21. April 2017
Zukunft erben - Deutsch-Georgisches Jahr 2017

Rede des Präsidenten des Goethe-Instituts Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann
 

Anrede,
 
die kulturellen Beziehungen zwischen Ländern, Gesellschaften und Völkern sind eine geheimnisvolle Angelegenheit. Je intensiver man sich auf die Betrachtung ihrer Geschichte einlässt, desto häufiger verblüfft einen das Hin und Her der Bezüge und man könnte manchmal tatsächlich auf die Idee kommen, dass man beim Studium der internationalen Kulturgeschichte in Wahrheit jene imaginäre Wesenheit, die Hegel auf den Namen „Weltgeist“ taufte, beim Nachdenken über sich selbst belauscht.
 
Meine erste Begegnung mit Georgien fand im Frühjahr 1996 statt. Sie hat mich dauerhaft geprägt. Ich verhandelte damals über die durch die sowjetischen Trophäenkommissionen nach dem 2. Weltkrieg verschleppten Bücher aus deutschen Bibliotheken, die nicht nur nach Moskau und Leningrad sondern auch in die Sowjetrepubliken verteilt wurden. !00 000 Bücher konnten aufgrund der fairen und beispielhaften Haltung Georgiens zurückgeführt werden, darunter wertvolle Schriften über die Reformation, die jetzt zum 500-jährigen Jubiläum Martin Luthers eine besondere Rolle spielen. Es blieb die einzige große Rückführaktion aus Osteuropa. Wir sind dafür zutiefst dankbar.
 
Deutsche Künstler, Intellektuelle, Architekten und Schriftsteller scheint an Georgien und überhaupt am Südkaukasus immer besonders fasziniert zu haben, dass hier ein östlicher Außenposten des europäischen Kontinents sich in einem lebendigen Austausch mit dem Orient und der islamischen Welt befand, oft natürlich genug denkbar konfliktreich und kriegerisch, genauso oft aber auch kreativ, kulturell befruchtend und friedensstiftend.
 
So ist das georgische Nationalepos, „Der Recke im Tigerfell“ von Shota Rustaveli, von den höfischen Epen Persiens intensiv beeinflusst. Es ist nach der ersten deutschen Übersetzung 1889 durch den in Tbilissi lebenden deutschen Dichter Arthur Leist noch vier weitere Male ins Deutsche übersetzt worden, und dieses außergewöhnlich intensive deutsche Interesse am Hauptwerk der georgischen Literatur wird damit zusammenhängen, dass Christoph Martin Wieland und Johann Wolfgang von Goethe zwei Generationen vor Arthur Leist in der persischen und überhaupt orientalischen Literatur den wichtigsten Gegenpol und die hauptsächlichste Inspirationsquelle für jene Idee der „Weltliteratur“ erkannten, die Goethe als die Zukunft literarischer Kultur prophezeit hat.
 
Goethe meinte mit dem von ihm geprägten Begriff „Weltliteratur” nicht etwa einen Kanon literarischer Texte, sondern eine Form der internationalen literarischen Kommunikation. Eine „allgemeine, freie Wechselwirkung aller zugleich Lebenden”, also den persönlichen Kontakt zwischen Autoren und dadurch eine Literatur, die „aus einem übernationalen, kosmopolitischen Geist heraus geschaffen”. Das Verlassen der eigenen Denkstrukturen sah er als eine entscheidende Voraussetzung für Erkenntnis, Verstehen und Verständnis und plädierte somit für Weltoffenheit und Weltneugier.
 
Bereits die erste Erwähnung Georgiens in der deutschen Literatur, Andreas Gryphius’ Barockdrama „Catharina von Georgien“ thematisiert die hochaktuelle Frage religiöser Toleranz und Intoleranz. Und überhaupt hat man das Gefühl, dass die offenen ebenso wie die geheimen Bezüge zwischen unseren Kulturen einen ungehobenen Schatz kreativer und zukunftsträchtiger Ideen darstellen, aus dem wir schöpfen müssen. Das Motto des deutsch-georgischen Jahres, das auf Deutsch „Zukunft erben“ lautet, könnte beziehungsreicher nicht gewählt werden.
 
Die Georgier selbst haben um die geheimen Bezüge zur deutschen Kultur immer gewusst und haben diese Bezüge bewusst gepflegt. So haben die Schöpfer der modernen georgischen Nation Ilia Tschawtschawadse und Akaki Zereteli ihre literarische Freundschaft, die zugleich eine politische Bundesgenossenschaft war, nach dem Vorbild der Allianz zwischen Goethe und Schiller stilisiert, was man unter anderem an der schönen Doppelstatue der georgischen Dichter vor dem klassischen Gymnasium am Rustaveli-Boulevard ablesen kann, die der Doppelstatue der deutschen Klassiker vor dem Weimarer Nationaltheater nicht zufällig gleicht.
 
