1. Oktober 2020
Wir dürfen nicht in die Welt gehen, um zu belehren

Interview mit Klaus-Dieter Lehmann im Rotary Magazin

Klaus-Dieter Lehmann hat die kulturelle Landschaft Deutschlands mehr als 30 Jahre lang mitgestaltet. Im Interview erinnert er sich an die Herkulesaufgabe der Zusammenführung der ost- und westdeutschen Bibliotheken, warnt vor Geschichtsvergessenheit und spricht über Versäumnisse bei der Planung des Humboldtforums.

In diesen Tagen jährt sich die deutsche Wiedervereinigung zum 30. Mal. Aber so richtig zum Feiern ist wohl niemandem zumute. Liegt das an Corona, an der Enttäuschung über die Einheit? Oder haben wir den Bezug zur eigenen Nation verloren?

Da muss ich widersprechen. Mir ist schon zum Feiern zumute. Auch nach 30 Jahren und allem, was ich damals erlebt habe. Sicher, wir haben auch Fehler gemacht, haben die Probleme unterschätzt und zumindest zu Anfang nur die ökonomische Seite der Wiedervereinigung gesehen. Die kulturelle Seite kam dabei zu kurz. Sie war aber die Voraussetzung dafür, dass wir uns eine Wiedervereinigung überhaupt noch einmal vorstellen konnten. Die gemeinsame Sprache, die gemeinsame Kultur und Geschichte, die sind eben nicht verloren gegangen in den Jahren der Teilung. Es ging nie nur um die gemeinsame Währung, um die D-Mark, wie manche Kritiker verächtlich behauptet haben. Es ging auch um gemeinsame kulturelle Wurzeln.

Ist die Vereinigung der beiden Nationalbibliotheken ein Beispiel dafür?

Ja, ich glaube, wir haben damals bewiesen, dass auch ein gemeinsamer Weg möglich war, und der ostdeutsche Standort nicht zugunsten des westdeutschen aufgegeben werden musste. Wir sind damals als Fachleute angetreten, haben unser Feld nicht der Politik überlassen, sondern selbstbewusst gesagt: Das nehmen wir jetzt selbst in die Hand, das gestalten wir selbst.

Ich bin im Mai 1988, also ein Jahr bevor die friedliche Revolution in der DDR begann, Generaldirektor der deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main geworden. Schon im Juli bin ich nach Leipzig gereist, um meinen Amtskollegen Rötzsch in der Deutschen Bücherei zu treffen. Wir hatten dann zu einem Zeitpunkt schon ein gemeinsames Arbeitsprogramm festgelegt als eine Wiedervereinigung noch undenkbar war. Obwohl mir Rötzsch damals gesagt hat: „Ich werde im nächsten Jahr pensioniert, was halten Sie davon, wenn Sie mein Nachfolger werden?“ Da lachten damals alle schallend, weil sich das keiner ernsthaft vorstellen konnte.

Dann kamen 1989 die Montagsdemonstrationen, im November fiel die Mauer und alles änderte sich schlagartig. Wir haben sofort gemeinsame Arbeitsgruppen gebildet und eine gemeinsame Linie verabredet. Denn beide Seiten wussten natürlich, dass bei zwei gleichartigen Einrichtungen eine in ihrer Existenz bedroht war, abgewickelt zu werden. Wir mussten uns dieser Gefahr stellen, mussten begründen, warum zwei Standorte sinnvoll sind und sich auch wirtschaftlich darstellen ließen. Schon im Januar 1990 war dieses Konzept in den Grundzügen fertig.

Was hat Sie damals überhaupt in den Osten getrieben? War das Abenteuerlust? War das Ehrgeiz? War das Patriotismus?

Zum einen sah ich das natürlich als meine Aufgabe als Generaldirektor der Deutschen Bibliothek. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Ich hatte von Kind an ein sehr persönliches Verhältnis zum Osten. Ich bin in Breslau geboren. Das habe ich nie vergessen. Bis heute bin ich mit den Museen und der Universität dort vertraut. Ich habe beispielsweise 2017 die Rede auf den Breslauer Stadtpräsidenten Rafal Dutkiewicz gehalten, bei der Verleihung des Deutschen Nationalpreises.

