28. August 2018
Verleihung der Goethe-Medaille 2018

Begrüßung durch den Präsidenten des Goethe-Instituts Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann

Anrede,

Wir haben die diesjährige Verleihung der Goethe-Medaille dem Thema gewidmet „Leben nach der Katastrophe“ und zeichnen Persönlichkeiten aus, die Brüche und existenzbedrohende Zäsuren im persönlichen und gesellschaftlichen Bereich nicht nur erlebt und überlebt haben, sondern mit der Kraft der Kultur einen Neubeginn ermöglicht haben.

Konflikte, Kriege und Bürgerkriege, politische Unterdrückung, Umweltzerstörung, Flucht und Vertreibung, unkontrolliertes Wachstum der Städte – all das sind derzeit Themen, die einen zunehmend verantwortungslosen Umgang mit natürlichen Ressourcen, die die brutale Missachtung von Humanität und Solidarität und die wachsende Gefahr des Verlustes von Identitäten beschreiben. In manchen Ländern tötet Gewalt im Alltag, hervorgerufen durch anhaltendes Elend, Bildungsarmut und Korruption oder durch politische Unterdrückung mehr Menschen als viele Kriege derzeit. Und die Zerstörung der Natur ist längst zu einer sich anbahnenden Katastrophe geworden, verursacht durch wirtschaftliche Gier, die den beheimateten Menschen ihre Lebensgrundlage raubt. Gegenwärtig sind weltweit so viele Menschen auf der Flucht wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Dabei wird die starre Unterscheidung von Migration und Flucht der komplexen Problemlage nicht mehr gerecht. Der brasilianische Schriftsteller Luiz Raffato schreibt: „Das Trauma des Kappens der Wurzeln ist unglaublich schmerzhaft. Der Flüchtling trägt zu jeder Zeit das Gefühl des Nicht-Dazugehörens in sich. Zu gehen heißt nicht nur, eine Landschaft zurückzulassen, Sprache, Ernährungsgewohnheiten, Lebensart, all dies. Zu gehen heißt vor allem, die Verbindung zu seinen Vorfahren zu kappen, die Kontinuität der Geschichte zu brechen.“ Es ist eine Welt, in der die Einheit der geschichtlichen Zeit zerbrochen ist und eine krasse Beschleunigung eingesetzt hat.

Zugleich erleben wir die kraftvolle Bewegung kultureller Initiativen, die zu Emanzipation, zu eigener Bestätigung und Aufwertung und zum Aufbegehren der Unterdrückung führen. Sie ermöglicht die Bestätigung einer eigenen Geschichte und die Anerkennung ihrer Besonderheit innerhalb größerer Gemeinschaften. Wilhelm von Humboldt sagt: „Des Menschen Wesen ist es, sich zu erkennen in einem Andern.“ Dieses aufeinander Eingehen ermöglicht die Entwicklung von Alternativen statt der Fixierung von Konflikten, ermöglicht Prozesse statt Stillstand, macht ausreichend selbstkritisch durch die Kenntnis des Anderen. Es setzt aber zugleich die Wertschätzung von Vielfalt, die Gleichwertigkeit der Anderen und die interkulturelle Kompetenz der Akteure voraus.

Dieses Denken, Arbeiten und die künstlerische Kompetenz setzen unsere Preisträger ein!
Ich begrüße mit großer Freude die zu Ehrenden und ihre jeweiligen Lobredner:

