Marie Schröer on "Enchanted Geography"
Sinfonie der Großstadt

 © Sarnath Banerjee

Immer mehr Comics erzählen, meist unter dem Label Graphic Novel, von ausgewählten Persönlichkeiten, Feuilleton-tauglichen Orten und wichtigen historischen Ereignissen. Böse Zungen munkeln, dass es sich bisweilen um ein einfaches Erfolgsrezept handelt – die gesellschaftspolitische Relevanz des Inhalts täuscht nicht selten über stilistische und dramaturgische Leere hinweg.

Nachvollziehbar ist dieser Trend: Zum einen garantieren Zeitgeist-kompatible Werke über politische Gallionsfiguren, zeitgeschichtliche Anekdoten, charismatische Künstler und exotische Orte die Aufmerksamkeit einer themenabonnierten, bildungsbürgerlich orientierten Leserschaft; zum anderen lässt sich mit dem vermeintlichen inhaltlichen Anspruch auch immer wieder gegen das vermeintliche Schmuddel-Image des Mediums Comics argumentieren.

Aller thematischen Tiefe zum Trotz bleiben die beliebten Werke oft beliebig, weil sie das stilistische Experiment und das Ungewöhnliche scheuen, um auf Nummer Sicher zu gehen. Vertreter dieser eher flachen didaktischen Comics explizit beim Namen zu nennen, wäre schlechter Stil. Widmen wir uns daher, nach diesem zugegebenermaßen gehässigen Einstieg, zur Abwechslung dem guten Stil. Die Rede ist von einem Berlin-Portrait, das die Stadt einer indischen Leserschaft näherbringt, aber den Konventionen der didaktischen Comics erfolgreich trotzt. 

Der Geografie wohnt ein Zauber inne

Auch Sarnath Banerjee berichtet in Enchanted Geography von einer gehypten Stadt und erwähnt dabei durchaus die geläufigen Klischees. Ja, zu Berlin gehören auch die Latte Macchiato-Mütter, das Gammeln im Park, diverse Hipster-Pilgerstätten, Minimal Techno und der berühmt-berüchtigte erste Mai mit Nazi-Demos in Marzahn und Revolutionsromantik in Kreuzberg.

Die siebzehn Kolumnen, die der Wahlberliner 2013 für The Hindu, eine der größten indischen Tageszeitungen, verfasst hat, dokumentieren diese Phänomene, belassen es aber nicht dabei. Generell kann die Aufzählung dessen, was die Kolumne nicht ist, helfen, ihren Charakter ein Stück weit zu erfassen. Zunächst: Sie ist kein Comic, sondern eine Bild-Text-Collage mit Comic- und Foto-Elementen. Sie ist keine reine Berlin-Dokumentation, keine journalistische Reportage, keine autobiografische Erzählung, keine pure Fiktion. Sie ist von allem ein bisschen, eine Berliner Mélange, das berühmte postmoderne Palimpsest – und genau das macht ihren Reiz aus.

Enchanted Geography: Schwer zu fassen, nicht eindeutig zuzuordnen, so wie auch Orte und ihre Atmosphäre sich der systematischen Katalogisierung entziehen. Der Titel der Kolumnen ist daher passend gewählt: Der Geografie wohnt ein Zauber inne, den Berliner Orten und Nicht-Orten eine besondere Magie. Urbane Plätze und Räume dienen in den Texten als Anlass, um Perspektiven auf andere Plätze und Räume zu öffnen, in einer anderen Zeit oder auf einem anderen Kontinent, und so einen Dialog zu eröffnen, zwischen Bild und Text, zwischen Berlin und Delhi, zwischen heute und gestern, zwischen deutschen und indischen Flaneuren und zwischen lyrischen Eskapaden und Berichten, Aphorismen und absurdem Humor, Autobiografie und Fiktion. Banjerjees Berlin inspiriert, ganz stream-of-consciousness, mentale und visuelle Reflektionen, auch zu den ganz großen Themen: Geld, Liebe, Heimat.

Berlins multiple Identitäten

In der zweiten Episode mit dem Titel Merry Wanderers of the Night (Mai 2013) sinniert Brighu, Banerjees Avatar, auf dem nächtlichen ehemaligen Flughafen Tempelhof über die Geschichtsträchtigkeit des Ortes (Stichwort: Luftbrücke) und die spazierenden Gestalten: „Brighu felt comforted. Despite the lateness of the hour there were still a few merry wanderers of the night out and about: Joggers, drug dealers, defenders of doctoral theses, UFO-logists, anti-Assad shopkeepers from nearby Neukölln, architectural theorists, pro-Assad shopkeepers, seekers of cosmetic dangers, Australians, travelers form southern Europe looking for electronic music and sex, indignant taxpayers worrying about the Euro crisis, the meek, the strong, the reckless, the anxious, all strolling in the darkness, digesting food, sipping beer.”

Vor dem verlassenen Flughafengebäude sehen wir die Rückenfigur seines grafischen Avatars in kontemplativer Pose. Mit ihm blicken wir auf einen wild gestikulierenden Radfahrer mit wehendem Cape: „Local legends say that he is a musician by profession and comes here every other evening to compose and to feel the night. He uses the place like an office, all 4 square kilometers of it.”

In Brighus Vorstellung ist er es, der die disparaten Gestalten aus obiger Aufzählung zu einer harmonischen Großstadt-Sinfonie vereint: „Members of a calm universe. But who holds it together in a single symphony? Is it the composer on the bike? The Bappi Lahiri of Tempelhof. Brighu wondered as he looked up at moon.”. Banerjee ähnelt dem komponierenden Radler. Er dokumentiert und sammelt die multiplen Identitäten Berlins und seiner Bewohner mit klaren, entschiedenen Strichen, warmen Farben und einem feinen Gespür für das Wort. Dabei demonstriert er, wie mit Intertextualität, mit viel Humor und mit ein klein wenig Melancholie fantastische Orte und ganz neue Universen erschaffen werden können. Bappi Lahiri, Walter Benjamin, Robert Walser, Angela Merkel und Janis Joplin: Sie alle begegnen uns in der Enchanted Geography. Und so skurril diese Begegnungen sind, umso besser fügen sie sich in Banerjees „calm universe“ und seine Sinfonie der Großstadt ein.

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