08. Juli 2025
Rede anlässlich des Sommerempfangs des Goethe-Instituts
- Es gilt das gesprochene Wort -
Eine meiner ersten Reisen als neue Präsidentin führte mich in unser Institut in Mexiko Stadt – eine vibrierende Stadt mit 9 Millionen Einwohner*innen, kulturell so vielfältig und faszinierend. Dort besuchte ich gemeinsam mit den Kolleg*innen eine „Utopia“. Sie befindet sich im Stadtteil Itzapalapa und ist Teil des Modellprojekts Utopías, das Clara Brugada als Bürgermeisterin im Jahr 2019 ins Leben gerufen hat.
Utopías sind ein Netzwerk von inzwischen zwölf öffentlichen Orten – offenen Architekturen, eines sieht aus wie ein Schiff, eines ist in einem alten Flugzeug, eines ein gigantisches Zelt aus Polygonen. Es sind soziale Orte mit einem vielfältigen Programm von Kultur, Workshops, Inspiration und - Miteinander. Sie folgen einer sozialutopischen Idee und wollen Menschen kulturell und sportlich fördern, gleichzeitig ihre politischen Rechte und sozialen Möglichkeiten stärken. Utopias steht für Unidades de Transformación y Organización Para la Inclusión y la Armonía Social
Bewusst wurde das Netzwerk der Utopias in einem sozial herausfordernden Stadtteil installiert – der von hoher Kriminalität und sozial schwachen Milieus geprägt war. Durch die Utopias wurden die Lebensbedingungen massiv verbessert – die Kriminalitätsrate sank um 57%, die Zufriedenheit der Bürger*innen stieg, und inzwischen ist die Nachbarschaft zu einem begehrten Wohnviertel geworden, das sich auch durch Kunst und Kultur im öffentlichen Raum auszeichnet. Clara Brugada war mit ihrem Konzept so erfolgreich, dass sie im Jahr 2024 zur Regierungschefin von ganz Mexiko-Stadt gewählt wurde und ein Netzwerk von 1.000 Utopias in der ganzen Stadt ausrollen möchte.
Warum erzähle ich von den Utopias?
Für mich sind sie ein Symbol für das Netzwerk der Goethe-Institute, das starke und zukunftsweisende Parallelen hat. Wir sind:
- ein Netzwerk von Orten, an denen die Kultur floriert,
- an denen wir Bildungsangebote machen,
- an denen freie Informationen bereitstehen, jenseits von Desinformation
- und an denen wir für Sicherheit sorgen – denn Verständigung und Miteinander in langjährigen Partnerschaften sind ein Beitrag zur Sicherheit
Dieses Netzwerk haben wir seit nun fast 75 Jahren kontinuierlich für Deutschland aufgebaut und verfolgen damit eine kultur- und sozialpolitische Idee des Miteinanders, des gemeinsamen Entwerfens einer lebenswerten Zukunft. Durch unsere Bibliotheken laden wir Menschen aus der Nachbarschaft ein, an Kultur und Informationen teilzuhaben und unser Land kennenzulernen, und dazu gehört machmal auch, dass wir in unserer Bibliothek der Dinge neben der Gesamtausgabe von Goethe auch einen Kärcher verleihen (Kärchern ist womöglich auch eine deutsche Kulturtechnik).
1 Million Besucher*innen hatten wir im vergangenen Jahr in unseren Bibliotheken, 1,1 Millionen Prüfungsteilnehmende, 270.000 Sprachkurs-Teilnehmer*innen und 25.000 Kulturveranstaltungen. Das sind substantielle Beiträge zur Verständigung in 99 Ländern dieser Welt.
Unser Netzwerk stärkt sich dabei gegenseitig. Es ist eine flexible und dynamische Struktur, die es uns ermöglicht, auch in Zeiten der Krise, der Bedrohung von Meinungsfreiheit oder des Zurückdrängens der Demokratie sensibel zu reagieren, resilient zu sein, und trotzdem aktiv eine klare Haltung zur offenen Gesellschaft zu vertreten. Die Herausforderungen, denen wir uns auf der politischen Bühne derzeit gegenübersehen, sind enorm – ich nenne nur Stichworte: Die zweite Amtszeit Donald Trumps in den USA mit ihrem radikalen Umbau des politischen Systems, das die Grundfesten der Demokratie bedroht, der grausame, weiter andauernde Krieg Russlands gegen die Ukraine, der Nahost-Konflikt mit der unerträglichen Situation der Palästinischen Bevölkerung im Gaza-Streifen und den weiterhin verschleppten israelischen Geiseln, der Krieg und die humanitäre Krise im Sudan, aber auch der Aufbruch in Syrien sind nur einige Beispiele.
Diesen Herausforderungen können wir nur mit unserem Netzwerk der Utopías im Sinne des Goethe-Instituts begegnen. Und es verlangt uns viel ab – unsere Teams in den Instituten, unsere Institutsleiter*innen und Mitarbeiter*innen und unser Vorstand leisten Beeindruckendes – ich habe den größten Respekt vor ihnen. Krise ist an vielen Standorten der Normalfall – mit der Bedrohung, ob Mitarbeiter*innen festgenommen werden, ob wir etwa in Kiew unter Beschuss stehen, ob unsere Institute weiterarbeiten können, wie in Ramallah, Tel Aviv und Jerusalem, ob wir nach Damaskus eines Tages zurückkehren können.
