Sirje Niitepõld
Ich, wir und die Stadt – Remote Helsinki

Kiikarointia
Foto: Anu Pynnönen

Wie wäre es, sich einem völlig unbekannten und genau genommen leblosen Reiseleiter hinzugeben, der einen auf den Straßen der Stadt steuert? Nach dem Konzept Remote-X von Rimini Protokoll, einer postdramatischen Theatergruppe mit Sitz in Berlin, sind schon in zahlreichen Städten der Welt bewusstseinserweiternde Audiowalks realisiert worden: Es gab Remote Berlin, Remote New York, Remote Tallinn, Abu Dhabi, Milano… und nun Remote Helsinki.

Nach Helsinki gebracht hat das Remote-Konzept der Produzent Alexander Weinstein. Er hatte die Tour in seiner ehemaligen Heimat Russland mitgemacht und wollte seine eigenen Vorstellungen – und die der anderen – über seine jetzige Heimatstadt Helsinki erweitern. Er findet, dass Helsinki eine magische Stadt ist - hervorragend geeignet als Szene für ein Werk, bei dem man alltägliche Dinge auf eine neue Weise betrachtet.

Ein neuer Blick auf die Stadt

Remote Helsinki wurde verschiedentlich beschrieben: ein mit künstlicher Intelligenz geführter Stadtrundgang, immersives zeitgenössisches Theater, ein Computerspiel, das in der realen Welt spielt... Das Konzept ist tatsächlich so flexibel, dass es für anspruchsvolle Kulturliebhaber genauso passt wie für Abenteurer oder aber Touristen, die gerade angekommen sind. Es gibt einem die Möglichkeit, sich auf etwas einzulassen, aber auch eins mit der Menge zu werden und in den Trubel der Stadt einzutauchen. Teilnehmen kann man in einer Gruppe oder auch allein.
 
Beim Treffpunkt am „Künstlerhügel“ des Hietaniemi-Friedhofs bekommt jeder Teilnehmer zunächst Kopfhörer auf die Ohren. Eine Frau, deren Stimme ein ganz klein wenig komisch klingt, beginnt zu sprechen – maschinenartig, manchmal brockenhaft. Es ist tatsächlich eine künstliche Stimme, und trotz ihrer Leblosigkeit scheint sie sehr viel über dich zu wissen, über deine Stadt, über uns Menschen im Allgemeinen. Die Stimme setzt die Gruppe in Bewegung, führt uns durch die Stadt und bringt uns dazu Sachen zu tun, die wir niemals vermutet hatten zu tun.
 
Die Remote-Touren in verschiedenen Städten haben gemeinsame Elemente – oft beginnen sie auf einem Friedhof, und die Route geht in der Regel durch Kirchen und Einkaufszentren. Die Orte erwecken in uns die gleichen Gedanken – so auch die Stimme, die uns inzwischen vertraut, wie die einer Freundin, vorkommt: man reflektiert über den städtischen Raum, die Sterblichkeit des Menschen, das Vertrauen, über sich selbst und andere.
 
Ein großes Thema, worauf einen bereits die Form des Werks die Aufmerksamkeit lenken lässt, ist einerseits die Gehorsamkeit einer Autorität gegenüber, der Gruppenzwang – und andererseits die Geborgenheit durch die Gruppe und die allmähliche Entstehung eines Gemeinschaftsgefühls. Anhand der Rückmeldungen waren in Helsinki viele angenehm davon überrascht, wie einfach es war, auch ohne einen „schützenden“ Freund an der Tour teilzunehmen. Vielleicht sind die Finnen die ewige Zurückhaltung doch langsam satt?
  • Ruotsalaisen teatterin luona Kuva: Anu Pynnönen

  • Hautausmaalla Kuva: Anu Pynnönen

  • Juostaan kilpaa Kuva: Anu Pynnönen

  • Käsi ylös Kuva: Anu Pynnönen

  • Puistossa Kuva: Anu Pynnönen

  • Peiliin katsominen Kuva: Anu Pynnönen

  • Maailman katolla Kuva: Anu Pynnönen

 

