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Rosinenpicker
Die ganz alltägliche Horrorshow

Barbi Marković „Minihorror“
© Cover: Residenz-Verlag, City: Shutterstock

Barbi Marković präsentiert einen vielschichtigen Episodenroman, in dem sie alltägliche Begebenheiten mit Elementen des Fantastischen mixt. Das Ergebnis: lehrstückhafte Gruselgeschichten – und der Gewinn des Preises der Leipziger Buchmesse 2024.

Von Michael Krell

Minihorror erzählt eine Reihe von (teils sehr) kurzen Geschichten aus dem Leben der beiden Protagonist*innen Mini und Miki. Sie (Mini) ist mal erfolgreiche Autorin, mal Grafikdesignerin, er (Miki) verbringt seine Tage als Angestellter in einem Büro. Beide leben gemeinsam in Wien. Mini, wie die Autorin selbst, stammt aus Serbien, Miki kommt aus Osttirol.

Miki liebt Mini. Er hat sie einst in einer Bar gesehen und gefragt, ob sie auch Komparatistik studiert, und sie hat Nein gesagt. Sie hat ihm sofort gefallen.

In den 28 Kapiteln, zu denen sich zwei „Gastbeiträge“ und eine Liste mit immerhin 105 möglichen weiteren Szenarien des Duos gesellen, geht es um den ganz normalen Horror des Alltags und Berufslebens. Die alltäglichen Schrecken manifestieren sich in jeder Geschichte wahrhaftig – in Form von Monstern, übernatürlichen Geschehnissen oder anderen Ungeheuerlichkeiten: In einem Abschnitt über die Abgründe des familiären Zusammenlebens vergräbt Minis Familie sie in tatsächlichen Gruben, in „Lugner City“, einer Art Konsumtempel, Schauplatz einer Parabel auf gesellschaftliche Uniformität, lassen sich die (oder zumindest viele) Menschen operativ in Mikis verwandeln: „In der Ordination von Dr. Mortimer… es herrscht Chaos, zwanzig Leute warten, jeweils in einer individuellen Phase ihrer Mikiwerdung.“

Überraschungsmomente mit Hintersinn

Roald Dahl, J.G. Ballard, George Saunders – große Namen kommen einem in den Sinn, wenn man versucht zu verstehen, was hier vor sich geht. Da ist zum Beispiel das ominöse Kitzelmonster, das, einen schlechten schwarzen Anzug tragend, alleingelassene Opfer von Unfällen oder Verbrechen durchkitzelt:

Überall, wo die Menschen einander nicht helfen (können oder wollen, das ist egal), taucht das Kitzelmonster auf und geht auf die Person, der nicht geholfen wird, los, um sie zu kitzeln.

– um sie zusätzlich noch zu ärgern? Um sie zu verhöhnen? Aber ist Kitzeln nicht auch etwas Nettes, oder eine verschämte Art, Nähe zu suchen? Auf gedankliche Übungen wie diese muss man sich vorbereiten, denn in Minis und Mikis Welt ist einfach nichts, wie es scheint. Beim eher gesitteten Betriebsausflug lernt Miki, dass die beliebten Sonnengott-Gewürze menschliche Zutaten enthalten, Minis toxische Cousine Jennifer, die plötzlich im Supermarkt auftaucht, entpuppt sich als buchstäblich familienfressendes Ungeheuer, die Kellnerin im Urlaub nimmt, als folge die Handlung einem unabdingbaren Drang nach sozialer Gerechtigkeit, bei der Abreise den Platz von Mini ein und so weiter.

Auf diese Weise finden sich in jedem Kapitel gesellschaftskritische Momente, mal beißend, mal bitter. Kein noch so selbstverständliches Ritual ist Barbi Marković heilig, selbst der gemeinsame Wohnungsputz wird (brillant) analysiert:

Die Ordnung ist ein Arschloch, schon das Streben danach macht etwas mit den Leuten. Die Kunst besteht darin, den Moment kurz vor der Katastrophe zu erkennen.

Die Stärke dieses außergewöhnlichen Buches liegt in den Überraschungsmomenten, sein Wert in dem, was sich dahinter verbirgt. Jede der Geschichtchen streift ein Thema der Zeit, sei es der alltägliche Rassismus, Schönheitswahn, Gleichgültigkeit, Familien- und Liebesleben, mentale Gesundheit – um nur einiges zu nennen. Das Entschlüsseln der Geschichten macht einen Heidenspaß, und durch die Kürze der Abschnitte wird das Leseerlebnis zu einer rasanten Tour de force mit Dopaminausschüttung.

Lesbar, spannend und humorvoll

Formell entfernt Barbi Marković sich, genau wie in ihrem 2021 erschienenen, vielgelobten Werk Die verschissene Zeit, von der Form des linearen Romans. Minihorror vermeidet wortgewaltige Kapriolen, seine Komplexität verbirgt sich zwischen den Zeilen. Barbi Marković ist eine Meisterin der leisen, amüsierten Töne, die Kraft ihrer Prosa kommt von innen. Die Selbstverständlichkeit und das literarische Selbstbewusstsein, mit dem sie erzählt, haben ihr hochverdient, wenn auch angesichts der starken Konkurrenz überraschend, den Preis der Leipziger Buchmesse beschert. Ist es ihr doch gelungen, ein relevantes und aktuelles Werk zu schaffen, dass gleichzeitig so lesbar, spannend und humorvoll gestaltet ist, dass es auch Lesende jenseits des Literaturbetriebes wird erreichen können.

Miki ist sich nicht sicher, was er über das Leben denken soll. Ist es gut? Ist es schlecht?

Barbi Marković „Minihorror“
Wien: Residenz, 2023, 192 S.
ISBN: 9783701717750
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

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