Trotz allem – oder gerade deswegen: Unsere Utopie einer auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik kann in unseren Instituten real werden:
- wenn der Mund-, Gesichts- und Kiefernchirurg aus Mexiko-Stadt, der bei uns Deutsch gelernt hat, durch unsere Programme in Berlin an der Charité anfangen kann
- wenn die afghanisch-deutsche Autorin Moshtari Hilal mit ihrem Buch „Häßlichkeit“ die Erfahrungen als junges Mädchen in Deutschland im Exil beschreibt – ihr Fremdsein, die Rolle des weiblichen Körpers und ihrer Schönheitsideale – und wir die Übersetzung dieses Buchs unterstützen können und so diesen Diskurs verbreiten,
- wenn wir eine Fanbase von 7 Millionen Follower*innen weltweit mit unseren Social-Media-Angeboten erreichen – schauen Sie gerne auf YouTube unsere Dialekte-Hotline für Oberbairisch oder Wienerisch – da lerne auch ich dazu
Und Sie können sich denken: Die erdrückende geopolitische Situation, aber auch der Rechtsruck in Europa und in Deutschland, der Druck auf unserer Vorstellung von einer offenen und demokratischen Gesellschaft, auf Vielfalt und Diversität, ist enorm. Und natürlich fragen wir uns immer wieder: Was können wir in dieser Situation mit unserem Netzwerk leisten? Wen erreichen wir?
Ein schneller Impuls wäre, Kunst und Kultur zu versuchen, unter eine Agenda zu stellen, mit einem „um zu“ zu versehen, um die Demokratie zu verteidigen. Aber!
In einer Zeit, in der wir uns gegen autokratische Systeme aufstellen wollen, in dem wir die Demokratie stärken wollen – genau in dieser Zeit ist es ein Fehler, Kunst und Kultur zu instrumentalisieren, klein zu machen, „manageable“ und kontrollierbar – sondern das Gegenteil ist richtig und wichtig: Kunst und Kultur zu stärken in ihrer Freiheit, in ihrer Ambiguität und Unbequemlichkeit.
Kunst und Kultur müssen wir begreifen als eine zentrale Säule einer offenen und demokratischen Gesellschaft. Kunst ist unverfügbar im Sinne Hartmut Rosas – sie entzieht sich zum Teil menschlicher Planung und Kontrolle, ist nicht berechenbar. Unverfügbarkeit ist nach Rosa die Voraussetzung von Resonanz – also von etwas berührt zu werden und darauf zu antworten, als eine lebendige Beziehung zur Welt, die nicht erzwungen oder garantiert werden kann. Resonanz lässt sich nicht planen oder auf Knopfdruck herstellen; sie bleibt immer ein Stück weit Geschenk und widerfährt uns.
Unser modernes Leben steht immer in einem Spannungsverhältnis: Einerseits wollen wir alles verfügbar machen, andererseits macht gerade das Unverfügbare das Leben lebendig. Totale Verfügbarkeit würde Resonanz unmöglich machen. Und in diesem Spannungsverhältnis sehe ich auch unsere Arbeit.
Unser so wichtiges Netzwerk der Goethe-Institute sehe ich als Resonanzraum, als Netzwerk von Resonanzräumen. Wir stehen dafür, Resonanz mit der Welt zu erzeugen – uns gegenseitig in Schwingung zu bringen, zu berühren, zu versuchen, uns zu verstehen – und vielleicht zu erkunden, wie wir gemeinsam leben können und wollen, wie ein Gemeinsinn entstehen kann. Das können – und tun wir – mit unserem Kulturaustausch. Mit der Eigenständigkeit der Themen und Programme, die auf die lokalen Kontexte abgestimmt sind, davon inspiriert werden.
Das beschriebene Spannungsverhältnis zwischen Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit bedeutet für uns, dass wir in einem anderen Teil unserer Arbeit auch verfügbar sind, ein verlässlicher Partner, planbar. Wir können – und wollen – Wirkung erzielen, KPIs liefern, für die Spracharbeit, für unsere wichtige Arbeit zu Fachkräften, in der Reichweite unserer Informationen. Hier ist unsere Arbeit beschreibbar und zugänglich.
Mit dieser breiten Aufstellung von Sprache, Kultur und Information tragen wir zur außenpolitischen Agenda der Bundesregierung bei, die die Themen Sicherheit, Freiheit und Wohlstand fokussiert. Im ersten Austausch mit Außenminister Wadephul war es ein wichtiges Zeichen der vertrauensvollen Zusammenarbeit, dass er die Freiheit von Kunst und Kultur und die Freiheit der Wissenschaft betonte – sie sei unverhandelbar. Und gleichzeitig hat er uns als Goethe-Institut eingeladen, die Agenda der AKBP für Deutschland mitzugestalten, in der Praxis in unserem Netzwerk zu verankern – und diese Einladung nehmen wir gern an. Das ist unsere Agenda und eine große Aufgabe: Sicherheit durch unsere Netzwerke des Vertrauens zu schaffen, Freiheit in der Unverfügbarkeit von Kunst und Kultur zu leben und diese auch in unseren Partnerländern zu unterstützen, Wohlstand durch unsere Spracharbeit und unsere Fachkräfteprogramme für Deutschland zu sichern – all das ist Teil unserer Goethe-DNA.
Ich habe Ihnen dazu heute ein Bild angeboten: ein Netzwerk der Utopias, die Resonanz erzeugen. Und mit diesem Bild wollen wir im Goethe-Institut die Zukunft gestalten – das ist gemeinsam mit dem Präsidium und dem Vorstand unsere Agenda. Die Schließungen waren hart, und die haushaltspolitische Lage ist weiterhin angespannt – wie in so vielen Institutionen. Aber jetzt, angesichts der vielen Krisen, sind wir gefragt, unseren Beitrag zu leisten, unser utopisches Potential zu realisieren, Resonanz in der Welt zu erzeugen für unsere gemeinsamen Ideale einer offenen Gesellschaft. Nicht Abschottung in Deutschland und Europa, sondern Dialog mit der Welt ist unser Prinzip – denn das brauchen wir alle in der heutigen Zeit.