Von den Eltern

Seit einigen Jahren wird in der deutschsprachigen Literatur ein Genre populärer, das etwa in Frankreich, englischsprachigen Ländern oder Skandinavien schon lange eine feste Größe ist: Autofiktion. Und dank der Verleihung des Literaturnobelpreises 2022 an Annie Ernaux hat die Autofiktion nun auch die höchste Auszeichnung erhalten.

Dieses literarische Genre hebt sich insofern vom klassischen Roman ab, da – so zumindest die Annahme – ein Großteil des Inhalts auf wahren Begebenheiten beruht. Anders als die Autobiografie, die (angeblich) nur die Wahrheit erzählt und die zumeist von Prominenten veröffentlicht wird, hat die Autofiktion aber auch fiktionale Elemente. Der große Vorteil von Autor*innen, die autofiktional schreiben, ist, dass sie unter diesem Deckmantel schonungsloser, als es in den meisten Autobiografien der Fall ist, die Wahrheit erzählen können. Denn das Label schützt sie: Erkennt sich jemand in ihren autofiktionalen Texten wieder, können sich sie auf die Fiktion berufen.

Wohl wenig überraschend ist, dass viele autofiktionale Werke eine Auseinandersetzung mit den Eltern, mit der eigenen Kindheit, den vielen Prägungen ist. Auch wenn sich diese Bücher zumeist um eine Person oder Familie drehen, erzählen sie uns trotzdem sehr viel mehr – nämlich über unsere Gesellschaft. Hier drei gelungene autofiktionale Romane der vergangenen Monate.
 

Anne Rabe – Die Möglichkeit von Glück (2023)

Buchcover © ©Klett-Cotta Die Möglichkeit von Glück ©Klett-Cotta
Zu den erfolgreichsten und aufsehenerregendsten Büchern dieses Jahres gehört ohne Zweifel das Debüt von Anne Rabe. In Die Möglichkeit von Glück seziert die 1986 in der ehemaligen DDR geborene Autorin ihre eigene Sozialisation sowie die ihrer Eltern und Großeltern und geht der Frage nach, welchen Einfluss autoritäre Systeme auf private Beziehungen haben. Die Eltern ihrer Protagonistin Stine sind beide staatshörig, überzeugt von der DDR und sie – vor allem die Mutter – behandeln ihre beiden Kinder mit unerbittlicher Härte. Doch tragen die Eltern die alleinige Schuld für ihre Erziehungsmethoden? Oder ist die Wirklichkeit nicht viel komplexer? Und wie verhält es sich mit den in der NS-Zeit sozialisierten Großeltern?

In persönlichen Anekdoten, mit dem Versuch, sich an Situationen und Gespräche zu erinnern, gespickt durch Nachforschungen und Dokumente versucht Rabe, ihre eigene Familiengeschichte zu ergründen und dadurch nicht nur die DDR, sondern auch die Gewaltbereitschaft im Osten nach der Wende zu verstehen. Die Möglichkeit von Glück rüttelt die Leser*innen auf, ist dabei sowohl schonungslos als auch erschreckend und überdies literarisch gelungen. Ein zu Recht so vielfach diskutiertes Buch.

Dieses Buch ist in der Bibliothek und in der Onleihe ausleihbar.

Fikri Anıl Altıntaş – Im Morgen wächst ein Birnbaum (2023)

Buchcover © © btb Im Morgen wächst ein Birnbaum © btb
Der feministische Diskurs ist endlich bei den Männern angekommen. Denn natürlich liegt es nicht nur an den Frauen, Sexismus und Misogynie aufzuzeigen, auch Männer müssen sich Gedanken ob ihrer eigenen Sozialisation und Stellung in der Gesellschaft machen. Zu ihnen gehört Fikri Anıl Altıntaş, geboren in der Nähe des hessischen Wetzlars und heute in Berlin lebend. Sein Debüt ist nicht nur eine Auseinandersetzung mit dem Leben als Person of Color in der Provinz, sondern auch mit dem Männlichkeitsbild, das ihm sein Vater vorlebte.

Mit seinen Reflexionen in seinem Roman Im Morgen wächst ein Birnbaum versucht Altıntaş, die tradierte Rolle zu durchbrechen und das in seinem Fall als türkisch-muslimisch sozialisierter Junge. Er geht aber über das Nachdenken hinsichtlich (toxischer) Männlichkeit hinaus und stellt sich zudem die Frage, was es für ihn als Sohn von Einwanderer*innen in Deutschland  ökonomischer und Bildungsaufstieg bedeutet – denn geht nicht damit auch automatisch eine Entfremdung von den Eltern einher? Poetisch, manchmal etwas blumig, aber wunderbar ruhig schreibt der Autor im Birnbaum über seinen eigenen Weg.

Dieses Buch ist in der Bibliothek ausleihbar.

Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter (2022)

Buchcover © © Kiepenheuer & Witsch Lügen über meine Mutter © Kiepenheuer & Witsch
Bereits im Titel von Daniela Dröschers Lügen über meine Mutter stecken die drei Protagonist*innen ihres Romans: Die Mutter, über die gesprochen wird, der Vater, der diese Lügen erzählt – und die Erzählerin selbst, die mehrere Jahrzehnte später die Geschichte ihrer Kindheit niederschreibt und  auf einer zweiten Ebene mit ihrer Mutter darüber spricht, was  in der Vergangenheit denn überhaupt geschehen ist.

Ich-Erzählerin Ela wächst in der westdeutschen Provinz der 1980er Jahre auf. Die Mutter, das findet zumindest der Vater, ist zu dick. Der Vater findet es peinlich und überträgt die Scham darüber auf Frau und Kind. Auch empfindet er Wut, unter anderem deshalb, weil er glaubt, eine zu dicke Ehefrau würde seine beruflichen Aufstiegschancen vereiteln. Dass seine Frau mehr verdienen könnte als er, ist für ihn ebenso undenkbar. Auch sonst ist sein Umgang mit Geld verantwortungslos und von Widersprüchen geprägt. Seiner Frau dagegen sind Dünkel oder Überheblichkeit komplett fremd. In Lügen über meine Mutter analysiert Dröscher nicht nur familiäre Verhältnisse, sondern auch gesellschaftliche Umstände, die ihren Teil dazu beitrugen, dass der Vater sich so verhielt wie er sich verhielt und die Mutter nicht auf die Idee kam oder den Willen besaß, ihn zu verlassen. Die Analyse ist hart, aber steckt dennoch voller Zuneigung und Nachsicht.

Dieses Buch ist in der Bibliothek und in der Onleihe (Buch und Hörbuch) ausleihbar.

[Dezember 2023]

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