Open Educational Resources
Kollaborative Wissenschaft

Soziale Produktion von Wissen
Soziale Produktion von Wissen | Foto (Ausschnitt): © diego cervo, fotolia.com

Frei verfügbare Lehrmaterialien gelten als wichtiger bildungspolitischer Trend. Wissenschaftliche Bibliotheken könnten hierbei eine Schlüsselrolle spielen. Ein Gespräch mit Jan Neumann, Leiter Recht und Organisation des Hochschulbibliothekszentrums des Landes Nordrhein-Westfalens in Köln.

Herr Neumann, was versteht man genau unter Open Educational Resources, wie man frei verfügbare Lehrmaterialien in der Fachszene nennt?

OER ist ein Sammelbegriff für Lern- und Lehrmittel. Der Begriff umfasst sowohl klassische Medien wie Bücher oder Arbeitsblätter, als auch Formate wie Videos, Blogs, Spiele und Simulationen. Hauptmerkmal ist eine offene Lizenzierung, die es den Nutzern erlaubt, die Materialien zu speichern, zu verwenden, zu verändern und weiterzugeben. Unter den Begriff können, soweit sie offen lizenziert sind, auch sogenannte MOOCs fallen, Online-Kurse, die von einer großen Zahl von Teilnehmern kostenlos belegt werden können. Im Hochschulbereich spielt weiterhin OpenCourseWare (OCW) eine Rolle. Das sind offen lizenzierte Kursmaterialien, die im Gegensatz zu MOOCs kein vollständiger Kurs sind, sondern primär begleitend zu einem Kurs eingesetzt werden.

Kollaborative Wissenschaft

Welche Rolle spielt die soziale Produktion von Wissen im Zusammenhang mit OER?

Ich denke, dass man diesbezüglich von einem Paradigmenwechsel sprechen kann. Bisher war das wissenschaftliche Publizieren ein Privileg von Experten, legitimiert durch akademische Grade. Nun gibt es immer mehr Stimmen, die dieses System grundsätzlich in Frage stellen. Der britische Mathematiker Timothy Gowers beschreibt das so: Auf kollaborative Art und Weise Wissenschaft zu betreiben sei in etwa so, als ob man plötzlich am Steuer eines Autos sitze, das man vorher nur geschoben hat. Voraussetzung für den Paradigmenwechsel ist ein Wertewandel, hin zu Kulturtechniken, die Teilen und Kooperieren stärker betonen, als dies bisher der Fall war.

Welche Bedeutung haben Bibliotheken als klassische Orte der Wissensvermittlung in diesem Wertewandel?

Eine sehr große. Die vielleicht wichtigste Aufgabe von wissenschaftlichen Bibliotheken könnte darin bestehen, dass sie die an ihrer Institution hergestellten OER mit hochqualitativen Metadaten auszeichnen und damit eine wichtige Voraussetzung dafür schaffen, dass die Materialien später auch gefunden werden können. Aktuell liegen die in verschiedenen Projekten hergestellten Materialien leider noch oft verstreut und schlecht ausgezeichnet auf verschiedenen Servern. Infolge dessen kann man die Materialien nicht einfach finden, wodurch dann auch die Nachnutzbarkeit eingeschränkt ist – vielleicht eines der größten Hindernisse für eine verstärkte Rezeption von OER. Außerdem besitzen Bibliothekarinnen und Bibliothekare viele Kompetenzen, die sie sinnvoll in die Herstellung und Verwaltung von OER einbringen können, etwa in den Bereichen der zum Management der Ressourcen erforderlichen technischen Infrastruktur. Daneben können OER auch zur Förderung von Informationskompetenz verwendet werden. Eine bibliothekarische Aufgabe, die in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen hat.

Bibliotheken als Wissensproduzenten

In einer Publikation vertreten Sie die Meinung, dass mit OER ein grundsätzlicher Rollenwechsel der Bibliotheken verbunden ist, und sprechen von einem Wandel des Bereitstellers hin zum Produzenten von Wissen. Könnten Sie dies genauer erläutern?

Man muss sich einmal die Funktionsweise des Systems Universität vergegenwärtigen. Eine Hochschule erhält als Input neue Studierende und externes Wissen und verwandelt diesen im Zuge des universitären Mehrwertschöpfungsprozesses in einen Output, der aus ausgebildeten Studenten und neuem Wissen besteht. Die Rolle der Bibliothek lag traditionell auf der Input-Seite: bei der Beschaffung und Bereitstellung des Wissens. Mit Open Access hat sich das bereits grundlegend geändert, da hier der Schwerpunkt der bibliothekarischen Tätigkeit eher auf der Output-Seite, nämlich bei der Veröffentlichung von neuen Materialien liegt. Meine These ist, dass sich mit OER die Rolle der Bibliothek insofern verändern wird, dass Bibliotheken durch die aktive Beteiligung an der Herstellung von Wissen noch näher an den Kern des universitären Mehrwertschöpfungsprozesses rücken, als dies bisher der Fall war.

Angenommen, das ist tatsächlich die Zukunft der wissenschaftlichen Bibliotheken – an welchem Punkt der Entwicklung stehen wir momentan?

Noch ganz am Anfang. In Deutschland sind wir erst seit 2012 richtig in die Diskussion um die Nutzung von OER eingestiegen. Inzwischen gibt es zwar auch in Deutschland eine ganze Reihe von Projekten und Angeboten. So wird zum Beispiel an der Technischen Universität Darmstadt die OER-Plattform OpenLearnWare betrieben. Und in Hamburg soll der Aufbau der Hamburg Open Online University mit 3,5 Millionen Euro gefördert werden. Speziell bibliothekarische OER-Projekte bilden jedoch in Deutschland noch die Ausnahme. In den USA ist man da schon weiter, hier bilden die Bibliothekarinnen und Bibliothekare inzwischen eine der stärksten Stakeholdergruppen im Bereich OER.

Wie sind die bildungspolitischen Rahmenbedingungen? Nimmt die Politik OER ernst?

Im Augenblick herrscht eine positive Stimmung. Anfang des Jahres 2015 hat eine Arbeitsgemeinschaft im Auftrag der Kultusministerkonferenz und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung eine erste Bund-Länder-Stellungnahme vorgelegt, die sich für eine verstärkte Aktivität im Bereich OER ausspricht. Zudem hat der Bund 2014 überraschend zwei Millionen Euro für OER bereitgestellt, mit denen unter anderem aktuell zwei Machbarkeitsstudien finanziert werden. Schließlich hat jüngst die OECD einen neuen Bericht vorgelegt, der insbesondere das Innovationspotential von OER nochmals besonders hervorhebt. Das Thema ist also definitiv in der bildungspolitischen Diskussion angekommen. Im Übrigen bin ich überzeugt, dass auch die aktuelle Flüchtlingskrise den Ausbau offener und damit kostenfreier Bildungsangebote vorantreiben wird. Wünschenswert wäre es allerdings, dass wir es nicht beim Analysieren und Diskutieren belassen und möglichst schnell in die Umsetzung einsteigen.
 

Jan L. Neumann ist Leiter Recht und Organisation im Hochschulbibliothekszentrum des Landes Nordrhein-Westfalen (hbz) und Mitglied des Fachausschusses Bildung der deutschen UNESCO-Kommission.