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SpanienBarcelona

Alle Hunde sterben

Von Isabella Caldart

Cemile Sahin - Alle Hunde sterben, Cover © Aufbau Cemile Sahin – Alle Hunde sterben (Aufbau, 2020) 


Mit jedem Kapitelanfang erfahren wir aufs Neue: Sie möchten hier nicht bleiben. Sie, das sind die Bewohner*innen eines 17-stöckigen Hauses, das sich, wie wir im kurzen Epilog von Cemile Sahins Roman Alle Hunde sterben erfahren, im Westen der Türkei befindet. Andere örtliche oder zeitliche Marker gibt es nicht. Die Story, die Sahin erzählt, ist universell und kann als Allegorie auf militarisierte Gesellschaften weltweit verstanden werden kann.

Quasi wie im Aufzug hoch und runter führt die Autorin durch die Stockwerke und schildert in neun Episoden die Geschichten der Bewohner*innen. Sie alle befinden sich in einem Wartezustand, denn sie wissen: Fliehen können sie nicht. Irgendwann aber werden die Soldaten, die Polizisten, sprich: die Täter kommen, namenlose Repräsentanten des Staats, und wenn es soweit ist, möchte man vorbereitet sein. Ihre Zeit füllen sie mit Erinnerungen an ihre schmerzhafte Vergangenheit, die sie in dieses Hochhaus führte. Und so unterschiedlich ihre persönlichen Schicksale sind, so sehr gleichen sie sich in der kollektiven Erfahrung an Schmerz, Folter, Verlust, Wut, Trauer und, teilweise, dem Bedürfnis nach Rache.

Cemile Sahin beweist mit ihrem zweiten Roman Alle Hunde sterben, dass deutschsprachige Romane nicht mehr so behäbig sind wie der Ruf, der ihnen anhaftet. Im Gegenteil: Gerade die Generation der in den achtziger und neunziger Jahren geborenen Autor*innen zeigt, dass sie stilistisch und inhaltlich bereit ist für Wagnisse und dafür, auf Deutsch verfasste Literatur von ihrem staubigen Image zu befreien.

Cemile Sahin – Alle Hunde sterben (Aufbau, 2020) in der Bibliothek/ in der Onleihe
 

Olivia Wenzel – 1000 Serpentinen Angst, Cover © S.Fischer Verlag Olivia Wenzel – 1000 Serpentinen Angst (S. Fischer, 2020) 

Isst die Protagonistin in 1000 Serpentinen Angst eine Banane, weiß sie, dass sie dadurch gleich dreifacher negativer Konnotation ausgesetzt ist: der Diskriminierung als Schwarze Person, der sexistischen Assoziation als Frau und dem ewigen Bananenwitz, den Ostdeutsche ertragen müssen. Diese Gedanken, recht früh im Buch geschildert, setzen die Themen für Olivia Wenzels Debüt. Ihre Protagonistin, die große biografische Überschneidungen mit der Autorin hat, kommt aus Thüringen, lebt in Berlin, reist in die USA, nach Vietnam, und reflektiert in den jeweiligen Kontexten den Blick auf ihren Körper; vor allem die Frage, wie sie als Schwarze wahrgenommen wird.
 
Was 1000 Serpentinen Angst so lesenswert macht, ist die Kombination aus gesellschaftlich relevanten Motiven mit einer außergewöhnlichen Erzählweise. In der Literatur wurde das Leben Schwarzer Menschen in der DDR und Ostdeutschland bisher wenig behandelt, ein Thema, das unbedingt stärker beleuchtet werden muss und womit Olivia Wenzel einen Anfang macht. Außerdem diskutiert ihr Roman die Beziehung der Protagonistin zu ihrer, gelinde gesagt, schwierigen Mutter und dem abwesenden Vater, den Suizid des Bruders, ihre Bisexualität und den Versuch, mit ihren Panikattacken umzugehen.
 
Strukturell folgt 1000 Serpentinen Angst zwar unbedingt einer dem Roman inhärenten Logik, aber auch hier wird es außergewöhnlich: Ihre Protagonistin steht oft in einem Zwiegespräch mit einer Stimme, die sowohl als sie selbst als auch als aushorchend-insistierendes Art Über-Ich gelten kann, Dialoge, die einen Theaterstück ähnlich geschildert sind. Dazu gibt es assoziative Fragmente im Stream of Consciousness sowie klassische Romanstellen. 1000 Serpentinen Angst ist ein nicht linear erzählter und doch mühelos lesbarer Roman, der zu Recht zu den im deutschen Sprachraum erfolgreichsten und beliebtesten Büchern des Jahres gehört.
 
Olivia Wenzel – 1000 Serpentinen Angst (S. Fischer, 2020)  in der Onleihe
 

Judith Schalansky – Verzeichnis einiger Verluste, Cover © Suhrkamp Verlag Judith Schalansky – Verzeichnis einiger Verluste (Suhrkamp, 2018)

Die Geschichte der Menschheit ist nicht nur geprägt von Erfindungen und Entdeckungen, sondern auch von Verlusten. Ob vergessene Sprachen, verschluckte Inseln, verbrannte Gemälde – vieles, was entstand, ist wieder verschwunden. „Vielfältig sind die Strategien, Vergangenes festzuhalten und dem Vergessen Einhalt zu gebieten“, weiß Schriftstellerin und Herausgeberin Judith Schalansky. Ihre Strategie: das Verzeichnis einiger Verluste, zwölf Verlustgeschichten.

Diese Geschichten sind keine Nacherzählungen von Verlorengegangenem. Die Verluste beschreibt sie knapp steckbriefartig, um inspiriert davon dann kleine Erzählungen zu kreieren, für die sie jeweils einen eigenen Ton findet. Schalansky geht etwa aus von dem ausgestorbenen Kaspischen Tiger, einem verschollenen Film von F. W. Murnau oder dem Palast der Republik, ein gleich mehrfacher Verlust als Berliner Stadtschloss, das 1950 vom SED-Regime gesprengt, als Parteigebäude neu aufgebaut, in den neunziger Jahren erneut rückgebaut und jetzt, nach alten Plänen, wieder als Palast der Republik rekonstruiert wurde.

Judith Schalansky kombiniert Geschichte mit eigenen Erinnerungen und Fiktion: Ihre Storys sind mal essayartig, mal im Stil des Nature Writing, mal wie ein Tagebuch, aus der Perspektive der Schriftstellerin selbst erzählt ebenso wie aus der von Entdecker James Cook oder der eines Raubtiers, das im Alten Rom in der Manege gegen ein anderes kämpfen muss. Und obgleich die Autorin von Verlusten schreibt, sind diese weder sentimental noch kitschig geschildert, lediglich eine Spur Melancholie schwingt mit. Denn wie Schalansky im Vorwort sagt: „Am Leben zu sein bedeutet, Verluste zu erfahren.“ Und somit ist ihr Verzeichnis einiger Verluste kein Buch über das Verlieren, Vergehen und Sterben, sondern voller Leben.

Judith Schalansky – Verzeichnis einiger Verluste in der Onleihe
Inventari de coses perdudes (Més Llibres, 2020, traducció de l'alemany Maria Bosom): a la biblioteca

 

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