Sprache und Literalität
DEUTSCH ALS FRÜHE ZWEITSPRACHE

Es gilt als gesichert, dass Kinder, die ohne vielfältige sprachliche Anregungen wie etwa Vorlesen und Erzählen von Geschichten aufwachsen, in ihrer Entwicklung und Bildung grundlegend benachteiligt sind. In hohem Maße betrifft das Kinder aus sogenannten bildungsfernen Familien. Kindern aus zugewanderten Familien fehlt oft der Zugang zu Geschichten und Texten in deutscher Sprache.
 
Wenn Sprache und Schriftkultur einem Kind im Vorschulalter nur unzureichend nahegebracht wurden, hat es mit großer Wahrscheinlichkeit später Leistungsdefizite und kann nur mühsam lesen und schreiben lernen. Erfahrung mit Literalität, auch „Literacy“ genannt, also die Beschäftigung mit Schrift und Text, ist demnach einer der wesentlichen Faktoren beim Schriftsprachenerwerb. Voraussetzung sind natürlich ausreichende Sprachkenntnisse. Ein Kind kann lediglich die Buchstaben und Wörter lesen und schreiben, die es kennt und deutlich aussprechen kann. Nur wenn es die Bedeutung der Wörter kennt, kann es auch sinnentnehmend lesen, was nicht nur für den Deutschunterricht, sondern zum Beispiel auch für das Lösen von Mathematikaufgaben unverzichtbar ist (siehe auch Literacy – Lese- und Schreibkompetenz).
 
In Anlehnung an den Sprachforscher Cummins unterscheidet man die Kompetenzen BICS (Basic Interpersonal Communication Skills) und CALP (Cognitive Academic Language Profiency):

Kinder, die bis zum Schulbeginn hinreichende Fähigkeiten in der mündlichen Alltagskommunikation (BICS) erworben haben, können zwar konzeptionell mündliche Texte und Äußerungen produzieren. Die Schule verlangt aber zunehmend konzeptionell schriftsprachliche Kompetenz (CALP), die ohne literale Erfahrungen nicht im nötigen Umfang erworben werden kann.
 
Da inzwischen 92% der Kinder mit Migrationshintergrund einen Kindergarten besuchen, fällt diesen die Aufgabe zu, die im Elternhaus fehlende Literalität in der deutschen Sprache zu ersetzen.
 
Literale Sprachförderung im Kindergarten bedeutet, dass die Kinder

  • „mit Geschichten, Gedichten und Reimen vertraut gemacht werden,
  • Interesse an der Funktionsweise der Sprache, insbesondere auch der geschriebenen Sprache gewinnen,
  • einen Sinn für den Rhythmus, die Melodie sowie die Akzentgebung der Sprache entwickeln,
  • eine Bewusstheit für Alliteration und Reime entwickeln,
  • zum Malen und Schreiben angeregt werden,
  • zum spielerischen Umgang mit Sprache angeregt werden,
  • Interesse an Bildern, Büchern und schriftlichen Materialien aller Art entwickeln.“
Ein Beispiel für gelungene Literalitätsförderung ist das „Kieler Modell“ von Ernst Apeltauer. Die beteiligten Kitas haben das getan, was heute generell als weiteres Erfolgsrezept gilt: Sie haben die Eltern und deren Muttersprachen in die Literalitätsförderung einbezogen. Dank Aufklärungs- und Fortbildungsarbeit haben die Eltern gelernt, wie man beispielsweise interaktiv vorliest und über welches Anregungspotential Gute-Nacht-Geschichten verfügen. Die Eltern haben für ihre Kinder CDs in ihrer Muttersprache besprochen, die Gruppe auf Ausflüge begleitet, bei Bastelarbeiten geholfen sowie kleine Puppen-Theaterstücke inszeniert oder zweisprachige Rätsel-Bücher für die Kinder erstellt.

Die wissenschaftliche Begründung dieses Konzepts ist, dass die Familiensprache den Nährboden für die kognitive Entwicklung des Kindes bildet. Über die Muttersprache wird dem Kind nicht nur sprachspezifisches Wissen vermittelt (Wortschatz, Grammatik etc.), über sie taucht das Kind auch in die umgebende emotionale und kulturelle Welt ein, über sie erschließt es sich sein erstes Weltwissen.

Wenn Kinder ihre erste Sprache bei der Wissenserschließung zurückstellen müssen, bevor sie in der zweiten Sprache ausreichende Fertigkeiten ausgebildet haben, werden sie in ihrer Entwicklung gehemmt.
 
Hier noch eine Literaturempfehlung:
  • Das Amira Leseförderprogramm präsentiert Geschichten für Erstleserinnen und Erstleser als virtuelle Büchlein in fünf Sprachen - Deutsch, Türkisch, Russisch, Italienisch und Arabisch. Zielgruppe des kostenlosen Angebotes sind Kinder mit besonderem Förderbedarf.
Weitere Link-Tipps und Literaturempfehlungen:
goethe.de/literacy
 
Um allen Kindern und Jugendlichen eine bessere sprachliche Bildung und Förderung zu ermöglichen, wurde die Bund-Länder-Initiative Bildung durch Sprache und Schrift (BiSS) ins Leben gerufen. Dies ist ein Forschungs- und Entwicklungsprogramm, das die vielfältigen Maßnahmen der Bundesländer zur sprachlichen Bildung, Sprachdiagnostik, und Leseförderung in den Bildungsetappen des Elementarbereiches, der Primar- und der Sekundarstufe bündelt, evaluiert und weiterentwickelt. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung, das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, die ständige Konferenz der Kultusminister der Bundesländer sowie die Jugend- und Familienministerkonferenz haben die gemeinsame Durchführung in den Jahren 2013 bis 2017 vereinbart. Für den Elementarbereich steht die gezielte alltagsintegrierte sprachliche Bildung im Mittelpunkt, die auch vom Bundesprogramm „Schwerpunkt-Kitas Sprache & Integration“ konzeptionell unterstützt wird.
 

Quellen

Angelika Kubanek (2012): Sprachen sind ein Schatz – ein Lesebuch über Sprachförderung in Braunschweig. S. 75ff.

Cummins, James (1979): Linguistic interdependence and the educational development of bilingual children. In: Review of Educational Research 49/79. S. 222–251.

Ehlers, Swantje (2006): Zur Entwicklung von (Bi)Literalität bei zwei türkischen Migrantenkindern im Vorschulalter. In: Apeltauer, Prof. Dr. Ernst (Hrsg.): Sprachförderung und Literalität. Flensburg, Flensburger Papiere zur Mehrsprachigkeit und Kulturenvielfalt im Unterricht. S. 55.

Ahrenholz, Bernt (2007): Das Kieler Modell: sprachliche Frühförderung von Kindern mit Migrationshintergrund, In: Ahrenholz, Bernt (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache – Voraussetzungen und Konzepte für die Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Freiburg/Br., Fillibach.

Apeltauer, Ernst (Hrsg., 2006): Sprachliche Frühförderung von Kindern mit Migrationshintergrund. Flensburg, Flensburger Papiere zur Mehrsprachigkeit und Kulturenvielfalt im Unterricht.