Lichtspielhaus | Film
Almost Fly: Hip-Hop in der deutschen Provinz
Frühling 1990: In einer verschlafenen Ecke Deutschlands trifft der amerikanische Hip-Hop zwei Teenager wie ein Blitzschlag. Sie wollen selbst rappen – sehr zum Entsetzen ihres Umfelds. Mit Witz und Blick für Absurditäten erzählt „Almost Fly“ über eine Jugend im Aufbruch und einer Zeit im Umbruch.
Von Mark Tompkins
Ganz im Sinne klassischer Teenie-Komödien tragen die Hauptfiguren von Almost Fly bei ihrer Einführung sämtliche Erkennungszeichen des Nerdtums. Walt (Samuel Benito) bringt kaum ein Wort heraus, wenn Mädchen in der Nähe sind, und arbeitet nach der Schule an der Tankstelle seiner Eltern. Sein bester Freund Ben (Andrew Porfitz), ebenfalls ein Außenseiter, ist das Kind einer unglücklichen Liaison zwischen einer jungen Deutschen und einem afroamerikanischen Musiker, der von seiner Vaterschaft scheinbar nichts wissen will. Doch alles ändert sich, als die beiden zufällig die Hip-Hop-Sendung Yo! MTV Raps sehen – für sie wie eine Botschaft von einem anderen Planeten.
Kurz darauf schleichen sie sich nachts auf einen nahegelegenen US-Militärstützpunkt, wo Rapper aus der Bronx vor einem vorwiegend afroamerikanischen GI-Publikum auftreten. Für Ben wird Hip-Hop zu einem Weg, seine schwarze Identität zurückzuerobern. Als er sich auf dem Stützpunkt einen „Hi-Top Fade“ schneiden lässt, zeigt sich, wie viel Identität in einem Haarschnitt stecken kann. Für Walt wiederum ist Hip-Hop cool, urban, international – und damit das perfekte Ventil, um von einem Leben jenseits seiner öden Kleinstadt zu träumen. Symbolisch dafür steht nicht nur die Tankstelle seiner Eltern, sondern auch sein älterer Bruder Helli (Julius Nitschkoff), ein Metalhead und Möchtegern-Schläger.„Wir sind hier nicht funky“
Walt und Ben machen sich auf die Suche nach importierten Hip-Hop-Platten - in Eichfeld, einer Stadt, die das Wort „Provinz“ neu definiert, keine leichte Aufgabe. Der örtliche Plattenhändler klärt sie mit steinerner Miene auf: „Wir sind hier nicht funky.“Die Serie spielt genüsslich mit den kulturellen Missverständnissen, denen die Jungs auf ihrer Reise begegnen – etwa mit einem Witz über den Unterschied zwischen deutschem „Funk“ (also Radio) und amerikanischem „Funk“ (Musikrichtung). Als sie sich zum Schultalentwettbewerb anmelden, sagt Ben stolz: „Wir rappen.“ Der Organisator versteht nur Bahnhof und trägt die beiden als „Sprechgesang“ ein.
Dass der erste Auftritt beim Talentwettbewerb ein völliges Desaster wird, spricht für die Cleverness der Serie: Wer bloß seine Idole kopiert und auf Englisch über UZIs rappt, ohne zu wissen, was das ist, wirkt eben eher peinlich – besonders, wenn man noch nie ein Mädchen geküsst hat.
Authentischer Deutsch-Rap
Erst als Ben und Walt anfangen, auf Deutsch zu rappen – noch eine Seltenheit im Jahr 1990 – und über ihr eigenes Leben zu sprechen, wird Atomic Trinity glaubwürdig. Als Vorbote dafür, dass Hip‑Hop schließlich zur Lingua franca der Popkultur wird, vereint Rap in Eichfeld eine Gemeinschaft von Außenseitern: Ben und Walt freunden sich vorsichtig mit Damir (Elmo Anton Stratz) und Cengiz (Samy Abdel Fattah) an, zwei Migrantensöhne, beide mit Frisuren zum Davonlaufen, aber einer großen Leidenschaft fürs aufkeimende Graffiti.Und dann ist da noch Denise (Paula Hartmann), alias „D-Nice“, eine Breakdancerin aus Ostdeutschland, die die Jungs mit ihren Moves aus den Socken haut. Gelernt hat sie all das aus dem Hip-Hop-Dokumentarfilm Style Wars von 1983 – einer Pflichtvorführung in ihrer ostdeutschen Schule als Unterrichtseinheit über unterdrückte Völker in den USA.
Teenie-Komödie vor der Hintergrund der Wiedervereinigung
Die peinlichen Niederlagen und kleinen Siege der Jugend werden hier mit lakonischem Witz und einem sicheren Blick für absurde Details erzählt und sind dabei zeitlos. Doch Folge für Folge wächst Almost Fly über das Genre der Teenie-Komödie hinaus und wird zum charmanten Schnappschuss einer Ära. Im Hintergrund deutet sich die deutsche Wiedervereinigung an, sichtbar in Nachrichtenclips. Ein leiser Hinweis auf den bevorstehenden gesellschaftlichen Umbruch. Florian Gaag als Schöpfer der Serie hält den Nostalgiepegel wohltuend niedrig und dennoch kann man sich dem Gedanken nicht entziehen: 1990 wirkte die Welt einfach weniger bedrohlich. Die Serie hat fast etwas Herzensgutes, eine wohltuende Abwechslung in einer Zeit voller düsterer Reboots.Aber keine Sorge: Naiv ist sie deshalb nicht. Neben der Hommage an Vintage-Vinyls zeigt Gaag auch, dass selbst das verschlafene Eichfeld nicht immun gegen Nationalismus und Rassismus ist – als wollte er sagen, all diese analoge Ausstattung mag heute nostalgisch wirken, aber manche Dinge werden uns immer begleiten.
6 Episoden à 45–50 Minuten
Besetzung: Samuel Benito, Andrew Porfitz, Simon Fabian, Paula Hartmann, Laurids Schürmann
Drehbuch & Regie: Florian Gaag
Produktion: W&B Television GmbH