Aber auch zu Leipzig habe ich ein ganz persönliches Verhältnis. Meine Familie war getrennt wie das Land. In Leipzig wohnten meine Großmutter, mein Onkel, meine Kusine. Ich bin als Junge in den Sommerferien immer wieder in Leipzig gewesen, später auch zur Buchmesse. Ich habe beide Seiten gekannt, beide Lebensverhältnisse. Das hat mich natürlich angetrieben, nach dem Fall der Mauer nach Leipzig zu gehen. Für mich war das ein Wink des Schicksals, dass ich, der beide Deutschlands kannte, auch derjenige sein soll, der die beiden Bibliotheken zusammenführt. Das war meine emotionale Seite. Das ist vielleicht auch der Grund, warum ich so tief eingedrungen bin in diese schicksalshafte Aufgabenstellung.

Sie haben damals in Leipzig quasi unter Studentenbedingungen wieder angefangen. Wie hat sich das angefühlt, wie kamen Sie damit klar?

Ich konnte mir ja mit meinen Bezügen aus dem Öffentlichen Dienst auf Dauer kein Hotelzimmer leisten. Daher wohnte ich zunächst im Männerwohnheim von Robotron. Dort konnte man die Heizung nicht abstellen und vor dem Haus donnerten die schweren alten Straßenbahnen aus tschechischer Produktion. Dann haben meine Frau und ich uns in der Deutschen Bücherei zwei ehemalige Lagerräume hergerichtet. Ich wohnte also gewissermaßen in dem wunderbaren Jugendstilbau von 1912 unter meinen Büchern, unter Millionen von Büchern, eine ungemein inspirierende Situation. Es war für mich eine großartige Gelegenheit, als Gastgeber meine ausländischen Kollegen dort zu empfangen und zu vermitteln, was diese Stadt für das Buch bedeutet und welcher Aufbruch spürbar war. Damals entstand auch die Idee „Leipzig liest“.

Noch heute hört man in Leipzig, dass Sie einer der Aufbauhelfer waren, der wirklich versöhnen wollte. Was haben sie anders gemacht? Was haben die anderen falsch gemacht?

Entscheidend war wohl, dass ich nicht mit fertigen Rezepten ankam, sondern erst einmal zuhören wollte. Ich wollte wissen, was die Menschen bewegte, wovor sie Angst hatten und welche Hoffnungen und Visionen sie in sich trugen. Es war ja ein dramatischer Einschnitt, der alle Lebensbereiche betraf. Alle Veränderungsprozesse habe ich immer vor der ganzen Belegschaft erläutert, in offener Aussprache. Die Mitarbeiter erlebten ihren Chef. Sie bekamen die wichtigen Informationen von mir aus erster Hand und nicht aus einer fernen anonymen Führungsetage. Natürlich gab es auch die Stasi-Problematik mit IMs. Sofern sie das korrekt dokumentierten, gab es Gespräche über die künftige Verwendung, sofern sie es verheimlichten, mussten sie das Haus verlassen. Beide Vorgehensweisen waren im Einklang mit der Haltung der Belegschaft. Auch ich musste Leute entlassen. Die Belegschaft mit mehr als 600 Mitarbeitern war viel zu groß. Dafür konnte ich beim Unterhaltsträger einen Übergangszeitraum von mehreren Jahren erreichen, der genutzt werden konnte für Umschulungen oder andere hilfreiche Prozesse. Wir haben versucht, soziale Härten zu vermeiden. Ich kann mich an keine Situation erinnern, in der es zu einer unauflösbaren Polarisierung gekommen wäre.

Aber auch Sie haben – wenn wir ehrlich sind – in Leipzig kaum einen Stein auf dem anderen gelassen. Die Deutsche Bücherei hing dem Standard westlicher Bibliotheken um Jahre hinterher, der Anschluss an die Digitalisierung fehlte und von vielen Mitarbeitern haben sie sich getrennt. Ohne Mithilfe der Betroffenen kann man einen solchen Kulturwandel nicht schaffen. Wer zog da mit? Helmut Rötzsch, der Bibliotheksdirektor in Leipzig, ihr Counterpart und eigentlich jemand, den man einen typischen DDR-Kader nennen würde?

Vor allem der zweite Mann in Leipzig, Gottfried Rost, ein feiner zurückhaltender Mensch, ein Fachmann, der nie reisen durfte, nie in den Westen gekommen war. Helmut Rötzsch hingegen war ein gewitzter, bauernschlauer Mann, der wusste, was er an seinen Fachleuten hatte und wie man die Parteioberen gewinnen konnte. Er nutzte die Kontakte in den Westen, etwa zum Börsenverein, sehr geschickt, um beispielweise zu erreichen, dass die westdeutschen Verlage ihre Belegexemplare auch nach Leipzig schickten. Leipzig wurde dadurch zum einzigen Standort, an dem die gesamte deutsche
Buchproduktion komplett vorhanden war. Allerdings musste diese Literatur auch für die Nutzer über die Anzeige in der Leipziger Bibliografie zugänglich gemacht werden. Das war die Bedingung.

