Figurentheater als interdisziplinäre Theaterform
Die widerständige Kunst

„Puppen sterben besser“ von Florian Feisel;
„Puppen sterben besser“ von Florian Feisel; | Foto: Oliver Röckle

Sieht man sich die Spielpläne internationaler Figurentheaterfestivals an, so wird man feststellen, dass die Grenzen des Genres – wie die der meisten Theatersparten – zunehmend fließend werden. Künstlerinnen und Künstler wie Gisèle Vienne, Miet Warlop oder Aurelien Bory, Künstlerkollektive wie AKHE, The Needcompany oder BERLIN findet man auf den wichtigen Performance- und Theaterfestivals ebenso wie auf den großen Figurentheaterfestivals.

Die Öffnung des Genres in die Interdisziplinarität ist auffällig und doch alles andere als eine neuartige Entwicklung. Sie liegt vielmehr in der Spezifik einer Theaterform begründet, die am Schnittpunkt der Künste operiert und dabei stets eine gewisse Widerständigkeit gegen Spartengrenzen und formale Zuschreibungen bewahrt.

Zwischenräume und Sollbruchstellen

Ivana Müller „While we were holding it together“; Ivana Müller „While we were holding it together“; | Foto: Karijn Kakebeeke Als vor einigen Jahren Ivana Müllers Performance While we were holding it together auf gleich drei internationalen Figurentheaterfestivals eingeladen war, sorgte das beim Fachpublikum für einige Irritation. Denn wie ließ sich in einem genrespezifischen Kontext eine Inszenierung begründen, in der es nicht eine einzige Theaterpuppe, kein Objekt und nicht einmal Material auf der Bühne gab, dafür fünf Akteure, die 70 Minuten lang nahezu unbeweglich in einem leeren Raum agierten? Die Antwort der Festivalmacher wäre vermutlich ebenso schlicht wie überraschend gewesen: Dieser Theaterabend machte zentrale Prinzipien des Figurentheaters auf verblüffend konkrete Weise erfahrbar.

Konsequent wurde nicht nur der Raum zwischen den Akteuren, sondern auch der zwischen Spielern und Publikum inszeniert, ein Raum, in dem sich beide treffen, um gemeinsam schöpferisch zu werden: ein Imaginationsraum oder „Möglichkeitsraum“. Dieser Zwischenraum ist für das Figurentheater konstitutiv, denn genau hier findet der Dialog zwischen Subjekt und Objekt, die „Belebung“ scheinbar unbelebter Dinge, das Wechselspiel von Mensch und Material statt.

meinhardt krauss feigl „r.o.o.m“; meinhardt krauss feigl „r.o.o.m“; | Foto: Michael Krauss Das Stuttgarter Trio meinhardt krauss feigl gehört zu den Pionieren des „digitalen Figurentheaters“, das die Künstler selbst „cinematographic theatre“ nennen. In virtuellen Bildwelten begegnet die Spielerin vergrößerten und verfremdeten Details ihres eigenen Körpers wie im Stück Intimitäten, sieht sich in r.o.o.m von einem wesenhaften Raum beherrscht oder sucht sich in dem Stück Und plötzlich stand die Sonne still in einem virtuell erzeugten Kosmos physisch zu verorten. Die Freiheit oder Unfreiheit des Individuums liegt im Raum dazwischen, an der Schnittstelle von physischem und imaginärem Körper.

meinhardt krauss feigl „Und plötzlich stand die Sonne still“; meinhardt krauss feigl „Und plötzlich stand die Sonne still“; | Foto: Dirk Wilhelmy Die Dialektik der Mensch-Objekt-Beziehung eröffnet nicht nur Grenz- und Freiräume, sie führt auch zu Reibungen und Brüchen: „Es geht um einen strukturellen Widerspruch. Das Ding in seiner konkreten Bedingtheit wird sich als Medium immer in einer Reibung zum intendierten Einsatz verhalten. Es wird nie ganz passen.“ So beschreibt Markus Joss, Leiter des Studiengangs Zeitgenössische Puppenspielkunst an der Berliner Ernst-Busch-Hochschule eines der Grundprinzipien der Theaterarbeit mit Figuren und Objekten. Und er benennt damit eine der wichtigen „Sollbruchstellen“, aus der sich ein spezifischer Moment der Performativität ableiten lässt.

In der Lecture-Performance Puppen sterben besser bedient der Figurenspieler Florian Feisel genau diese Widerständigkeit des Materials, um Grundprinzipien des Figurentheaters deutlich zu machen. Eine ganz gewöhnliche Plastiktüte wird zum Mitspieler erhoben, indem der Spieler ihr einen – luftgefüllten – Körper verleiht und das Publikum bittet, für das so entstandene Wesen einen Namen zu finden. In der folgenden spielerischen Untersuchung verhält sich das Objekt durchaus „eigenwillig“, folgt seinen eigenen, durch den Manipulator nur bedingt zu beeinflussenden Bewegungsimpulsen. Als der Spieler die Plastiktüte schließlich vor den Augen der Zuschauer erschießt, ist es wiederum das Objekt, das qua seiner materiellen Eigenart Dauer und Ort seines Todes bestimmt und so bis zum Ende seinen Status als gleichwertiger Akteur behauptet.

Entgrenzungen und Überschreitungen

Im zeitgenössischen Puppen- und Figurentheater, in dem die Puppe meist offen, das heißt für den Zuschauer sichtbar, gespielt wird, ergibt sich aus dem Zusammenspiel von menschlichem und künstlichen Körper ein interessantes Wechselspiel von Identifikation und Differenzerfahrung. Die Figur ist mit dem Spieler verbunden und erscheint damit als etwas zu ihm Gehöriges; zugleich markiert ihre offensichtliche materielle „Andersartigkeit“ eine Sphäre des Fremden und Unbekannten.
Figurentheater Wilde & Vogel und Grupa Coincidentia (Deutschland / Polen): „Faza REM Phase“ (Youtube)

Diese „unheimliche Existenz“ offenbart die Theaterpuppe beispielsweise in der deutsch-polnischen Koproduktion Faza REM Phase vom Figurentheater Wilde & Vogel und der Grupa Coincidentia. Hier sind es Nachtmahre und Traumgebilde, die sich den Spielern als Partner beigesellen, sich ihrer immer wieder zu bemächtigen scheinen. Das „Andere“ der unter- und unbewussten Persönlichkeitsanteile gewinnt physische Gestalt, bleibt – im ganz wörtlichen Sinne – am Körper der Akteure „kleben“. Mal ist es eine Wolfsmaske, die ihren Spieler jagt, mal sind es Latexfratzen, die sich über die Gesichter der Darsteller stülpen und ein Knäuel aus Spielerkörpern in ein alptraumhaftes Pandämonium verwandeln.

Die strukturelle Widerständigkeit des Figurentheaters generiert Anders- und Gegenwelten, die in soziale und politische Prozesse weiterzuwirken vermögen. Das ist seine große Chance. Den poetischen „Zwischenraum“ als einen Ort gesellschaftlicher Relevanz zu etablieren, bleibt seine große Zukunftsaufgabe.