Die Auseinandersetzung mit dem inspirierenden orientalischen Erbe hat auch den bedeutenden Beitrag deutscher Architekten zum Stadtbild von Tiflis im neunzehnten Jahrhundert geprägt: Das maurische Opernhaus am Rustaveli-Boulevard, das der deutsch-baltische Baumeister Viktor Schröter entworfen hat. Und nicht zuletzt das alte Rathaus, jenes Gebäude, in dem wir uns heute versammelt haben, und an dessen orientalisierendem Entwurf der deutschstämmige Architekt Paul Stern entscheidend mitgearbeitet hat.
 
Aber deutschstämmige Architekten sind es auch gewesen, die am klassizistischen und historistischen Tbilissi des neunzehnten Jahrhunderts prominent mitgebaut haben: zu nennen sind hier vor allem die Bauten von Albert Salzmann. Dessen Sohn Alexander hat die orientalisierenden Einflüsse, die er in Tbilissi sozusagen mit der Muttermilch eingesogen hat, kreativ und eigenständig in den europäischen Jugendstil eingebracht.
 
Dieses Ping-Pong-Spiel zwischen Deutschland und Georgien, zwischen Ost und West setzt sich in der Gegenwart fort: Tea Jorjadze, Meisterschülerin Rosemarie Trockels, die heute in Berlin als international anerkannte Künstlerin lebt, bringt eine zugleich feminine und bewusste georgische Note in die Gegenwartskunst ein.
 
Die Bildhauerin und Malerin Keti Kapanadze führt Impulse der spätsowjetischen und postsowjetischen Bohème Tbilissis als deutsche Künstlerin fort, und Karlo Katscharawa, der künstlerische Pate der jungen zeitgenössischen Szene Tbilissis ist nicht denkbar ohne die Einflüsse des deutschen Expressionismus und vor allem des bildnerischen Neoexpressionismus der achtziger Jahre in Berlin und Köln. Städte, die er kurz vor seinem tragischen Tod 1994 besucht hat.
 
Die georgische Schriftstellerin Nino Haratischwili, die jetzt in Hamburg lebt, ist eine herausragende Größe der deutschen Gegenwartsliteratur und mit zahlreichen Preisen geehrt.
 
Überhaupt freue ich mich, dass das rührige Georgian National Book Center sich dafür entschieden hat, nicht nur die georgische Literatur dem deutschen Publikum nahezubringen, sondern auch die anderen Künste, die derzeit in Georgien blühen, und dass seine Direktorin Medea Metreveli und ihre Mitstreiterinnen sich die von mir hier skizzierten deutsch-georgischen Kulturbezüge besonders zu eigen machen.
 
Das Georgische Nationalmuseum, mein Freund und Träger der Goethe-Medaille David Lordkipanidze, um ein letztes wichtiges Beispiel der deutsch-georgischen Kulturfreundschaft in der Gegenwart anzuführen, haben die Institution, der ich lange Zeit vorstand, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz und die Berliner Museen zu einem Eckpfeiler ihrer beeindruckenden internationalen Vernetzung gemacht. Mit Freude erinnere ich mich an die überwältigende Ausstellung „Medeas Gold“ 2007 auf der Berliner Museumsinsel, bei der erstmals der exquisite Goldschmuck aus der Tempelstadt bei Vani, historischer Kern der Argonautensage um Medea und Jason, im Ausland gezeigt wurde. Oder 2012 das Internationale Museumssymposium im Georgischen Nationalmuseum in Tblissi mit allen großen Weltmuseen, das unterstrich, dass die Museen des 21. Jahrhunderts ein unverzichtbares Element des Zivilisationsprozesses sind.
 
Und es wären noch viele andere Bezüge, Personen, Oeuvres und Institutionen zu nennen, die den deutsch-georgischen Kulturdialog in der Gegenwart mit Leben erfüllen.
 
Dazu zählt auch das Goethe-Institut, das seit 1994 in Georgien tätig ist. Insgesamt 4.400 Prüfungsteilnehmerinnen und -teilnehmer legten im vergangenen Jahr ihre Deutschprüfungen ab – das Interesse am Deutschlernen und an deutscher Kultur im Allgemeinen ist in Georgien innerhalb der Sub-Region besonders groß. Der kulturelle Austausch zwischen georgischen und deutschen Bildenden Künstlerinnen- und künstlern, Literaten, Musikerinnen, Tänzern oder Filmemacherinnen findet seinen Ausdruck in Ausstellungen, Lesetagen sowie Theateraufführungen, die zum regelmäßigen Programm des Goethe-Instituts Georgien gehören.
 
Das deutsch-georgische Jahr ist daher ein wunderbarer Rahmen für weitere west-östliche kulturelle Wechselwirkungen. Mein Dank gilt allen Partnern und Institutionen auf deutscher und georgischer Seite, die das deutsch-georgische Jahr ermöglicht haben und ermöglichen.
 
Und ich freue mich heute schon auf die kulturellen Weiterungen und Folgen, die das deutsch-georgische Jahr 2017 und der Gastlandauftritt Georgiens auf der Frankfurter Buchmesse 2018 für die Zukunft bringen werden.
 
Miteinander können wir ein kulturelles Netz zwischen West und Ost ausspannen und damit eine deutsch-georgische Zukunft im Blick in die Vergangenheit und zugleich nach vorne gemeinsam erben.
 
Ich danke Ihnen.

Es gilt das gesprochene Wort.

Top