War es ein Fehler, sich von so vielen Führungsleuten im Osten wegen ihrer SED-Vergangenheit zu trennen? Es stand ja auch noch kein anderer Führungsnachwuchs zur Verfügung.

Da ist man leider viel zu oft nach Schema F verfahren. Man hat sich nicht die Zeit genommen, genau hinzusehen. Man wollte das vielleicht auch gar nicht.

Was berührt Sie in der Rückschau mehr, Leipzig oder Berlin, wo dann die sehr viel größere Aufgabe auf Sie wartete?

Menschlich hat mich Leipzig sehr viel stärker geprägt, weil ich ja nicht nur einer der vielen Aufbauhelfer war, die dort von Dienstag bis Donnerstag auftauchten, sondern weil ich in Leipzig richtig gelebt habe und für meine neuen Kollegen präsent war. Ich habe schnell gemerkt, wie grundverschieden unsere Biografien verlaufen sind und wie wichtig es war, sie aufeinander zu beziehen. Ich war oft in der Rolle des Übersetzers. Es gab viele Ängste. Auf beiden Seiten. Aber auch Hoffnungen. Neben unserem enormen Arbeitspensum hat uns das die meiste Kraft gefordert. Aber das hat auch Kraft gegeben. Es ging eben immer um Menschen und nicht nur um Strukturen, um juristische oder organisatorische Fragen. Insofern war die Aufgabe in Leipzig umfassender, ganzheitlicher, berührender. Ich habe damals viel gelernt, was mir später in Berlin sehr geholfen hat.

Wirkt sich das bis heute aus? Lässt sich ein Teil der Probleme und Verwerfungen, die das Gutachten des Wissenschaftsrates jetzt in der Preußenstiftung festgestellt hat, darauf zurückführen?

In Berlin schmerzen immer noch die Narben der Nachkriegszeit. Zugleich war es aber eine zweite Chance! Die im jetzigen Gutachten des Wissenschaftsrates beschriebenen Schwachstellen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz haben damit nichts zu tun. Im Gegenteil. Das 1957 formulierte Errichtungsgesetz – im Einklang mit dem Grundgesetz – war eine intelligente und weitsichtige Lösung, die als gesamtdeutsche Aufgabe die Bestände zusammenführen sollte und ein Zerreißen des organischen Zusammenhangs verhindern sollte. Die Wiedervereinigung Deutschlands war dann die entscheidende Voraussetzung, alle 16 Länder und den Bund als Teilhaber der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zu etablieren. Das ist gelebte Verfassungswirklichkeit, auch wenn ich mir natürlich eine höhere finanzielle Beteiligung der Länder gewünscht hätte. Zugleich war es eine gemeinsame Basis für Wissenschaft, Kultur und Öffentlichkeit.

Genau diesen Zusammenhang, die föderale Konstruktion, stellt das Gutachten des Wissenschaftsrats infrage.

Das kann ich nicht akzeptieren. Außerdem: Warum mokiert sich das Gutachten über den Namen Preußischer Kulturbesitz?Warum ist der nicht mehr zu vermitteln? Das ist ein reines Marketingargument und hat mit der Geschichte und Bedeutung dieses Erbes nichts zu tun. Preußen hat im 19. Jahrhundert die Wende zum Kulturstaat bewusst vollzogen. Die militärische Macht war untergegangen und nur die Kultur bildete noch ein Bindeglied dieses zerstörten Staates. Die Idee der Museumsinsel steht dafür. Sie ist ein Kind des 19. Jahrhunderts, und sie ist – was viele nicht bedenken – eine bürgerliche Schöpfung. Sie ist Ausdruck des Selbstbewusstseins und der Emanzipation des Bürgertums, insbesondere auch des jüdischen Bürgertums. Die Sammlungen dort sind deshalb auch vor allem bürgerliche Sammlungen und nur zum kleineren Teil königliche. Ich bin nicht derjenige, der das Bild von Preußen schönen möchte. Aber ich fordere das ganze Bild ein. Die Sammlungen nur unter Marketinggesichtspunkten zu vermitteln ist Geschichtsvergessenheit. Kultureller Kontext und Provenienzen sind wesentlich für die Kulturgeschichte und die daraus zu gewinnenden Erkenntnisse. Seine Kulturhoheit hat Preußen im Übrigen nie an das Reich abgegeben. Sie ist immer in der Länderzuständigkeit verblieben.

