Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Rosinenpicker
Auf dem Pulverfass

Ein Bauernknecht, eine Mathematikstudentin und ein junger Aristokrat taumeln durchs kriegsbesoffene Wien. 24 Stunden schillernder Handlungszeit im August 1914 reichen Raphaela Edelbauer, um ein Land am Abgrund zu zeigen, der nicht nur die Jugend zu verschlingen droht.

Von Benedikt Arnold

Buchcover: Edelbauer: Die Inkommensurablen © Klett-Cotta Es ist der Vorabend des Ersten Weltkriegs. Wir befinden uns im Wien im Jahre 1914. Europa steht vor dem Abgrund. Österreich-Ungarn hat Serbien den Krieg erklärt. Russland hat die Mobilmachung angeordnet. Deutschland stellt dem russischen Zarenreich ein Ultimatum, wonach es die Generalmobilmachung zurücknehmen solle. Die Welt steht ihrerzeit vor der größten Katastrophe der Menschheitsgeschichte, und die Massen auf den Straßen sind elektrisiert, berauscht und getragen von einer patriotischen, siegesgewissen Euphorie.

Streiterinnen für die Emanzipation

In diesem Setting spielt Raphael Edelbauers Roman Die Inkommensurablen. Im Mittelpunkt stehen die drei Teenager Hans, Klara und Adam. Drei Jugendliche, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Der Roman setzt mit der Ankunft Hans Ranftlers in der pulsierenden habsburgischen Metropole ein. Der 17-jähriger Bauernknecht verlässt zum ersten Mal sein Tiroler Heimatdorf, um sich in Wien von der Psychoanalytikerin Helene Cheresch behandeln zu lassen. Im traumwandlerischen Rhythmus stolpert Hans von einer Begegnung in die nächste und ehe er sich‘s versieht, lernt er Klara Nemec und Adam Graf Jesensky von Vezmarck kennen, die ihn unter ihre Fittiche nehmen und an deren Seite er die nächsten 24 Stunden verbringen wird.

Seine neu gefundenen Freunde sind seit einiger Zeit Patienten von Helene Cheresch, die in ihrer Praxis ein sogenanntes Traumcluster gegründet hat. Cheresch erinnert zunächst an feministische Vorkämpferinnen ihrer Zeit. Sie ist selbstbewusst, erfolgreich und reüssiert in dem noch jungen und vor allem männerdominierten Feld der Psychoanalyse. In Klara wird eine weitere unerschrocken selbstbewusste junge Frau porträtiert, die sich ihrer ärmlichen Herkunft entsagt hat und an der Seite von Helene Cheresch arbeitet. An der Universität studiert sie Mathematik, wo sie sich mit der titelgebenden Inkommensurabilität der irrationalen Zahlen beschäftigt.

Spannungsgeladene Schauplätze

Die Erzählstruktur des Romans erinnert gewiss nicht unbeabsichtigt an Arthur Schnitzlers Traumnovelle. Es ist ein fließendes, nahezu filmisches Erzählen, das den Roman auszeichnet. Die spannungsgeladene Stimmung, die Wien um jene Zeit zwischen Krieg und Frieden ausmacht, fängt Raphaele Edelbauer ein, indem sie den erzählerischen Scheinwerfer fortlaufend schwenkt, von einer Szene zur nächsten. In einem Moment befinden wir uns auf einer Probe von Adam zu Arnold Schönbergs Zweitem Streichquartett op. 10., die sich wenig später auflöst und in ein Handgemenge zwischen den jungen Musikstudenten übergeht. Kurz darauf sind Hans, Adam und Klara zu Gast bei einer Soiree in der großbürgerlichen Wohnung Adams adeliger Familie. Die Szenen jener Abendgesellschaft gleichen einem Kammerspiel, in dem sich die ethnische wie politische Heterogenität des Vielvölkerstaates Österreich-Ungarns in dem vielgestaltigen Auftreten diverser Persönlichkeiten widerspiegelt.

Unbekannte Unterwelt

Besonders reizvoll sind die Schlaglichter auf jene verruchten, unbekannten Orte, wie sie in Romanen zur habsburgischen Metropole im beginnenden zwanzigsten Jahrhundert kaum Erwähnung finden. Der Roman bietet damit auch einen Schlüssellochblick in das queere Wien jener Zeit. Die drei Protagonisten treiben sich in liederlichen Nachtspelunken herum und sind Teil einer okkultisch anmutenden Séance in einem Untergrund-Etablissement.

Raphaela Edelbauers Roman Die Inkommensurablen ist ein rauschhafter Streifzug durch das Wien am Kipppunkt der Geschichte. Darin erzählt die österreichische Autorin von unterschiedlichen Gesellschaftsschichten und großstädtischen Lebensentwürfe, mal altbekannt, mal neu – doch stets auf sprachlich wie erzählerisch eigene und damit ingeniöse Art.
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Raphaela Edelbauer: Die Inkommensurablen. Roman
Stuttgart: Klett-Cotta, 2023. 352 S.
ISBN: 978-3-608-98647-1
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

Top