  • Das kolumbianische Theaterkollektiv Mapa Teatro um die Geschwister Heidi und Rolf Abderhalden, gegründet 1984 in Paris. Sie leisten nicht nur einen entscheidenden Beitrag zum zeitgenössischen kolumbianischen Theater, sondern auch zu den Aussöhnungsprozessen des Landes. Der über 50-jährige bewaffnete Konflikt, Gewalt, Vertreibung und ungeklärte Schuldfragen erfordern aus Sicht von Mapa Teatro eine beständige Auseinandersetzung mit Mitteln der Kunst. Im Sommer 2016 wurde Kolumbien laut UNCHR als das Land mit den meisten Fluchtbewegungen innerhalb der Grenzen eines Landes weltweit eingestuft – noch vor Syrien, ausgelöst durch den bewaffneten Konflikt von Guerilla, paramilitärischen Gruppen und kriminellen Banden. Das Goethe-Institut in Kolumbien hat sich in seinen Programmen immer wieder dem Themenfeld Flucht und Migration gewidmet und sich in Diskussionsforen zum Thema Opferentschädigung, Demokratie, Memoria, Versöhnung und Frieden großen Respekt erworben. Die Nähe zu Mapa Teatro war inspirierend. Seit 2017 beteiligt sich das Kollektiv an dem vom Goethe-Institut für zwei Jahre angelegten Regionalprojekt „Die Zukunft der Erinnerung“. Mit der künstlerischen Intensität von Mapa Teatro, die eine ganz eigene Aneignungsform von Stilen und Methoden schuf, gelang eine internationale Sensibilisierung für kolumbianische Themen.
  • Die Laudatio hält Deniz Utlu, Schriftsteller und Theaterautor, selbst engagiert mit politischen Stücken und aktiv in der Menschenrechtsarbeit. Er lebt in Berlin, kennt Südamerika aus eigener Anschauung. Ein herzliches Willkommen in Weimar. 
  • Claudia Andujar, Fotografin, Künstlerin und Menschenrechtlerin. Sie zählt zu den bedeutendsten Vertreterinnen der künstlerisch-dokumentarischen Fotografie Südamerikas. Nach ihrer Flucht vor den Nationalsozialisten fand sie in Brasilien eine neue Heimat. Den größten Einfluss auf ihr Leben und ihr künstlerisches Schaffen hat ihre Begegnung mit den Yanomami, deren Existenz von der durch wirtschaftliche Interessen getriebenen Zerstörung ihres Lebensraum bedroht ist. Anfang der siebziger Jahre hat die brasilianische Regierung das Teilstück einer geplanten Transamazonas-Straße durch das Land der Yanomami gebaut, ein größenwahnsinniges und vergebliches Unternehmen. Der Dschungel hat sich die gerodeten Flächen wieder zurückerobert. Claudia Andujar hat in einem unermüdlichen Kampf den Schutz der Yanomami zu ihrem Lebensprojekt gemacht. Im Rahmen dieses Engagements sind seit den 1970er Jahren über 60 000 Fotografien entstanden. Sie lebte mit ihnen, sie kämpfte mit ihnen gegen die Profitgier der Konzerne, sie organisierte gegen das Militärregime eine zivilgesellschaftliche Initiative und überzeugte immer wieder Aktivisten. Letztlich war es ihre Überzeugung und ihre Leidenschaft, die 1992 dazu geführt haben, dass der Lebensraum im Amazonasgebiet zum Schutzraum erklärt wurde. Nach Weimar begleitet sie deshalb zu Recht der Sprecher und Schamane der Yanomami, Davi Kopenawa. Mit Davi und den Yanomami hat das Goethe-Institut 2010 ein groß angelegtes Multimedia-Projekt gemacht, die Amazonas-Oper, die in drei Phasen die Bedrohung durch die Kolonisierung, die Bedrohung durch die wirtschaftliche Ausbeutung und die hochklassige Yanomami-Wissenskultur für eine Zukunftsfähigkeit darstellt. Zur Recherche hatte Davi drei kleine Delegationen in sein Dorf im Regenwald eingeladen – Komponisten und Videokünstler, Philosophen und Journalisten. Begleitet hat sie dabei der französische Anthropologe Bruce Albert, der Yanomami spricht und sich seit mehr als dreißig Jahren – gemeinsam mit Claudia Andujar – für den Erhalt der Yanomami-Kultur und den Lebensraum einsetzt. Der brasilianische Komponist Tatu Taborda hat das polyfone Gewebe der Naturlaute des Urwalds in ein beeindruckendes Klangspektrum umgesetzt. Claudia Andujar war immer die Seele und der Motor des Engagements. Die Laudatio hält Stephen Corry, der für die Selbstbestimmung der Naturvölker und den Schutz ihrer Heimatgebiete arbeitet. Seine Arbeit richtet sich gegen Unwissenheit und Vorurteile und für ein besseres Verständnis. Herzlich willkommen in Weimar!
  • Schließlich ehren wir als Dritten im Bunde Péter Eötvös, ungarischer Komponist und Dirigent, der zu den erfolgreichsten Opernkomponisten unserer Zeit gehört, für den die europäischen Musikkulturen ein gemeinsames Grundmuster haben, sich aber in eigenen Klangwelten ausdrücken. Seine außergewöhnlichen Klangkompositionen stellen unablässig existentielle Fragen. Die Nähe zu den Menschen, ihren Leiden, ihre Bedrängungen setzt er in seinen Opern in Musik voll dunkler Schönheit und oft emotionaler Überwältigung um. Es sind zutiefst packende Hörerlebnisse. Fast hellseherisch hat er sich schon früh mit den aktuellen Problemen der Flüchtlingsströme in Europa bildkräftig auseinandergesetzt. Diese Themen sind ihm ein tiefes Anliegen und er glaubt daran, mit der Musik die Menschen zu erreichen. Dabei steht er nicht für ein fest gefügtes Image, sondern er sieht sich als Übersetzer und Transformator von Geschehnissen und Bildern in die Musik .So ist Péter Eötvös im besten Sinn der vierte im Bunde. Denn alle vier Preisträger sehen in der künstlerischen Ausdrucksfähigkeit ein wesentliches Element des menschlichen Zusammenlebens und der menschlichen Teilhabe. Und gerade Europa braucht einen solchen Übersetzer in einer Zeit der gegenseitigen Abschottung, der Zunahme von Nationalismus und Populismus, des fehlenden gegenseitigen Respekts und der mangelnden Solidarität. Ohne kulturelles Verständnis, ohne Dialogfähigkeit wird unsere Welt immer weniger verständlich. Es braucht Menschen, die sich aktiv der kulturellen Vermittlung widmen, auch mit der Fähigkeit des Umgangs mit kulturellen Unterschieden, sei es in Südamerika, Afrika oder Europa. Albert Ostermaier hat für Péter Eötvös die Laudatio übernommen. Er ist vor allem als Lyriker und Dramatiker bekannt geworden, vielfach ausgezeichnet. Er ist ein leidenschaftlicher Theatermensch, der aufsehenerregende Festivals organisiert hat. Im Juni 2018 wurde bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen sein neuestes Werk „Die verlorene Oper. Ruhrepos“ aufgeführt. Für Péter Eötvös, der terminlich durch eine lang geplante Aufführung verhindert ist, begrüßen wir seine Tochter Ann-yi Bingol. Ihr und Albert Ostermaier ein herzliches Willkommen.
 