Wir brauchen diesen historischen Kontext. Und ich sehe gerade auch in der Vernetzung von Bibliotheken, Museen und Archiven ein großartiges Potenzial für ein Gesamtbild der kulturellen und geistesgeschichtlichen Entwicklung. Warum soll das ausgerechnet im Falle der Preußenstiftung jetzt zerschlagen
werden, wie vom Wissenschaftsrat empfohlen? Nehmen sie nur die heute so aktuelle Frage des Kolonialismus und seiner Aufarbeitung. Dafür brauchen wir die ganze Breite der Bestände, die in der Stiftung vorhanden sind: die Museen, die Bibliotheken, das Geheime Staatsarchiv. Das gehört zusammen.

Dienen die organisatorischen Vorschläge des Gutachtens also nur als Vorwand, um sich von Teilen der eigenen Geschichte zu trennen, um historischen Ballast abzuwerfen?

Ich will da nicht spekulieren. Wenn Preußen für uns heute ein Akzeptanzproblem darstellt, dann muss das doch gerade den Ehrgeiz wecken, uns damit näher zu beschäftigen, zu verstehen, warum uns dieser Teil unserer Geschichte so fremd geworden ist, oder zu zeigen, wo uns auch schlicht die Kenntnis fehlt. Mit der eigenen Geschichte muss man sich kritisch auseinandersetzen und sie nicht einfach entsorgen. Damit schaden wir uns doch nur selbst.

Und die föderale Zuständigkeit der Länder?

Gerade die Verbindung der Preußenstiftung zu den Ländern dürfen wir nicht abreißen lassen. Wir brauchen die Länderverantwortung in der Stiftung, auch wenn ich das notorische Missverhältnis zwischen deren Finanzierungsanteil und ihrem politischen Einfluss sehr genau kenne. Trotzdem bin ich damals von Bundesland zu Bundesland gefahren, um die Länder in der Stiftung zu halten. In einem föderalen Staat muss eine nationale Stiftung föderal verankert sein. Berlin ist nicht die Reichshauptstadt, sondern die Bundeshauptstadt. Zentralisierung wäre der falsche Weg.

Die Vorschläge des Wissenschaftsrats sind auch verfassungsrechtlich äußerst problematisch.

Wenn wir den im Gutachten vorgeschlagenen Weg tatsächlich gehen wollten, dann würden wir uns in den nächsten Jahren nur noch mit rechtlichen Auseinandersetzungen beschäftigen, statt uns um die Stiftung selbst kümmern zu können. Statt einer Reform bekommen wir dann einen Reformstau. Natürlich gibt es in der Stiftung einen Stillstand. Die innere Organisation hat sich nicht weiterentwickelt, die Digitalisierung schwächelt, die Hierarchieebenen haben sich potenziert und die Budgetzuständigkeiten sind unklar, ganz zu schweigen von den viel zu geringen Betriebsmitteln. Dem Präsidenten muss ein deutliches kulturpolitisches Gewicht zukommen.

Und die Selbstverantwortung der Häuser?

Für die Staatsbibliothek und das Geheime Staatsarchiv ist das gegeben. Natürlich muss auch die Eigenständigkeit der Museen gewährleistet sein. Aber da geht es um Haushaltsfragen und Budgethoheit. Dafür muss man nicht den inneren Zusammenhang auflösen, die gemeinsame Idee. Peter-Klaus Schuster sprach von seinen Museen immer als von einem Universalmuseum. Das war auch meine Auffassung. Die einzelnen Museen bilden zusammen ein Universalmuseum. Jedes hat eine eigene Expertise, seine Programm- und Finanzverantwortung, ein eigenes Profil, das nicht infrage steht. Aber gemeinsam bilden sie ein Ensemble, wie es kein zweites gibt. Über ein transparentes Berichtswesen sind sie gegenseitig erkennbar und zu steuern. Nach der äußeren Neuordnung der Stiftung mit dem gesetzlichen Rahmen und den verschiedenen Masterplänen, ist die innere Ordnung aufgrund der in den letzten zehn Jahren erfolgten Veränderungen notwendig.

