Marie Schröer über "Reiseskizzen aus Minsk"
Memorizing Minsk

Minsk © Reinhard Kleist

Dass Comic-Autor_innen immer schon Skizzenhefte bei sich trugen, unabhängig von ihren eigentlichen Genre-Zugehörigkeiten ist evident: Das Skizzenbuch ersetzt das Notiz- und Tagebuch in Prosaform. Es eignet sich, um am Stil zu feilen und um Erinnerungen zu archivieren.

Seit den achtziger, spätestens den neunziger Jahren kann man in der Comicszene einen klaren Trend zum Autobiografischen diagnostizieren. Ein Meilenstein ist natürlich Art Spiegelmans Maus (und das heißt nicht, dass es nicht deutlich frühere autobiografische Arbeiten gab, die aber lange nicht so stark rezipiert wurden). Comics aus Frankreich und den USA setzten nach Maus vermehrt persönliche Schicksale in Szene, oft mit sehr ernsten Themen. Der Comic bot neue Räume, um andere Bilder (und damit ein Stück weit Katharsis) für Krankheit, Krieg, familiäre Traumata und Neurosen zu finden.

Die Feststellung, dass das Medium Comic nicht nur Genre-Inhalte vermitteln, sondern auch neue Perspektiven auf das Innenleben eröffnen kann, führte zu einer Ausdifferenzierung autobiografischer Inhalte. Die ebenfalls per definitionem subjektiven Graphic Travelogues oder Reiseskizzenbücher- und Blogs von heute sind nicht zuletzt auf diese Pionier-Comics zurückzuführen.

Von der Ausdifferenzierung autobiografischer Comicformate

Mittlerweile weiß man, dass der Begriff Graphic Novel mit Vorsicht zu genießen ist und dass das Autobiografische nur bedingt ein Genre darstellt, sondern vielmehr die Herangehensweise an einen Text. Graphic Novel wird zwar immer noch gern als Oberbegriff genutzt, aber die Auswahl der Bezeichnungen für das persönliche Zeichnen ist größer geworden: In den Comicbereichen der Buchhandlungen finden wir neben den üblichen Genre-Comics Graphic Memoirs, Graphic Life Narratives, Graphic Journalism, Sachcomics, Tagebuch-Comics und Skizzenhefte (frz. Carnets) und eben, noch ein bisschen spezieller, Reise-Comics und Reiseskizzenhefte.

Erfahrungen verdichten, Eindrücke vermitteln

Dass Comic-Autor_innen immer schon Skizzenhefte bei sich trugen, unabhängig von ihren eigentlichen Genre-Zugehörigkeiten ist evident: Das Skizzenbuch ersetzt das Notiz- und Tagebuch in Prosaform. Es eignet sich, um am Stil zu feilen und um Erinnerungen zu archivieren. Aber erst der Erfolg der autobiografischen Comics alternativer Provenienz – von denen man heute die meisten als Graphic Memoirs bezeichnen würde – hat die Veröffentlichung der Skizzen zu einer gängigen und beliebten Nebentätigkeit gemacht. Autor_innen von Genre-Comics und Autor_innen autobiografischer Comics publizieren ihre Reise-Skizzenbücher und verraten mit der Wahl der Orte und in der Art der Darstellung ihre subjektive Perspektive auf Länder, Rituale, Menschen.

Auf die Frage, warum Reise- und Stadtskizzen so beliebt sind, lassen sich zahllose Antworten finden. Was diese Praxis für Zeichner_innen bietet, liegt auf der Hand. Zeichnen intensiviert das Reisen, denn es schärft die Wahrnehmung. Erinnerung räumlich gestalten: Dieser Programmpunkt stand unter der Überschrift „Gedächtnispaläste“ bereits in römischen und griechischen Rhetorikschulen auf dem Stundenplan. Kein Wunder also, dass auch immer mehr Laien (etwa unter dem Schlagwort „Urban Sketching“) zum Skizzenbuch greifen.

In der Zeichnung festgehalten bleiben Orte, Menschen und Stimmungen oft besser haften als in der Fotografie (zumindest als in der Fast Food-Variante der Smartphone-Fotografie). Für den Betrachter hat die resultierende intime Aura einen besonderen Reiz: Wenn wir Skizzen betrachten, haben wir das Gefühl den Autor_innen über die Schulter zu blicken, eine Art „Making of“ mitzuerleben, handgemacht und ungeglättet die Perspektive der Zeichnenden zu teilen. Reiseskizzen bringen uns mit den Autor_innen die Orte nahe. Orte möglicherweise, von denen wir so wenig wissen, wie der Säugling von der dritten binomischen Formel. Minsk etwa.

Skizze ist nicht gleich Skizze

Reinhard Kleist stellt seine Skizzen online aus. Damit geht die Aura des Handgemachten zwar ein Stück weit verloren; Papier, selbst bedrucktes, passt besser zu Skizzen als ein Monitor. Neben der Tatsache, dass man sie uns sonst vermutlich vorenthalten hätte (bislang gibt es keine Buch-Variante), hat das im Internet einsehbare Kompendium aber noch einen weiteren Vorteil. Wir können vergleichen: Skizzen aus Sri Lanka mit Skizzen aus Algerien, Skizzen aus Indien mit Skizzen aus Bali, Skizzen aus Jerusalem mit Skizzen aus Sizilien. Mehr als zwölf Länder sind vertreten. Wir konstatieren Stil-, Farb- und Stimmungsvielfalt.

Die Minsk-Studien haben mit den Algerienstudien zum Beispiel wenig gemein: Die satten und fröhlichen Farben der Algerienbilder springen sofort ins Auge; Kleists Minsk ist zurückhaltender. Ein Hauch von pastelligem Rosarot ziert die Trachten der jungen Frauen und eine pompöse Eingangshalle; die anderen Bilder sind reduziert auf den Kleist-typischen dicken schwarzen Strich auf weißem Grund. Skizze ist nicht gleich Skizze. Acht Bilder geben den Weißrussland-Unkundigen einen ersten Eindruck über die Stadt und ihre Bewohner: Junge Mädchen in folkloristischer Kleidung, ein strammstehender Militär mit ikonischer Fellmütze, Plattenbauten des sowjetischen Brutalismus und sozialistische Architektur, die sich den neuen Gegebenheiten angepasst hat. Besonders letztgenannter Aspekt findet sich in einer der Skizzen wunderbar verdichtet: Zu sehen ist die Fassade des Dom Modui (Haus der Mode), dekoriert mit einer imposanten kommunistischen Bronzeplastik namens „Solidarität“. Über dem Relief prangt der Schriftzug einer Bank. Ein Bild, das in Erinnerung bleibt. Dem Zeichner vermutlich genauso wie dem Betrachter. Skizzenbücher archivieren Stadtimpressionen und wecken Neugier auf Orte.

Top