Kurz einführen möchte ich Sie noch in das heutige Musikprogramm. Gemeinsam mit dem Lehrstuhl für Transcultural Musical Studies an der Hochschule für Musik Franz Liszt hier in Weimar stellen wir Ihnen Musik mit einer jeweiligen Verbindung zu den Preisträgerinnen und Preisträgern vor. Kuratiert haben das Programm Christian Diemer und Prof. Tiago de Oliveira Pinto, denen ich herzlich dafür danke.

Jorge Villalón, der sich seit 1966 der Sammlung und Interpretation von Volksliedern und -melodien aus Lateinamerika widmet, spielt für die Verleihung der Goethe-Medaille an Mapa Teatro traditionelle Lieder und Melodien aus den verschiedenen Regionen Kolumbiens. Dabei begleitet er seinen eigenen Gesang auf dem Cuatro, einer kleinen, viersaitigen Gitarre, die im nördlichen Südamerika verbreitet ist.

Die Komposition „Onapapitsi" wurde von Acácio Piedade, dessen Werke bereits in Brasilien und Europa aufgeführt wurden, eigens für die Verleihung der Goethe-Medaille an Claudia Andujar angefertigt. Piedade bezog sich dabei auf eigene, im Rahmen seiner Feldforschungstätigkeit in der Amazonasregion gesammelte Klangaufnahmen indigener Völker, insbesondere der Wauja aus der oberen Xingu-Region.
 
Deren langgestreckte Watana-Doppelflöten finden im Klang der Querflöten eine Entsprechung, die  von Anne Baumbach und Fabian Franco Ramirez gespielt werden. Experimentelle Spieltechniken wie z.B. das „In-die-Flöte-Singen” erinnern an grundlegende Eigenschaftender komplexen indigenen Musiksprache. Ziel ist jedoch weniger deren Nachahmung, sondern ihre kreative Übertragung in eine eigenständige Neukomposition.
 
Zuletzt wird das von Péter Eötvös komponierte Paukensolo „Thunder” vorgetragen, er selbst war einige Jahre als Perkussionist im Ensemble von Karlheinz Stockhausen tätig. Dem Komponisten und Dirigenten wird nachgesagt, sich komplexe zeitgenössische Orchesterpartituren von der Schlagzeugstimme aus zu erschließen. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass er diesem "Orchesterinstrument des Hintergrunds" zu solistischem Glanz verhilft. Die Perkussions-Studie "Thunder" beschränkt sich auf eine einzige Basspauke, was vom Spieler Alexander Schuchert besondere Virtuosität erfordert.

Ich möchte abschließend nicht versäumen, mich noch einmal bei der Klassik Stiftung Weimar zu bedanken. Lieber Herr Seemann – einen festlicheren Rahmen als das Stadtschloss Weimar könnten wir uns für die Verleihung der Goethe-Medaille kaum wünschen! Aufgrund der anstehenden Sanierungsarbeiten im Stadtschloss werden wir in den nächsten Jahren leider nicht Gast in Ihrem Haus sein können – wir hoffen aber, darauf, nach Abschluss der Bauphase in das sanierte Schloss zurückkehren zu dürfen.

Gemeinsam mit dem Kunstfest Weimar hat das Goethe-Institut schon in den vergangenen zwei Tagen zur Begegnung mit den diesjährigen Preisträgerinnen und Preisträgern eingeladen. Wir bedanken uns beim Kunstfest Weimar für die erneut ausgezeichnete Zusammenarbeit.

Und nun freue ich mich, das Wort an die Staatsministerin im Auswärtigen Amt für internationale Kulturpolitik, Michelle Müntefering, übergeben zu dürfen.

Ich wünsche uns eine wunderbare Festveranstaltung! Herzlichen Dank.

Es gilt das gesprochene Wort!
 

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