4. Juli 2022
Rede zum Sommerfest des Goethe-Instituts 2022

- Es gilt das gesprochene Wort - 

Lassen Sie mich mit einem Moment des poetischen Innehaltens beginnen! Ich möchte Ihnen ein Gedicht von Marie Luise Kaschnitz (1901-1974) vortragen, das ich kürzlich gelesen habe und das mich sehr berührt hat.

Eines Tages
Es ist kein Garten so fernab gelegen,
Daß nächtens nicht der wilde Schrei der Welt
Gleich einem wunderbaren Feuerregen
Vernichtend auch auf seine Saaten fällt.
Und keinem ist der Kreis so fest gezogen,
Daß eines Tages nicht ein wilder Geist
Ihm mit der Urgewalt der Meereswogen
Furcht und Erbarmen aus dem Herzen reißt.
Ein wölfisch Wesen springt aus Lammesmienen,
Und keiner lebt, der nicht in sich entdeckte
Ein fremdes ungeheures Element.
Und weil er lebt, muß er dem Chaos dienen
Und einem Neuen, das die Zeit erweckte,
Und dessen Sinn und Ende niemand kennt.

Ich lese zum Sonntagsfrühstück gern die Frankfurter Anthologie in der FAZ, und dort stand dieses Gedicht zehn Tage nach Beginn des verheerenden Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine. Marie-Luise Kaschnitz, eine Offizierstochter, lebte in Frankfurt am Main im idyllischen Westend, als sie diese Zeilen während des Zweiten Weltkriegs schrieb. Die Geburtsstadt Goethes erlebte von Sommer 1940 an bis Kriegsende 75 Luftangriffe. Der nächtliche „Feuerregen“ war eine sehr reale, bedrohliche Erfahrung. Mich hat das Gedicht auch an Erzählungen meiner Mutter über den Bombenkrieg erinnert und daran, dass ich selbst nur neun Jahre nach dem Ende des Weltkriegs geboren wurde. Ich bin in Braunschweig noch mit zahlreichen Ruinen und mächtigen Bunkern im Stadtbild groß geworden.

Marie-Luise Kaschnitz’ Sonett ist von bedrückender Aktualität. Das Wort Krieg kommt gar nicht vor, aber der Gedanke an den neuen schrecklichen Krieg mitten in Europa scheint doch bei uns allen sofort auf. Das Bild des kultivierten Gartens, der zerstört wird. Der „wilde Schrei der Welt“, der „wilde Geist“, das „wölfisch Wesen“, das vernichtet, das die Tugenden der Ehrfurcht und des Erbarmens aus den Herzen reißt. Gewalt und Chaos, die auch verlocken: „Und keiner lebt, der nicht in sich entdeckte ein fremdes ungeheures Element…“. Zugleich bannt die Dichterin den Schrecken durch die Schönheit der Verse, durch starke Sprachbilder, durch die strenge Form des Sonetts. Die Poesie stemmt sich dem Chaos und der Verrohung entgegen.

Kaschnitz’ Gedicht ist eine Mahnung und eine Ermutigung. Was kann Kunst im Angesicht des Krieges, im Angesicht von autoritären Regimen, von zunehmender Repression, Gewalt und Missachtung der Menschenrechte ausrichten? Ich bin zutiefst überzeugt: Wir brauchen klare Worte und moralische Haltungen, aber wir brauchen auch Schönheit, um unsere Menschlichkeit zu bewahren und die der anderen zu verteidigen.

Für das Goethe-Institut waren und sind die letzten Monate, ja die letzten zweieinhalb Jahre sehr herausfordernd. Wir mussten die Pandemie bewältigen, auf Homeoffice, digitale Team-Sitzungen, digitalen Unterricht und digitale Kulturveranstaltungen umstellen und unsere Kulturpartner in aller Welt, die von ihren eigenen Regierungen wenig Unterstützung erfuhren, stärken, so gut es ging. Das alles war, neben großen Belastungen, auch ein enormer Innovationsschub. Und viele neue Praktiken, die sich bewährt haben, werden wir weiterführen.

Die Herausforderungen durch den zunehmenden Autoritarismus in aller Welt, durch enger werdende Spielräume für Meinungsäußerung und Kunstfreiheit, durch Krieg und Verfolgung, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen lassen sich sehr viel schwerer bearbeiten. Wir versuchen gemeinsam mit den anderen Mittlerorganisationen der internationalen Kulturpolitik, mit dem Auswärtigen Amt und mit der Staatsministerin für Kultur und Medien und ihrem Amt bedrohte Künstlerinnen und zivilgesellschaftliche Aktivisten in aller Welt zu unterstützen. Wir halten mit unseren Instituten in aller Welt geschützte Räume offen für freien Austausch und Reflektion und für künstlerische Produktion. Und wir helfen, in Deutschland und anderen Ländern Europas Orte und Strukturen von Kulturarbeit im Exil aufzubauen.
Eine große Herausforderung ist auch das rauer werdende Debattenklima in unserem Land. Die Auseinandersetzungen um die documenta sind nur ein Beispiel. Viele Themen, die uns umtreiben, wie Antisemitismus, Dekolonisierung, Geschlechtergerechtigkeit, scheinen so vermint, dass nuanciertes Argumentieren und respektvoller Umgang mit anderen Meinungen kaum noch möglich sind.

Um diesen vielfältigen Krisen und turbulenten Zeiten zu begegnen, brauchen wir Bündnispartner wie Sie! Und heute Abend haben wir eine Gelegenheit, unsere Partnerschaften und vertrauensvollen Beziehungen zu feiern. Zum ersten Mal seit 2019 kann das Sommerfest wieder stattfinden. Wir alle haben uns lange nach solchen Gelegenheiten gesehnt, Netzwerke und Gesprächsfäden wieder aufzunehmen oder auch neu zu knüpfen. Für mich selbst, nun seit gut eineinhalb Jahren im Amt, ist es das erste größere öffentliche Ereignis in Präsenz, an dem ich teilnehmen kann!

Ehe ich gleich das Wort dem Generalsekretär des Goethe-Instituts Johannes Ebert übergebe, möchte ich mich nachdrücklich bedanken…

…bei den krisenerprobten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Goethe-Instituts für ihren unermüdlichen Einsatz, ihren Ideenreichtum und ihr Engagement in den vergangenen Monaten

…bei den Parlamentariern und Parlamentarierinnen, die sich auch in schwierigen Zeiten für das Goethe-Institut einsetzen und es unterstützen. Danke für Ihr Vertrauen in unsere Arbeit!

…beim Auswärtigen Amt für die Zusammenarbeit, Unterstützung und Förderung

…bei allen Mittlerorganisationen, darunter der DAAD, das ifa, die Alexander von Humboldt Stiftung, das Deutsche Archäologische Institut und die Deutsche Welle für die partnerschaftliche Zusammenarbeit

…und natürlich bei allen Partnerinnen und Partnern aus Kultur, Bildung, Gesellschaft, Politik und Wirtschaft. Ohne Sie wären viele unserer Vorhaben nicht möglich. Ich freue mich auf viele weitere Projekte und den regen Austausch mit Ihnen!

Und nun wünsche ich Ihnen und uns allen einen entspannten, fröhlichen Abend voller guter Gespräche!
 

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