Christoph Peters Erfahrungen in Lahore.

Lahore
Foto: Christoph Peters

Dank eines Stipendiums des Goethe-Instituts Pakistan, Karachi, und des hiesigen Annemarie Schimmel Hauses, darf ich derzeit acht Wochen in Lahore verbringen. Neben Recherchen für Kurzgeschichten und ein Romanprojekt, das zu großen Teilen in Pakistan spielen soll, ergab sich die Möglichkeit, vermittelt durch Sir Zafer Iqbal, einen Storytelling-Workshop an der neu gegründeten University of Culture and Arts (UVA) zu leiten. Der Workshop ist offen für Studierende aller künstlerischen Bereiche. Es sollen also nicht nur literarische Texte geschrieben und diskutiert werden, sondern ebenso Drehbuch- und Kurzfilm-Ideen, Konzepte für Computerspiele, Animation und Graphic Novels. Dementsprechend wird neben klassischen Textbesprechungen viel improvisiert, ausgehend von den Vorstellungen und Bedürfnissen der Teilnehmer. Gerade im Bereich Drehbuch- und Szenenentwicklung ergeben sich immer wieder extrem spannende Situationen, in denen wir versuchen, konkrete Alltagserfahrungen aus dem Bereich Familie, Studium, öffentlichem Leben als Ausgangspunkt für filmische Stoffe und Video-Clips zu nutzen. Einen weiteren Schwerpunkt bilden Gespräche über die gesellschaftliche Relevanz von Geschichten jedweder Form, was immer wieder zu engagierten teilweise durchaus kontroversen Debatten über die Stellung von Kunst, Literatur und Film im Pakistan von heute führt. In diesen Gesprächen kommen grundsätzliche Unterschiede aber auch Gemeinsamkeiten zwischen westlichen-säkularen und pakistanisch-islamischen Auffassungen dessen, was in der Kunst „erlaubt“ und „verboten“ ist ebenso zur Sprache, wie unterschiedliche erzählerische Traditionen und Formen. Die Atmosphäre ist von großer Offenheit, wechselseitiger Neugierde und Respekt geprägt. Über den Workshop hinaus haben die Teilnehmer mich häufig zu privaten Barbecue-Partys, Stadtgängen, teilweise auch zu sich nach Hause eingeladen, so dass wirkliche Freundschaften entstehen, während sich für mich zugleich die Möglichkeit auftut, tiefere Einblicke in die Lebenswirklichkeit junger Pakistanis zu gewinnen.

Besonders froh und dankbar bin ich, dass Mdm. Sadjida Haider Vandal and Sir Pervaiz Vandal, Gründer, Erbauer und Leiter der UCA, mich als Gast in ihr Privathaus aufgenommen haben. Ihre Vision, die unendlich reichen kulturellen Traditionen Pakistans für die gesellschaftlichen und künstlerischen Entwicklungen der Gegenwart fruchtbar zu machen, sie dabei zugleich zu bewahren als auf fortzuschreiben, bildet die konzeptuelle Basis der neuen Universität. Mdm. und Sir Vandal denken global, ohne ihre eigenen Wurzeln zu verleugnen. Sie verfügen über einen unerschöpflichen Schatz an Wissen, Erfahrung und Geschichten, so dass die täglichen Tischgespräche, teilweise auch mit Freunden der Vandals, meine eigenen Vorstellungen und Gedanken immer wieder um neue Perspektiven und Aspekte bereichern. Abgesehen davon bekomme ich allmählich eine Ahnung, wie ein pakistanischer Haushalt funktioniert und lerne die großartige pakistanische Küche in immer neuen Varianten kennen.

Gleichwohl bleibt genug Zeit, meine eigene literarische Arbeit voran zu bringen, und vor allem, einige der vielen Gesichter Lahores zu entdecken. Meist fahre ich am Nachmittag, bevorzugt mit den allgegenwärtigen Rikshaws, in dieses oder jenes Viertel, und erkunde die Gegenden zu Fuß. Neben einer Vielzahl bedeutender Anlagen aus der Moghul-Zeit, finden sich Bauwerke aus dem 19. Jahrhundert, in denen Elemente traditionell islamischer Architektur mit britisch-neugotischer Formensprache verschmelzen. Doch es gibt auch herausragende Beispiele für zeitgenössische Baukunst, in denen westliche Moderne und indo-pakistanische Traditionen zusammenführt werden.

