Hörspielkunst in Deutschland
Stimm-Welten

Deutschland ist bekannt für seine Hörspielkunst.
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Nirgendwo auf der Welt werden so viele hochwertige Radiohörspiele produziert wie in Deutschland. Das liegt zum einen an der Liebe der Deutschen zum Radio, zum anderen am einzigartigen Modell eines öffentlich-rechtlichen Rundfunks.

Das Hörspiel ist beinahe so alt wie das Radio. Der Rundfunk hat sich in Deutschland in den frühen 1920er-Jahren etabliert mit einer schnell wachsenden Zahl von Sendern, die täglich ein mehrstündiges Programm ausgestrahlt haben. Dafür wurden verschiedene Typen von Sendungen entwickelt – darunter sehr bald auch eine Kunstgattung, die anfangs oft Funkspiel genannt wurde: fiktionale Geschichten, erzählt in Dialogen und belebt mit Geräuschen.

Das Hörspiel ist ohne das Radio nicht denkbar – auch heute noch. Zwar ist es inzwischen relativ einfach möglich, ein Hörspiel außerhalb einer Rundfunkanstalt zu realisieren. Durch die Digitalisierung ist die notwendige Technik allgemein zugänglich geworden. Dennoch ist der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland aufgrund seiner Möglichkeiten nach wie vor der maßgebliche Produzent von Hörspielen: Er verfügt über hochwertige Studios, erfahrene Hörspieldramaturgen, spezialisierte Tontechniker, große Reichweiten beim Publikum und beträchtliche Etats. Wer als Autor oder Regisseur mit Hörspielen Geld verdienen möchte, ist darauf angewiesen, dass das Radio seine Stoffe produziert oder zumindest sendet.

Größte Hörspielszene der Welt

Deutschland hat die größte und vielfältigste Hörspielszene der Welt. Ungefähr 300 Hörspiele werden jedes Jahr produziert. Beinahe jeden Tag wird in einem deutschen Radiosender eine Hörspiel-Premiere ausgestrahlt, eine sogenannte Ursendung. Dafür gibt es zwei Gründe. Der erste: Sofort haben die Verantwortlichen in den Sendern sowie herausragende Autoren und Künstler der ersten Stunde wie Bert Brecht oder der Filmemacher Walter Ruttmann erkannt, welche Chancen das neue Medium Radio auf diesem Feld bietet. Von Anbeginn sind herausragende Hörspiele entstanden, was zu einer schnellen Anerkennung als ernstzunehmende Kunstgattung geführt hat. In SOS … rao rao … Foyn – ,Krassin‘ rettet ,Italia‘ (1929) von Friedrich Wolf etwa wird das Radio selbst Teil der Geschichte, weil über die Funkwellen der Sender die Rettung eines in der Arktis verschollenen Luftschiffs koordiniert werden kann. Weekend (1930) von Walter Ruttmann ist eine Soundcollage über den Berliner Wochenend-Alltag, die ohne eine verbale Erzählung auskommt.

Das NS-Regime und der Zweite Weltkrieg brachten eine Zäsur, die nach 1945 einen Neustart erforderte. Doch Autoren wie Alfred Andersch, Günter Eich und Wolfgang Hildesheimer hoben das deutsche Hörspiel bald wieder auf das Vorkriegsniveau. Auf diesem Fundament hat sich eine vitale Kunstform immer weiter entwickelt.

Der zweite Grund für die vielen Hörspielproduktionen liegt am deutschen Föderalismus. Die öffentlich-rechtliche ARD besteht aus neun Landesrundfunkanstalten. Jeder dieser neun Sender hat eine eigene Hörspielredaktion. Hinzu kommt das bundesweite Deutschlandradio mit zwei Hörspielredaktionen.

Beachtliches Publikum

Diese Vielfalt erfordert klare Profile der einzelnen Redaktionen, sonst ließe sich diese teure Struktur kaum rechtfertigen. Der Norddeutsche Rundfunk hat sich auf literarische Hörspiele spezialisiert. Der Saarländische Rundfunk ist aufgrund seiner geographischen Lage zu einem Experten für französische Autoren und Stoffe geworden, immer wieder produziert er zweisprachige Hörspiele. Der Südwestdeutsche Rundfunk und auch Deutschlandradio Kultur sind bekannt für ihre Klangkunst-Stücke – Hörspiele, in denen die verbale Ebene eine untergeordnete oder gar keine Rolle spielt. Der Bayerische Rundfunk inszeniert häufig Mehrteiler mit offener Form, bei denen zum Beispiel die Reihenfolge der einzelnen Folgen nicht festgelegt ist, und die Hörerinnen und Hörer selbst über die Abfolge entscheiden.

Für die Ausstrahlung im UKW-Programm muss sich die Redaktion zwar auf eine Reihenfolge festlegen, im Download-Portal aber ist die Zusammenstellung dem Nutzer überlassen. Der digitale Hörspielpool des Bayerischen Rundfunks verzeichnet mehr als eine Million Downloads im Jahr. Auch andere Sender bieten ihre Hörspiele auf den Websites langfristig als Podcasts zum Nachhören an. Eine Ausstrahlung im Radio hat in der Regel Zehntausende Hörer, bei Krimis sind es mitunter deutlich mehr als hunderttausend. Verglichen mit der Zahl von Theater- oder Kinobesuchern oder den Verkaufszahlen von Büchern, ist das ein beachtlicher Publikumszuspruch.

In Wechselwirkung mit der Gesellschaft

Formal und inhaltlich haben sich etliche Subgenres herausgebildet: Krimis, Kinderhörspiele, Science-Fiction, Kammerspiele, Liebesgeschichten, Komödien, Gesellschafts- sowie Politdramen und vieles mehr. Es wird dokumentarisch erzählt, klassisch narrativ oder postdramatisch; es gibt musikalische Stücke, Soundart und Originalton-Hörspiele. Die Stereotechnik hat zu neuartigen Raumklängen geführt, auch mit komplexeren Systemen wird immer wieder experimentiert, zum Beispiel mit der sogenannten Surround-Sound 5.1-Technik oder mit Kunstkopfstereophonie, einer Aufnahmetechnik, die ein besonderes räumliches Hören ermöglicht.

Weil das Hörspiel eine Kunstform des Radios ist, lässt sie sich auch nicht isoliert von dem Medium betrachten. „Hörspiele sind Teil des Radioprogramms“, sagt Martina Müller-Wallraf, die Hörspiel-Chefin des Westdeutschen Rundfunks, der von allen Sendern die weitaus meisten Hörspiele produziert. „Sie treten automatisch in Wechselwirkung mit den Sendungen, die davor und danach zu hören sind“, so Müller-Wallraf. Für sie bedeutet dies, dass Hörspiele sich nicht entkoppeln können von dem, was die Gesellschaft beschäftigt. Auch das trägt bei zur Relevanz des Hörspiels: Es muss sich seines künstlerischen Blickwinkels bewusst sein in Abgrenzung zu Reportagen, Features und anderen nachrichtlichen oder dokumentarischen Formaten. Gleichzeitig sollte es sich nicht Selbstbezogenheit verlieren, sondern mit seinen eigenen Mitteln dazu beitragen, die Gegenwart zu verstehen.