zu hinterfragen. Publikumsgespräche und Workshops am Rande von Gastspielen sind deshalb für uns besonders wichtig; gerade bei dieser Arbeit.
leisten, im Vergleich zu anderen künstlerischen Form
 

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