Besonders beeindrucken mich immer wieder die Schreine der Sufi-Heiligen, an denen eine andere Art islamischer Spiritualität  jenseits von wahabitisch-fundamentalistischer Engstirnigkeit praktiziert wird. Dort trifft man Malangs und Wanderderwische, manche schwarz gekleidet, andere in leuchtendem Rot oder Orange, die ihr Leben ganz der Gottesliebe verschrieben. Sie tragen Amulette und Heiligenbilder an Halsketten, Ringe und Reife an Händen und Füßen, und scheren sich ebenso wenig um gesellschaftliche Konventionen. Man sieht Anhänger verschiedenster sufischer Orden und Bruderschaften, die hier ihre Rituale vollziehen. Alte und Junge, Arme und Reiche, Familien mit Kindern kommen, um Segen zu erbitten, Dank abzustatten oder einfach, weil sie dem jeweiligen Meister oder Heiligen Respekt erweisen wollen. Bei Bibi Pak Daman – dem Grabmal von Rujayyah bint Ali ibn Abu Talibs, der Tochter Alis, des vierten Kalifen, und ihrer Gefährtinnen – mischen sich Männer und Frauen, Anhänger verschiedener Konfessionen, ohne dass irgendjemand Anstoß daran nimmt. Räucherwerk mischt sich mit dem Duft von Rosenblättern, mit denen viele die Grabstätten bestreuen. Andere Pilger verteilen Süßigkeiten unter den Anwesenden. Trotz des ständigen Kommens und Gehens herrscht eine Atmosphäre von Stille und Konzentration. Und auch wenn diese Schreine gerade in jüngster Zeit wieder zum bevorzugten Angriffsziel dschihadistischer Gruppen geworden sind, scheint es, als ließen sich die, die Religion und Spiritualität als Wege zu geistiger Weite, Offenheit und Toleranz begreifen, davon weder einschüchtern noch verjagen.

In vielen Altstadtvierteln, nicht nur in der berühmten Walled City, mit der wunderbaren Wazir Khan Moschee im Zentrum, scheint die Zeit beinahe stehen geblieben, und ich fühle mich manchemal wie in einen zeitlosen orientalistischen Traum versetzt. Gewürzbasare, Obst- und Gemüsehändler, Küchengerät und Möbel, perlenbesetzte Stoffe für Hochzeitsgewänder, Gold und Silberschmuck, Plastiktand in jeder Gestalt, Spielzeug und Devotionalien – eine wilde Mischung von allem. Daneben gibt es aber auch breite Boulevards mit glitzernden Malls, wo das ganze Sortiment dessen angeboten wird, was internationale Konzerne überall auf der Welt unter die Leute bringen wollen. Eselskarren, Pferdefuhrwerke bilden zusammen mit Motorrädern, Rikshaws, japanischen Limousinen, allen Sorten Transportern in sämtlichen Farben ein geradezu magisches Verkehrschaos. Streetfood Stände finden sich neben den Läden der bekannten Fastfood-Ketten, traditionelle pakistanische Restaurants neben westlich beeinflusster Fusionküche.

Es sind vor allem die unendliche Vielfalt, das Nebeneinander unterschiedlicher Lebensformen und Denkweisen, die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die Lahore – und letztlich ganz Pakistan – kennzeichnen und besonders machen. Beinahe scheint es, als wäre man hier in einem Laboratorium der Globalisierung, wo immer neue Experimente gemacht, Versuchsanordnungen probiert werden – mit allen Risiken und Nebenwirkungen und offenem Ausgang. Wenn sie gelingen, könnte daraus eines Tages ein Beispiel werden, wie überlieferte Identitäten zugleich bewahrt und modernisiert werden, ein Modell, wie eine globalisierte Welt in friedlichem Miteinander funktioniert.
 

  • Eine Moschee in Lahore Foto: Christoph Peters
  • Selling Fruits Foto: Christoph Peters
  • Mureed Foto: Christoph Peters
  • Sufi Shrine from inside Foto: Christoph Peters
  • grafitti Foto: Christoph Peters
  • in Lahore Foto: Christoph Peters
  • UCA Foto: Christoph Peters
  • UCA Foto: Christoph Peters