Gruppenspaziergang — Ergebnis einer Teamarbeit

Remote-X ist das Werk des Schweizers Stefan Kaegi. Inzwischen hat Kaegi das Konzept weitgehend den Händen anderer überlassen. Die Helsinkier Tour wurde vor allem von Jörg Karrenbauer und seinem Team realisiert. Nach den ersten Forschungsreisen verbrachten sie einige Wochen in Helsinki, um das Manuskript zu schreiben und die Tonlandschaft zu schaffen: Hundebellen im richtigen Moment, Jubeln einer Menschenschar an anderer Stelle – und zwar so, dass der Teilnehmer nie wirklich weiß, ob er die Welt um sich hört oder nur das Tonband. Und wie ist es möglich, dass die künstliche Intelligenz weiß, wann an der Mannerheimintie die Ampel wieder grün wird und ob im „Studentenrohr“ gerade ein Straßenmusiker spielt?
 
Die Technik und seine Geheimnisse werden hier natürlich nicht verraten – kein Zauberer will seine Tricks offenbaren. Gesagt werden kann jedoch, dass jede Remote-Tour von vier Mitarbeitern begleitet wird, derer sich die Teilnehmer nicht unbedingt bewusst werden. Diese vier haben wohl auf jeden Fall etwas mit der Tatsache zu tun, dass die künstliche Intelligenz alles zu wissen scheint.
 
Ohne Mithilfe der vielen Partner wäre ein so großes und für Finnland neuartiges Projekt wie Remote Helsinki nicht möglich gewesen. Die Tour war im vergangenen Jahr, 2016, ein Teil des Programms des Stage-Festivals von Korjaamo und wurde vom Goethe-Institut Finnland unterstützt. Kooperationen gab es zudem unter anderem mit dem Einkaufszentrum Kamppi und den Helsinkier Kirchengemeinden. Mit ihrer Hilfe hatte Remote Zugang zu vielen Orten, an welche die Allgemeinheit sonst nicht kommt.
 
Rimini Protokoll ist einer der größten Namen im Bereich des zeitgenössischen Theaters. Die Werke der Kerngruppe mit drei Personen haben regelrecht die Grenzen des vielleicht veralteten Theaters gestreckt und nach neuen Wegen gesucht, gegenwärtige Realität zu sehen und darzustellen. Auch Remote Helsinki stellt fast alle traditionellen Auffassungen des Theaters in Frage: die Bühne, das Publikum, die Darsteller, die Geschichte.

Eine preisgekrönte und lohnende Touristenattraktion

Remote Helsinki hatte seine Premiere am 12. Juni 2016 in Helsinki. Die letzten Touren der Saison wurden im Oktober desselben Jahres durchgeführt. Mehrere tausend Menschen haben teilgenommen. Diese neue Art von Stadtrundgang hat begeistertes Feedback in den Medien, Kulturblogs und den sozialen Medien hinterlassen.

Jetzt kommt Remote Helsinki wieder. Weinstein berichtet, dass die neue Route etwas vom letzten Jahr abweicht. Die Änderungen sind vor allem praktischen und dramaturgischen Charakters und werden natürlich hier nicht verraten! Selbst diejenigen, die die Tour im vergangenen Jahr gemacht haben, können auch jetzt wieder teilnehmen. Vielleicht kann man in der Stadt – oder in sich selbst – wieder etwas Neues finden.
 
Visit Finland hat Remote Helsinki zu einem der Topereignisse des Kulturtourismus in Finnland 2016 gewählt. Zum Wettbewerb waren alle Veranstalter von Kulturreisen eingeladen, die attraktives Programm für internationale Gäste bieten können. Was die Angebote im Bereich des finnischen Kulturtourismus angeht, steht das Interesse an Remote Helsinki an der Spitze. Die Auszeichnung ging an zwanzig Projekte, die mit dem finnischen Lebensstil verbunden sind — mit Design, Esskultur und verschiedenen Formen von Kunst und Veranstaltungen.
 
Es ist zu erwarten, dass die tolle Anerkennung sowie der Erfolg des letzten Jahres auch in der neuen Saison die Leute in Gang bringen. Weinstein möchte die Touren jetzt besonders Gruppen empfehlen – z.B. für Firmen als Programm für einen Erholungstag, der mit Sicherheit sowohl den Körper, den Geist als auch das Gehirn auffrischt.

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