Die Probleme im Umgang mit dem eigenen Kulturerbe werden inzwischen überlagert von anderen Fragen, wie der nach dem Umgang mit unserer kolonialen Vergangenheit. Sie haben damals die Idee des Humboldtforums formuliert. Die Weltkulturen sollten in Berlins Mitte aufeinandertreffen. Inzwischen geht es beim Humboldtforum viel mehr um Fragen von Raubkunst und Provenienz. War dieser Konflikt vorhersehbar?

Wir haben bei der Planung des Humboldtforums versäumt, uns dezidiert um die Kolonialzeit zu kümmern. Ich finde es richtig, dass durch die Prominenz des Humboldtforums dieser Frage die notwendige Aufmerksamkeit gewidmet wird. Die Abgesandten der indigenen Völker hatten sich ja schon Jahre zuvor bei uns gemeldet. Aber es wäre falsch, das Humboldtforum auf ein Kolonialmuseum zu reduzieren. Das wäre viel zu kurz gesprungen. Wir müssen uns doch mit der gesellschaftlichen Realität dieser Länder befassen, mit ihrem heutigen kulturellen Leben, ihren Möglichkeiten und Perspektiven. Wir haben erst ein wichtiges historisches Kapitel ausgeblendet und jetzt werden die Chancen eines zeitgemäßen Dialogs nicht genutzt.

Nachdem ich 2008 an die Spitze des Goethe Instituts gewechselt bin, habe ich zwei Projekte angestoßen. Bei einem Projekt, Burden of Memory, gingen afrikanische Kuratoren der Frage nach, welche kulturelle Prägung die Kolonialzeit für die verschiedenen Völker und Gesellschaften bedeutet hat, und was ist davon geblieben, was wirkt bis heute nach? Zum anderen habe ich in mehreren afrikanischen Ländern Museumsgespräche initiiert, die herausfinden sollten, wie die Afrikaner ihre eigenen Museen sehen. Diese Museen kommen eben nicht aus der europäischen Tradition der Aufklärung, es sind eher Museen der Emanzipation und der kulturellen Selbstvergewisserung.

Uns war wichtig, mit den Akteuren in diesen Ländern selbst ins Gespräch zu kommen, statt einen akademischen Diskurs über sie zu veranstalten. Diese frühe Chance zum Dialog haben wir beim Humboldtforum versäumt.

Geht es am Ende um uns selbst, um unsere eigene Geschichte, um den Versuch der nachträglichen Selbstkorrektur?

Aber das ist doch genau die Illusion. Wir haben im Deutschen das wunderbare Wort Denkmal. Darin steckt die Aufforderung zum Nachdenken. Wenn wir alle Denkmäler schleifen, dann ist der Bezug zur eigenen Geschichte, aber auch die Möglichkeit, neu und anders über sie nachzudenken, verschwunden. Auch da plädiere ich für genaues Hinsehen. Wir müssen die Reibung solcher Denkmäler nutzen, um neu über uns nachzudenken, aber wir dürfen uns von unserer Geschichte nicht abkoppeln. Überhaupt beunruhigt mich die Beobachtung, dass wir uns immer mehr voneinander abschotten, dass wir den Dialog verweigern und die Berechtigung, füreinander zu sprechen. Europäer dürfen nicht mehr über Nichteuropäer reden. Weiße nicht mehr über nichtweiße Menschen. Alte Männer nicht mehr über Frauen. Wohin soll das führen? Das entzieht dem aufgeklärten Diskurs, auf den wir so lange stolz waren, die Grundlage. Diesem Trend müssen wir energisch widerstehen. Wir bilden doch alle eine Lerngemeinschaft, wie es Wolf Lepenies so treffend formuliert hat.

In wenigen Wochen – man muss fast sagen Tagen – scheiden Sie aus dem letzten ihrer vielen Ämter. Wenn Sie nochmal eine Hoffnung formulieren, vielleicht einen Wunsch an die Kulturpolitik in unserem Land, wie lautete der?

Wir dürfen nicht in die Welt gehen, um zu belehren, sondern wir müssen unsere Dialogfähigkeit erhalten. Dazu ist es notwendig, das hierarchische Denken zu überwinden, die Wertschätzung von Vielfalt und die Gleichwertigkeit der Anderen zu achten. Abgrenzung und Isolation sind das Ende von jeder Art von Humanismus. Kultur ist nicht per se friedenstiftend, sie muss sich mitteilen, muss sich erklären. Sonst kann sie auch zur Waffe werden. Diese Grundüberzeugung gebe ich meinen Nachfolgern gerne mit.

Herr Prof. Lehmann, herzlichen Dank für das Gespräch.

Das Gespräch führte Johann Michael Möller.

 

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